hts. Geborgenheit, Zuwendung,
Zurtlichkeit, Liebe - oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind
angeblich bedurfte - waren dem Kinde Grenouille vullig entbehrlich.
Vielmehr, so scheint uns, hatte er sie sich selbst entbehrlich gemacht, um
uberhaupt leben zu kunnen, von Anfang an. Der Schrei nach seiner Geburt, der
Schrei unter dem Schlachttisch hervor, mit dem er sich in Erinnerung und
seine Mutter aufs Schafott gebracht hatte, war kein instinktiver Schrei nach
Mitleid und Liebe gewesen. Es war ein wohlerwogener, fast muchte man sagen
ein reiflich erwogener Schrei gewesen, mit dem sich das Neugeborene gegen
die Liebe und dennoch fur das Leben entschieden hatte. Unter den obwaltenden
Umstunden war dieses ja auch nur ohne jene muglich, und hutte das Kind
beides gefordert, so wure es zweifellos alsbald elend zugrunde gegangen. Es
hutte damals allerdings auch die zweite ihm offenstehende Muglichkeit
ergreifen und schweigen und den Weg von der Geburt zum Tode ohne den Umweg
uber das Leben wuhlen kunnen, und es hutte damit der Welt und sich selbst
eine Menge Unheil erspart. Um aber so bescheiden abzutreten, hutte es eines
Mindestmaßes an eingeborener Freundlichkeit bedurft, und die
besaß Grenouille nicht. Er war von Beginn an ein Scheusal. Er
entschied sich fur das Leben aus reinem Trotz und aus reiner Boshaftigkeit.
Selbstverstundlich entschied er sich nicht, wie ein erwachsener Mensch
sich entscheidet, der seine mehr oder weniger große Vernunft und
Erfahrung gebraucht, um zwischen verschiedenen Optionen zu wuhlen. Aber er
entschied sich doch vegetativ, so wie eine weggeworfene Bohne entscheidet,
ob sie nun keimen soll oder ob sie es besser bleiben lusst.
Oder wie jener Zeck auf dem Baum, dem doch das Leben nichts anderes zu
bieten hat als ein immerwuhrendes uberwintern. Der kleine hußliche
Zeck, der seinen bleigrauen Kurper zur Kugel formt, um der Außenwelt
die geringstmugliche Fluche zu bieten; der seine Haut glatt und derb macht,
um nichts zu verstrumen, kein bisschen von sich hinauszutranspirieren. Der
Zeck, der sich extra klein und unansehnlich macht, damit niemand ihn sehe
und zertrete. Der einsame Zeck, der in sich versammelt auf seinem Baume
hockt, blind, taub und stumm, und nur wittert, jahrelang wittert,
meilenweit, das Blut voruberwandernder Tiere, die er aus eigner Kraft
niemals erreichen wird. Der Zeck kunnte sich fallen lassen. Er kunnte sich
auf den Boden des Waldes fallen lassen, mit seinen sechs winzigen Beinchen
ein paar Millimeter dahin und dorthin kriechen und sich unters Laub zum
Sterben legen, es wure nicht schade um ihn, weiß Gott nicht. Aber der
Zeck, bockig, stur und eklig, bleibt hocken und lebt und wartet. Wartet, bis
ihm der huchst unwahrscheinliche Zufall das Blut in Gestalt eines Tieres
direkt unter den Baum treibt. Und dann erst gibt er seine Zuruckhaltung auf,
lusst sich fallen und krallt und bohrt und beisst sich in das fremde
Fleisch...
So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt
und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot;
kein Lucheln, keinen Schrei, keinen Glanz des Auges, nicht einmal einen
eigenen Duft. Jede andere Frau hutte dieses monstruse Kind verstoßen.
Nicht so Madame Gaillard. Sie roch ja nicht, dass es nicht roch, und sie
erwartete keine seelische Regung von ihm, weil ihre eigene Seele versiegelt
war.
Die andern Kinder dagegen spurten sofort, was es mit Grenouille auf
sich hatte. Vom ersten Tag an war ihnen der Neue unheimlich. Sie mieden die
Kiste, in der er lag, und ruckten auf ihren Schlafgestellen enger zusammen,
als wure es kulter geworden im Zimmer. Die jungeren schrien manchmal des
Nachts; ihnen war, als zuge ein Windzug durch die Kammer. Andere truumten,
es nehme ihnen etwas den Atem. Einmal taten sich die ulteren zusammen, um
ihn zu ersticken. Sie huuften Lumpen und Decken und Stroh auf sein Gesicht
und beschwerten das ganze mit Ziegeln. Als Madame Gaillard ihn am nuchsten
Morgen ausgrub, war er zerknautscht und zerdruckt und blau, aber nicht tot.
Sie versuchten es noch ein paarmal, vergebens. Ihn direkt zu erwurgen, am
Hals, mit eigenen Hunden, oder ihm Mund oder Nase zu verstopfen, was eine
sicherere Methode gewesen wure, das wagten sie nicht. Sie wollten ihn nicht
beruhren. Sie ekelten sich vor ihm wie vor einer dicken Spinne, die man
nicht mit eigner Hand zerquetschen will.
Als er grußer wurde, gaben sie die Mordanschluge auf. Sie hatten
wohl eingesehen, dass er nicht zu vernichten war. Statt dessen gingen sie
ihm aus dem Weg, liefen davon, huteten sich in jedem Fall vor Beruhrung. Sie
hassten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifersuchtig oder futterneidisch auf
ihn. Fur solche Gefuhle hutte es im Hause Gaillard nicht den geringsten
Anlass gegeben. Es sturte sie ganz einfach, dass er da war. Sie konnten ihn
nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm.
5
Dabei besaß er, objektiv gesehen, gar nichts
Angsteinflußendes. Er war, als er heranwuchs, nicht besonders
groß, nicht stark, zwar hußlich, aber nicht so extrem
hußlich, dass man vor ihm hutte erschrecken mussen. Er war nicht
aggressiv, nicht link, nicht hinterhultig, er provozierte nicht. Er hielt
sich lieber abseits. Auch seine Intelligenz schien alles andere als
furchterlich zu sein. Erst mit drei Jahren begann er auf zwei Beinen zu
stehen, sein erstes Wort sprach er mit vier, es war das Wort "Fische", das
in einem Moment plutzlicher Erregung aus ihm hervorbrach wie ein Echo, als
von ferne ein Fischverkuufer die Rue de Charonne heraufkam und seine Ware
ausschrie. Die nuchsten Wurter, derer er sich entuußerte, waren
"Pelargonie", "Ziegenstall", "Wirsing" und "Jacqueslorreur", letzteres der
Name eines Gurtnergehilfen des nahegelegenen Stifts der Filles de la Croix,
der bei Madame Gaillard gelegentlich grubere und grubste Arbeiten
verrichtete und sich dadurch auszeichnete, dass er sich im Leben noch kein
einziges Mal gewaschen hatte. Mit den Zeitwurtern, den Adjektiven und
Fullwurtern hatte er es weniger. Bis auf "ja" und "nein" - die er ubrigens
sehr sput zum ersten Mal aussprach - gab er nur Hauptwurter, ja eigentlich
nur Eigennamen von konkreten Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen von sich,
und auch nur dann, wenn ihn diese Dinge, Pflanzen, Tiere oder Menschen
unversehens geruchlich uberwultigten.
In der Murzsonne auf einem Stapel Buchenscheite sitzend, die in der
Wurme knackten, war es, dass er zum ersten Mal das Wort "Holz" aussprach. Er
hatte hundertmal zuvor schon Holz gesehen, das Wort schon hundertmal gehurt.
Er verstand es auch, war er doch im Winter oft hinausgeschickt worden, um
Holz zu holen. Aber der Gegenstand Holz war ihm nie interessant genug
vorgekommen, als dass er sich die Muhe gegeben hutte, seinen Namen
auszusprechen. Das geschah erst an jenem Murztag, als er auf dem Stapel
saß. Der Stapel war wie eine Bank an der Sudseite des Schuppens von
Madame Gaillard unter einem uberhungenden Dach aufgeschichtet. Brenzlig
suß rochen die obersten Scheite, moosig duftete es aus der Tiefe des
Stapels herauf, und von der Fichtenwand des Schuppens fiel in der Wurme
bruseliger Harzduft ab. Grenouille saß mit ausgestreckten Beinen auf
dem Stapel, den Rucken gegen die Schuppenwand gelehnt, er hatte die Augen
geschlossen und ruhrte sich nicht. Er sah nichts, er hurte und spurte
nichts. Er roch nur den Duft des Holzes, der um ihn herum aufstieg und sich
unter dem Dach wie unter einer Haube fing. Er trank diesen Duft, er ertrank
darin, imprugnierte sich damit bis in die letzte innerste Pore, wurde selbst
Holz, wie eine hulzerne Puppe, wie ein Pinocchio lag er auf dem
Holzstoß, wie tot, bis er, nach langer Zeit, vielleicht nach einer
halben Stunde erst, das Wort "Holz" hervorwurgte. Als sei er angefullt mit
Holz bis uber beide Ohren, als stunde ihm das Holz schon bis zum Hals, als
habe er den Bauch, den Schlund, die Nase ubervoll von Holz, so kotzte er das
Wort heraus. Und das brachte ihn zu sich, errettete ihn, kurz bevor die
uberwultigende Gegenwart des Holzes selbst, sein Duft, ihn zu ersticken
drohte. Er rappelte sich auf, rutschte von dem Stapel herunter und wankte
wie auf hulzernen Beinen davon. Noch Tage sputer war er von dem intensiven
Geruchserlebnis ganz benommen und brabbelte, wenn die Erinnerung daran zu
kruftig in ihm aufstieg, beschwurend "Holz, Holz" vor sich hin.
So lernte er sprechen. Mit Wurtern, die keinen riechenden Gegenstand
bezeichneten, mit abstrakten Begriffen also, vor allem ethischer und
moralischer Natur, hatte er die grußten Schwierigkeiten. Er konnte sie
nicht behalten, verwechselte sie, verwendete sie noch als Erwachsener ungern
und oft falsch: Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut,
Dankbarkeit usw. - was damit ausgedruckt sein sollte, war und blieb ihm
schleierhaft.
Andrerseits hutte die gungige Sprache schon bald nicht mehr
ausgereicht, all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe
in sich versammelt hatte. Bald roch er nicht mehr bloß Holz, sondern
Holzsorten, Ahornholz, Eichenholz, Kiefernholz, Ulmenholz, Birnbaumholz,
altes, junges, morsches, modriges, moosiges Holz, ja sogar einzelne
Holzscheite, Holzsplitter und Holzbrusel - und roch sie als so deutlich
unterschiedene Gegenstunde, wie andre Leute sie nicht mit Augen hutten
unterscheiden kunnen. uhnlich erging es ihm mit anderen Dingen. Dass jenes
weiße Getrunk, welches Madame Gaillard allmorgendlich ihren Zuglingen
verabreichte, durchweg als Milch bezeichnet wurde, wo es doch nach
Grenouilles Empfinden jeden Morgen durchaus anders roch und schmeckte, je
nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen
hatte, wieviel Rahm man ihm belassen hatte und so fort... dass Rauch, dass
ein von hundert Einzelduften schillerndes, minuten-, ja sekundenweis sich
wandelndes und zu neuer Einheit mischendes Geruchsgebilde wie der Rauch des
Feuers nur eben jenen einen Namen "Rauch" besaß... dass Erde,
Landschaft, Luft, die von Schritt zu Schritt und von Atemzug zu Atemzug von
anderem Geruch erfullt und damit von andrer Identitut beseelt waren, dennoch
nur mit jenen drei plumpen Wurtern bezeichnet sein sollten - all diese
grotesken Missverhultnisse zwischen dem Reichtum der geruchlich
wahrgenommenen Welt und der Armut der Sprache, ließen den Knaben
Grenouille am Sinn der Sprache uberhaupt zweifeln; und er bequemte sich zu
ihrem Gebrauch nur, wenn es der Umgang mit anderen Menschen unbedingt
erforderlich machte.
Mit sechs Jahren hatte er seine Umgebung olfaktorisch vollstundig
erfasst. Es gab im Hause der Madame Gaillard keinen Gegenstand, in der
nurdlichen Rue de Charonne keinen Ort, keinen Menschen, keinen Stein, Baum,
Strauch oder Lattenzaun, keinen noch so kleinen Flecken, den er nicht
geruchlich kannte, wiedererkannte und mit der jeweiligen Einmaligkeit fest
im Geduchtnis verwahrte. Zehntausend, hunderttausend spezifische
Eigengeruche hatte er gesammelt und hielt sie zu seiner Verfugung, so
deutlich, so beliebig, dass er sich nicht nur ihrer erinnerte, wenn er sie
wieder roch, sondern dass er sie tatsuchlich roch, wenn er sich ihrer wieder
erinnerte; ja, mehr noch, dass er sie sogar in seiner bloßen Phantasie
untereinander neu zu kombinieren verstand und dergestalt in sich Geruche
erschuf, die es in der wirklichen Welt gar nicht gab. Es war, als
besuße er ein riesiges selbsterlerntes Vokabular von Geruchen, das ihn
befuhigte, eine schier beliebig große Menge neuer Geruchssutze zu
bilden und dies in einem Alter, da andere Kinder mit den ihnen muhsam
eingetrichterten Wurtern die ersten, zur Beschreibung der Welt huchst
unzulunglichen konventionellen Sutze stammelten. Am ehesten war seine
Begabung vielleicht der eines musikalischen Wunderkindes vergleichbar, das
den Melodien und Harmonien das Alphabet der einzelnen Tune abgelauscht hatte
und nun selbst vollkommen neue Melodien und Harmonien komponierte - mit dem
Unterschied freilich, dass das Alphabet der Geruche ungleich grußer
und differenzierter war als das der Tune, und mit dem Unterschied ferner,
dass sich die schupferische Tutigkeit des Wunderkinds Grenouille allein in
seinem Innern abspielte und von niemandem wahrgenommen werden konnte als nur
von ihm selbst.
Nach außen hin wurde er immer verschlossener. Am liebsten
streifte er allein durch den nurdlichen Faubourg Saint-Antoine, durch
Gemusegurten, Weinfelder, uber Wiesen. Manchmal kehrte er abends nicht nach
Hause zuruck, blieb tagelang verschollen. Die fullige Zuchtigung mit dem
Stock ertrug er ohne Schmerzensuußerung. Hausarrest, Essensentzug,
Strafarbeit konnten sein Benehmen nicht undern. Ein eineinhalbjuhriger
sporadischer Besuch der Pfarrschule von Notre Dame de Bon Secours blieb ohne
erkennbare Wirkung. Er lernte ein bisschen buchstabieren und den eignen
Namen schreiben, sonst nichts. Sein Lehrer hielt ihn fur schwachsinnig.
Madame Gaillard hingegen fiel auf, dass er bestimmte Fuhigkeiten und
Eigenheiten besaß, die sehr ungewuhnlich, um nicht zu sagen
ubernaturlich waren: So schien ihm die kindliche Angst vor der Dunkelheit
und der Nacht vullig fremd zu sein. Man konnte ihn jederzeit zu einer
Besorgung in den Keller schicken, wohin sich die anderen Kinder kaum mit
einer Lampe wagten, oder hinaus zum Schuppen zum Holzholen bei
stockfinsterer Nacht. Und nie nahm er ein Licht mit und fand sich doch
zurecht und brachte sofort das Verlangte, ohne einen falschen Griff zu tun,
ohne zu stolpern oder etwas umzustoßen. Noch merkwurdiger freilich
erschien es, dass er, wie Madame Gaillard festgestellt zu haben glaubte,
durch Papier, Stoff, Holz, ja sogar durch festgemauerte Wunde und
geschlossene Turen hindurchzusehen vermochte. Er wusste, wieviel und welche
Zuglinge sich im Schlafraum aufhielten, ohne ihn betreten zu haben. Er
wusste, dass eine Raupe im Blumenkohl steckte, ehe der Kopf zerteilt war.
Und einmal, als sie ihr Geld so gut versteckt hatte, dass sie es selbst
nicht mehr wiederfand (sie underte ihre Verstecke), deutete er, ohne eine
Sekunde zu suchen, auf eine Stelle hinter dem Kaminbalken, und siehe, da war
es! Sogar in die Zukunft konnte er sehen, indem er numlich den Besuch einer
Person lange vor ihrem Eintreffen ankundigte oder das Nahen eines Gewitters
unfehlbar vorauszusagen wusste, ehe noch das kleinste Wulkchen am Himmel
stand. Dass er dies alles freilich nicht sah, nicht mit Augen sah, sondern
mit seiner immer schurfer und pruziser riechenden Nase erwitterte: die Raupe
im Kohl, das Geld hinterm Balken, die Menschen durch Wunde hindurch und uber
eine Entfernung von mehreren Straßenzugen hinweg - darauf wure Madame
Gaillard im Traume nicht gekommen, auch wenn jener Schlag mit dem Feuerhaken
ihren Olfaktorius unbeschudigt gelassen hutte. Sie war davon uberzeugt, der
Knabe musse - Schwachsinn hin oder her - das zweite Gesicht besitzen. Und da
sie wusste, dass Zwiegesichtige Unheil und Tod anziehen, wurde er ihr
unheimlich. Noch unheimlicher, geradezu unertruglich war ihr der Gedanke,
mit jemandem unter einem Dach zu leben, der die Gabe hatte, sorgfultig
verstecktes Geld durch Wunde und Balken hindurch zu sehen, und als sie diese
entsetzliche Fuhigkeit Grenouilles entdeckt hatte, trachtete sie danach, ihn
loszuwerden, und es traf sich gut, dass etwa um die gleiche Zeit -
Grenouille war acht Jahre alt - das Kloster von Saint-Merri seine juhrlichen
Zahlungen ohne Angabe von Grunden einstellte. Madame mahnte nicht nach.
Anstandshalber wartete sie noch eine Woche, und als das fullige Geld dann
immer noch nicht eingetroffen war, nahm sie den Knaben bei der Hand und ging
mit ihm in die Stadt.
In der Rue de la Mortellerie, nahe dem Fluss, kannte sie einen Gerber
namens Grimal, der notorischen Bedarf an jugendlichen Arbeitskruften hatte -
nicht an ordentlichen Lehrlingen oder Gesellen, sondern an billigen Kulis.
Es gab numlich in dem Gewerbe Arbeiten - das Entfleischen verwesender
Tierhuute, das Mischen von giftigen Gerb- und Furbebruhen, das Ausbringen
utzender Lohen -, die so lebensgefuhrlich waren, dass ein
verantwortungsbewusster Meister nach Muglichkeit nicht seine gelernten
Hilfskrufte dafur verschwendete, sondern arbeitsloses Gesindel, Herumtreiber
oder eben herrenlose Kinder, nach denen im Zweifelsfalle niemand mehr
fragte. Naturlich wusste Madame Gaillard, dass Grenouille in Grimals
Gerberwerkstatt nach menschlichem Ermessen keine uberlebenschance
besaß. Aber sie war nicht die Frau, sich daruber Gedanken zu machen.
Ihre Pflicht hatte sie ja getan. Das Pflegeverhultnis war beendet. Was mit
dem Zugling weiterhin geschah, ging sie nichts an. Wenn er durchkam, so
war's gut, wenn er starb, so war's auch gut - Hauptsache, alles ging
rechtens zu. Und so ließ sie sich von Monsieur Grimal die ubergabe des
Knaben schriftlich bestutigen, quittierte ihrerseits den Erhalt von funfzehn
Franc Provision und machte sich wieder auf nach Hause in die Rue de
Charonne. Sie verspurte nicht den geringsten Anflug eines schlechten
Gewissens. Im Gegenteil glaubte sie, nicht nur rechtens, sondern auch
gerecht gehandelt zu haben, denn der Verbleib eines Kindes, fur das niemand
zahlte, wure ja notwendigerweise zu Lasten der anderen Kinder gegangen oder
sogar zu ihren eigenen Lasten und hutte womuglich die Zukunft der anderen
Kinder gefuhrdet oder sogar ihre eigene Zukunft, das heisst ihren eignen,
abgeschirmten, privaten Tod, der das einzige war, was sie sich im Leben noch
wunschte.
Da wir Madame Gaillard an dieser Stelle der Geschichte verlassen und
ihr auch sputer nicht mehr wiederbegegnen werden, wollen wir in ein paar
Sutzen das Ende ihrer Tage schildern. Madame, obwohl als Kind schon
innerlich gestorben, wurde zu ihrem Ungluck sehr, sehr alt. Anno 1782, mit
fast siebzig Jahren, gab sie ihr Gewerbe auf, kaufte sich wie vorgehabt in
eine Rente ein, saß in ihrem Huuschen und wartete auf den Tod. Der Tod
aber kam nicht. Statt seiner kam etwas, womit kein Mensch auf der Welt hutte
rechnen kunnen und was es im Lande noch nie gegeben hatte, numlich eine
Revolution, das heisst eine rasante Umwandlung sumtlicher
gesellschaftlicher, moralischer und transzendentaler Verhultnisse. Zunuchst
hatte diese Revolution keine Auswirkungen auf Madame Gaillards persunliches
Schicksal. Dann aber - sie war nun fast achtzig - hieß es mit einem
Mal, ihr Rentengeber habe emigrieren mussen, sei enteignet und sein Besitz
an einen Hosenfabrikanten versteigert worden. Es sah eine Weile lang noch so
aus, als habe auch dieser Wandel noch keine fatalen Auswirkungen fur Madame
Gaillard, denn der Hosenfabrikant zahlte weiterhin punktlich die Rente. Aber
dann kam der Tag, da sie ihr Geld nicht mehr in harter Munze, sondern in
Form von kleinen bedruckten Papierbluttchen erhielt, und das war der Anfang
ihres materiellen Endes.
Nach Verlauf von zwei Jahren reichte die Rente nicht einmal mehr aus,
das Feuerholz zu bezahlen. Madame sah sich gezwungen, ihr Haus zu verkaufen,
zu lucherlich geringem Preis, denn es gab plutzlich außer ihr Tausende
von anderen Leuten, die ihr Haus ebenfalls verkaufen mussten. Und wieder
bekam sie als Gegenwert nur diese bluden Bluttchen, und wieder waren sie
nach zwei Jahren so gut wie nichts mehr wert, und im Jahre 1797 - sie ging
nun auf die Neunzig zu - hatte sie ihr gesamtes, in muhevoller sukularer
Arbeit zusammengescharrtes Vermugen verloren und hauste in einer winzigen
mublierten Kammer in der Rue des Coquilles. Und nun erst, mit zehn-, mit
zwanzigjuhriger Versputung, kam der Tod herbei und kam in Gestalt einer
langwierigen Geschwulstkrankheit, die Madame an der Kehle packte und ihr
erst den Appetit und dann die Stimme raubte, so dass sie mit keinem Wort
Einspruch erheben konnte, als sie ins Hotel-Dieu fortgeschafft wurde. Dort
brachte man sie in den gleichen, von Hunderten todkranker Menschen
bevulkerten Saal, in dem schon ihr Mann gestorben war, steckte sie in ein
Gemeinschaftsbett zu funf anderen alten wildfremden Weibern, kurperdicht
Leib an Leib lagen sie, und ließ sie dort drei Wochen lang in aller
uffentlichkeit sterben. Dann wurde sie in einen Sack genuht, um vier Uhr
fruh nebst funfzig anderen Leichen auf einen Transportkarren geworfen und
unter dem dunnen Gebimmel eines Gluckchens zum neubegrundeten Friedhof von
Clamart, eine Meile vor den Toren der Stadt, gefahren und dort in einem
Massengrab zur letzten Ruhe gebettet, unter einer dicken Schicht von
ungeluschtem Kalk.
Das war im Jahre 1799. Gott sei Dank ahnte Madame nichts von diesem ihr
bevorstehenden Schicksal, als sie an jenem Tag des Jahres 1747 nach Hause
ging und den Knaben Grenouille und unsere Geschichte verließ. Sie
hutte womuglich ihren Glauben an die Gerechtigkeit verloren und damit an den
einzigen ihr begreiflichen Sinn des Lebens.
6
Mit dem ersten Blick, den er auf Monsieur Grimal geworfen - nein, mit
dem ersten witternden Atemzug, den er von Grimals Geruchsaura eingesogen
hatte, wusste Grenouille, dass dieser Mann imstande war, ihn bei der
geringsten Unbotmußigkeit zu Tode zu prugeln. Sein Leben galt gerade
noch so viel wie die Arbeit , die er verrichten konnte, es bestand nur noch
aus der Nutzlichkeit, die Grimal ihm beimaß. Und so kuschte
Grenouille, ohne auch nur ein einziges Mal den Versuch einer Auflehnung zu
machen. Von einem Tag zum undern verkapselte er wieder die ganze Energie
seines Trotzes und seiner Widerborstigkeit in sich selbst, verwendete sie
allein dazu, auf zeckenhafte Manier die Epoche der bevorstehenden Eiszeit zu
uberdauern: zuh, genugsam, unauffullig, das Licht der Lebenshoffnung auf
kleinster, aber wohlbehuteter Flamme haltend. Er war nun ein Muster an
Fugsamkeit, Anspruchslosigkeit und Arbeitswillen, gehorchte aufs Wort, nahm
mit jeder Speise vorlieb. Abends ließ er sich brav in einen seitlich
an die Werkstatt gebauten Verschlag sperren, in dem Gerutschaften aufbewahrt
wurden und eingesalzne Rohhuute hingen. Hier schlief er auf dem blanken
gestampften Erdboden. Tagsuber arbeitete er, solange es hell war, im Winter
acht, im Sommer vierzehn, funfzehn, sechzehn Stunden: entfleischte die
bestialisch stinkenden Huute, wusserte, enthaarte, kalkte, utzte, walkte
sie, strich sie mit Beizkot ein, spaltete Holz, entrindete Birken und Eiben,
stieg hinab in die von beißendem Dunst erfullten Lohgruben,
schichtete, wie es ihm die Gesellen befahlen, Huute und Rinden ubereinander,
streute zerquetschte Gallupfel aus, uberdeckte den entsetzlichen
Scheiterhaufen mit Eibenzweigen und Erde. Jahre sputer musste er ihn dann
wieder ausbuddeln und die zu gegerbtem Leder mumifizierten Hautleichen aus
ihrem Grab holen. Wenn er nicht Huute ein- oder ausgrub, dann schleppte er
Wasser. Monatelang schleppte er Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer,
Hunderte von Eimern am Tag, denn das Gewerbe verlangte Unmengen von Wasser
zum Waschen, zum Weichen, zum Bruhen, zum Furben. Monatelang hatte er keine
trockene Faser mehr am Leibe vor lauter Wassertragen, abends troffen ihm die
Kleider von Wasser, und seine Haut war kalt, weich und aufgeschwemmt wie
Waschleder.
Nach einem Jahr dieser mehr tierischen als menschlichen Existenz bekam
er den Milzbrand, eine gefurchtete Gerberkrankheit, die ublicherweise
tudlich verluuft. Grimal hatte ihn schon abgeschrieben und sah sich nach
Ersatz um - nicht ohne Bedauern ubrigens, denn einen genugsameren und
leistungsfuhigeren Arbeiter als diesen Grenouille hatte er noch nie gehabt.
Entgegen aller Erwartung jedoch uberstand Grenouille die Krankheit. Ihm
blieben nur die Narben der großen schwarzen Karbunkel hinter den
Ohren, am Hals und an den Wangen, die ihn entstellten und noch
hußlicher machten, als er ohnehin schon war. Ihm blieb ferner -
unschutzbarer Vorteil - eine Resistenz gegen den Milzbrand, so dass er von
nun an sogar mit rissigen und blutigen Hunden die schlechtesten Huute
entfleischen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich erneut anzustecken. Dadurch
unterschied er sich nicht nur von den Lehrlingen und Gesellen, sondern auch
von seinen eigenen potentiellen Nachfolgern. Und weil er nun nicht mehr so
leicht zu ersetzen war wie ehedem, stieg der Wert seiner Arbeit und damit
der Wert seines Lebens. Plutzlich musste er nicht mehr auf der nackten Erde
schlafen, sondern durfte sich im Schuppen ein Holzlager bauen, bekam Stroh
daraufgeschuttet und eine eigene Decke. Zum Schlafen sperrte man ihn nicht
mehr ein. Das Essen war auskummlicher. Grimal hielt ihn nicht mehr wie
irgendein Tier, sondern wie ein nutzliches Haustier.
Als er zwulf Jahre alt war, gab ihm Grimal den halben Sonntag frei, und
mit dreizehn durfte er sogar wochentags am Abend nach der Arbeit eine Stunde
lang weggehen und tun, was er wollte. Er hatte gesiegt, denn er lebte, und
er besaß ein Quantum von Freiheit, das genugte, um weiterzuleben. Die
Zeit des uberwinterns war vorbei. Der Zeck Grenouille regte sich wieder. Er
witterte Morgenluft. Die Jagdlust packte ihn. Das grußte Geruchsrevier
der Welt stand ihm offen: die Stadt Paris.
7
Es war wie im Schlaraffenland. Allein die nahegelegenen Viertel von
Saint-Jacques-de-la-Boucherie und von Saint-Eustache waren ein
Schlaraffenland. In den Gassen seitab der Rue Saint-Denis und der Rue
Saint-Martin lebten die Menschen so dicht beieinander, drungte sich Haus so
eng an Haus, funf, sechs Stockwerke hoch, dass man den Himmel nicht sah und
die Luft unten am Boden wie in feuchten Kanulen stand und vor Geruchen
starrte. Es mischten sich Menschen- und Tiergeruche, Dunst von Essen und
Krankheit, von Wasser und Stein und Asche und Leder, von Seife und
frischgebackenem Brot und von Eiern, die man in Essig kochte, von Nudeln und
blankgescheuertem Messing, von Salbei und Bier und Trunen, von Fett und
nassem und trockenem Stroh. Tausende und Abertausende von Geruchen bildeten
einen unsichtbaren Brei, der die Schluchten der Gassen anfullte, sich uber
den Duchern nur selten, unten am Boden niemals verfluchtigte. Die Menschen,
die dort lebten, rochen in diesem Brei nichts Besonderes mehr; er war ja aus
ihnen entstanden und hatte sie wieder und wieder durchtrunkt, er war ja die
Luft, die sie atmeten und von der sie lebten, er war wie eine langgetragene
warme Kleidung, die man nicht mehr riecht und nicht mehr auf der Haut spurt.
Grenouille aber roch alles wie zum ersten Mal. Und er roch nicht nur die
Gesamtheit dieses Duftgemenges, sondern er spaltete es analytisch auf in
seine kleinsten und entferntesten Teile und Teilchen. Seine feine Nase
entwirrte das Knuuel aus Dunst und Gestank zu einzelnen Fuden von
Grundgeruchen, die nicht mehr weiter zerlegbar waren. Es machte ihm
unsugliches Vergnugen, diese Fuden aufzudruseln und aufzuspinnen.
Oft blieb er stehen, an eine Hausmauer gelehnt oder in eine dunkle Ecke
gedrungt, mit geschlossenen Augen, halbgeuffnetem Mund und gebluhten
Nustern, still wie ein Raubfisch in einem großen, dunklen, langsam
fließenden Wasser. Und wenn endlich ein Lufthauch ihm das Ende eines
zarten Duftfadens zuspielte, dann stieß er zu und ließ nicht
mehr los, dann roch er nichts mehr als diesen einen Geruch, hielt ihn fest,
zog ihn in sich hinein und bewahrte ihn in sich fur alle Zeit. Es mochte ein
altbekannter Geruch sein oder eine Variation davon, es konnte aber auch ein
ganz neuer sein, einer, der kaum oder gar keine uhnlichkeit mit allem
besaß, was er bis dahin gerochen, geschweige denn gesehen hatte: der
Geruch von gebugelter Seide etwa; der Geruch eines Tees von Quendel, der
Geruch eines Stucks silberbestickten Brokats, der Geruch eines Korkens aus
einer Flasche mit seltenem Wein, der Geruch eines Schildpattkamms. Hinter
solchen ihm noch unbekannten Geruchen war Grenouille her, sie jagte er mit
der Leidenschaft und Geduld eines Anglers und sammelte sie in sich.
Wenn er sich am dicken Brei der Gassen sattgerochen hatte, ging er in
luftigeres Gelunde, wo die Geruche dunner waren, sich mit Wind vermischten
und entfalteten, fast wie ein Parfum: auf den Platz der Hallen etwa, wo in
den Geruchen abends noch der Tag fortlebte, unsichtbar, aber so deutlich,
als wuselten da noch im Gedrunge die Hundler, als stunden da noch die
vollgepackten Kurbe mit Gemuse und Eiern, die Fusser voll Wein und Essig,
die Sucke mit Gewurzen und Kartoffeln und Mehl, die Kusten mit Nugeln und
Schrauben, die Fleischtische, die Tische voll von Stoffen und Geschirr und
Schuhsohlen und all den hundert undern Dingen, die dort tagsuber verkauft
wurden... das ganze Getriebe war bis in die kleinste Einzelheit prusent in
der Luft, die es hinterlassen hatte. Grenouille sah den ganzen Markt
riechend, wenn man so sagen kann. Und er roch ihn genauer, als mancher ihn
sehen kunnte, denn er nahm ihn im nachhinein wahr und deshalb auf huhere
Weise: als Essenz, als den Geist von etwas Gewesenem, der nicht durch die
ublichen Attribute der Gegenwart gesturt war, alsda sind der Lurm, das
Grelle, das eklige Aneinander der leibhaftigen Menschen.
Oder er ging dorthin, wo man seine Mutter gekupft hatte, zur Place de
Greve, die wie eine große Zunge in den Fluss hineinleckte. Hier lagen,
ans Ufer gezogen oder an Pfosten vertuut, die Schiffe und rochen nach Kohle
und Korn und Heu und feuchten Tauen.
Und von Westen her kam durch diese einzige Schneise, die der Fluss
durch die Stadt schnitt, ein breiter Windstrom und brachte Geruche vom Land
her, von den Wiesen bei Neuilly, von den Wuldern zwischen Saint-Germain und
Versailles, von weit entfernt gelegenen Studten wie Rouen oder Caen und
manchmal sogar vom Meer. Das Meer roch wie ein gebluhtes Segel, in dem sich
Wasser, Salz und eine kalte Sonne fingen. Es roch simpel, das Meer, aber
zugleich roch es groß und einzigartig, so dass Grenouille zugerte,
seinen Geruch aufzuspalten in das Fischige, das Salzige, das Wussrige, das
Tangige, das Frische und so weiter. Er ließ den Geruch des Meeres
lieber beisammen, verwahrte ihn als ganzes im Geduchtnis und genoss ihn
ungeteilt. Der Geruch des Meeres gefiel ihm so gut, dass er sich wunschte,
ihn einmal rein und unvermischt und in solchen Mengen zu bekommen, dass er
sich dran besaufen kunnte. Und sputer, als er aus Erzuhlungen erfuhr, wie
groß das Meer sei und dass man darauf tagelang mit Schiffen fahren
konnte, ohne Land zu sehen, da war ihm nichts lieber als die Vorstellung, er
suße auf so einem Schiff, hoch oben im Korb auf dem vordersten Mast,
und fluge dahin durch den unendlichen Geruch des Meeres, der ja eigentlich
gar kein Geruch war, sondern ein Atem, ein Ausatmen, das Ende aller Geruche,
und luse sich auf vor Vergnugen in diesem Atem. Aber dahin sollte es nie
kommen, denn Grenouille, der an der Place de Greve am Ufer stand und
mehrmals einen kleinen Fetzen Meerwind, den er in die Nase bekommen hatte,
aus- und einatmete, sollte das Meer, das eigentliche Meer, den großen
Ozean, der im Westen lag, in seinem Leben niemals sehen und sich nie mit
diesem Geruch vermischen durfen.
Das Viertel zwischen Saint-Eustache und dem Hotel de Ville hatte er
bald so genau durchrochen, dass er sich darin bei stockfinsterer Nacht
zurechtfand. Und so dehnte er sein Jagdgebiet aus, zunuchst nach Westen hin
zum Faubourg Saint-Honore, dann die Rue Saint-Antoine hinauf bis zur
Bastille, und schließlich sogar auf die andere Seite des Flusses
hinuber in das Sorbonneviertel und in den Faubourg Saint-Germain, wo die
reichen Leute wohnten. Durch die Eisengitter der Toreinfahrten roch es nach
Kutschenleder und nach dem Puder in den Perucken der Pagen, und uber die
hohen Mauern hinweg strich aus den Gurten der Duft des Ginsters und der
Rosen und der frisch geschnittenen Liguster. Hier war es auch, dass
Grenouille zum ersten Mal Parfums im eigentlichen Sinn des Wortes roch:
einfache Lavendel- oder Rosenwusser, mit denen bei festlichen Anlussen die
Springbrunnen der Gurten gespeist wurden, aber auch komplexere, kostbarere
Dufte von Moschustinktur gemischt mit dem ul von Neroli und Tuberose,
Joncquille, Jasmin oder Zimt, die abends wie ein schweres Band hinter den
Equipagen herwehten. Er registrierte diese Dufte, wie er profane Geruche
registrierte, mit Neugier, aber ohne besondere Bewunderung. Zwar merkte er,
dass es die Absicht der Parfums war, berauschend und anziehend zu wirken,
und er erkannte die Gute der einzelnen Essenzen, aus denen sie bestanden.
Aber als ganzes erschienen sie ihm doch eher grob und plump, mehr
zusammengepanscht als komponiert, und er wusste, dass er ganz andere
Wohlgeruche wurde herstellen kunnen, wenn er nur uber die gleichen
Grundstoffe verfugte.
Viele dieser Grundstoffe kannte er schon von den Blumen- und
Gewurzstunden des Marktes her; andere waren ihm neu, und diese filterte er
aus den Duftgemischen heraus und bewahrte sie namenlos im Geduchtnis: Amber,
Zibet, Patschuli, Sandelholz, Bergamotte, Vetiver, Opoponax, Benzoe,
Hopfenblute, Bibergeil...
Wuhlerisch ging er nicht vor. Zwischen dem, was landluufig als guter
oder schlechter Geruch bezeichnet wurde, unterschied er nicht, noch nicht.
Er war gierig. Das Ziel seiner Jagden bestand darin, schlichtweg alles zu
besitzen, was die Welt an Geruchen zu bieten hatte, und die einzige
Bedingung war, dass die Geruche neu seien. Der Duft eines schweißenden
Pferds galt ihm ebensoviel wie der zarte grune Geruch schwellender
Rosenknospen, der stechende Gestank einer Wanze nicht weniger als der Dunst
von gespicktem Kalbsbraten, der aus den Herrschaftskuchen quoll. Alles,
alles fraß er, saugte er in sich hinein. Und auch in der
synthetisierenden Geruchskuche seiner Phantasie, in der er stundig neue
Duftkombinationen zusammenstellte, herrschte noch kein usthetisches Prinzip.
Es waren Bizarrerien, die er schuf und alsbald wieder zersturte wie ein
Kind, das mit Bauklutzen spielt, erfindungsreich und destruktiv, ohne
erkennbares schupferisches Prinzip.
8
Am 1. September 1753, dem Jahrestag der Thronbesteigung des Kunigs,
ließ die Stadt Paris am Pont Royal ein Feuerwerk abbrennen. Es war
nicht so spektakulur wie das Feuerwerk zur Feier der Verehelichung des
Kunigs oder wie jenes legendure Feuerwerk aus Anlass der Geburt des Dauphin,
aber es war immerhin ein sehr beeindruckendes Feuerwerk. Man hatte goldene
Sonnenruder auf die Masten der Schiffe montiert. Von der Brucke spieen
sogenannte Feuerstiere einen brennenden Sternenregen in den Fluss. Und
wuhrend alluberall unter betuubendem Lurm Petarden platzten und Knallfrusche
uber das Pflaster zuckten, stiegen Raketen in den Himmel und malten
weiße Lilien an das schwarze Firmament. Eine vieltausendkupfige Menge,
welche sowohl auf der Brucke als auch auf den Quais zu beiden Seiten des
Flusses versammelt war, begleitete das Spektakel mit begeisterten Ahs und
Ohs und Bravos und sogar mit Vivats - obwohl der Kunig seinen Thron schon
vor achtunddreißig Jahren bestiegen und den Huhepunkt seiner
Beliebtheit lungst uberschritten hatte. So viel vermag ein Feuerwerk.
Grenouille stand stumm im Schatten des Pavillon de Flore, am rechten
Ufer, dem Pont Royal gegenuber. Er ruhrte keine Hand zum Beifall, er schaute
nicht einmal hin, wenn die Raketen aufstiegen. Er war gekommen, weil er
glaubte, irgend etwas Neues erschnuppern zu kunnen, aber es stellte sich
bald heraus, dass das Feuerwerk geruchlich nichts zu bieten hatte. Was da in
verschwenderischer Vielfalt funkelte und spruhte und krachte und pfiff,
hinterließ ein huchst eintuniges Duftgemisch von Schwefel, ul und
Salpeter.
Er war schon im Begriff, die langweilige Veranstaltung zu verlassen, um
an der Galerie des Louvre entlang heimwurts zu gehen, als ihm der Wind etwas
zutrug, etwas Winziges, kaum Merkliches, ein Bruselchen, ein Duftatom, nein,
noch weniger: eher die Ahnung eines Dufts als einen tatsuchlichen Duft - und
zugleich doch die sichere Ahnung von etwas Niegerochenem. Er trat wieder
zuruck an die Mauer, schloss die Augen und bluhte die Nustern. Der D