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     ERICH KÄSTNER


     Erich Kästner. Doktor Erich Kästners
     Lyrische Hausapotheke

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      .: "Erich Kästner. Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke".
     Atrium Verlag, Zürich. Printed in Germany 2001. OCR & spellcheck by
Pashka-Nemets, 7 February 2003 -- -- -- -- --  -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
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     Eisenbahnfahrt

     Die Welt ist rund. Man geht auf Reisen,
     damit sich die Nervosität verliert.
     Und Bauern stehen an den Gleisen,
     als würden sie fotografiert.

     Man sieht ein Schloß und spiegelglatte
     Gewässer und ein rotes Feld mit Mohn.
     Die Landschaft kreist wie eine Platte
     auf Gottes großem Grammophon.

     Der Schnellzug rast und will nicht rasten.
     Die Hühner nicken längs der Bahn.
     Vorm Fenster wehen Telegraphenmasten
     wie Maiglöckchen aus Porzellan.

     Die Drähte fallen tief und steigen.
     Die Masten gehen manchmal in die Knie.
     Es ist, als ob sie sich vor uns verneigen.
     Uns wird so eigen!
     Wir ziehn den Hut und grüßen sie
     und schweigen.

     Hotelsolo für eine Männerstimme

     Das ist mein Zimmer und ist doch nicht meines.
     Zwei Betten stehen Hand in Hand darin.
     Zwei Betten sind es. Doch ich brauch nur eines.
     Weil ich schon wieder mal alleine bin.

     Der Koffer gähnt. Auch mir ist müd zumute.
     Du fuhrst zu einem ziemlich andren Mann.
     Ich kenn ihn gut. Ich wünsch dir alles Gute.
     Ich wünsche fast, du kämest niemals an.

     Ich hätte dich nicht gehen lassen sollen!
     (Nicht meinetwegen. Ich bin gern allein.)
     Und doch: Wenn Frauen Fehler machen wollen,
     dann soll man ihnen nicht im Wege sein.

     Die Welt ist groß. Du wirst dich drin verlaufen.
     Wenn du dich nur nicht allzuweit verirrst...
     Ich aber werd mich heute nacht besaufen
     und bißchen beten, daß du glücklich wirst.

     Mut zur Trauer

     Sei traurig, wenn du traurig bist,
     und steh nicht stets vor deiner Seele Posten!
     Den Kopf, der dir ans Herz gewachsen ist,
     wird's schon nicht kosten.

     Zur Fotografie eines Konfirmanden

     Da steht er nun, als Mann verkleidet,
     und kommt sich nicht geheuer vor.
     Fast sieht er aus, als ob er leidet.
     Er ahnt vielleicht, was er verlor.

     Er trägt die erste lange Hose.
     Er spürt das erste steife Hemd.
     Er macht die erste steife Pose.
     Zum ersten Mal ist er sich fremd.

     Er hört sein Herz mit Hämmern pochen.
     Er steht und fühlt, daß gar nichts sitzt.
     Die Zukunft hegt ihm in den Knochen.
     Er sieht so aus, als hätt's geblitzt.

     Womöglich kann man noch genauer
     erklären, was den Jungen quält:
     Die Kindheit starb; nun trägt er Trauer
     und hat den Anzug schwarz gewählt.

     Er steht dazwischen und daneben.
     Er ist nicht groß. Er ist nicht klein.
     Was nun beginnt, nennt man das Leben.
     Und morgen früh tritt er hinein.

     Keiner blickt dir hinter das Gesicht

     (Fassung für Kleinmütige)

     Niemand weiß, wie reich du bist...
     Freilich mein ich keine Wertpapiere,
     keine Villen, Autos und Klaviere,
     und was sonst sehr teuer ist,
     wenn ich hier vom Reichtum referiere.

     Nicht den Reichtum, den man sieht
     und versteuert, will ich jetzt empfehlen.
     Es gibt Werte, die kann keiner zählen,
     selbst, wenn er die Wurzel zieht.
     Und kein Dieb kann diesen Reichtum stehlen.

     Die Geduld ist so ein Schatz,
     oder der Humor, und auch die Güte,
     und das ganze übrige Gemüte.
     Denn im Herzen ist viel Platz.
     Und es ist wie eine Wundertüte.

     Arm ist nur, wer ganz vergißt,
     welchen Reichtum das Gefühl verspricht.
     Keiner blickt dir hinter das Gesicht.
     Keiner weiß, wie reich du bist...
     (Und du weißt es manchmal selber nicht.)

     Keiner blickt dir hinter das Gesicht

     (Fassung für Beherzte)

     Niemand weiß, wie arm du bist...
     Deine Nachbarn haben selbst zu klagen.
     Und sie haben keine Zeit zu fragen,
     wie denn dir zumute ist.
     Außerdem, -- würdest du es ihnen sagen?

     Lächelnd legst du Leid und Last,
     um sie nicht zu sehen, auf den Rücken.
     Doch sie drücken, und du mußt dich bücken,
     bis du ausgelächelt hast.
     Und das Beste wären ein Paar Krücken.

     Manchmal schaut dich einer an,
     bis du glaubst, daß er dich trösten werde.
     Doch dann senkt er seinen Kopf zur Erde,
     weil er dich nicht trösten kann.
     Und läuft weiter mit der großen Herde.

     Sei trotzdem kein Pessimist,
     sondern lächle, wenn man mit dir spricht.
     Keiner blickt dir hinter das Gesicht.
     Keiner weiß, wie arm du bist...
     (Und zum Glück weißt du es selber nicht.)

     Der Streber

     Vom frühen bis ins späte Alter,
     mit Mordsgeduld und Schenkelschluß,
     rankt er sich hoch am Federhalter
     und klettert, weil er sonst nichts muß.
     Die Ahnen kletterten im Urwald.
     Er ist der Affe im Kulturwald.

     Alte Frau auf dem Friedhof

     Sie scheint auf den Tod zu warten.
     Täglich kommt sie hierher
     und sitzt bis zum Abend im Garten,
     als ob sie zu Hause wär.

     Sie kennt alle Leichensteine.
     Sie kennt jeden Gitterstab.
     Und sie hockt bis zum Abend alleine
     an ihrem eigenen Grab.

     Dunkle Choräle verwehen.
     Weinende Menschen stehn
     vor frischen Gräbern und gehen
     ergriffen durch graue Alleen.

     Die Alte sitzt unbeweglich.
     Sie ist nicht schlimm und nicht fromm.
     Sie hockt und schweigt, und täglich
     betet sie: "Tod, nun komm!"

     Repetition des Gefühls

     Eines Tages war sie wieder da...
     Und sie fände ihn bedeutend blässer.
     Als er dann zu ihr hinübersah,
     meinte sie, ihr gehe es nicht besser.

     Morgen abend wolle sie schon weiter.
     Nach dem Allgäu oder nach Tirol.
     Anfangs war sie unaufhörlich heiter.
     Später sagte sie, ihr sei nicht wohl.

     Und er strich ihr müde durch die Haare.
     Endlich fragte er dezent: "Du weinst?"
     und sie dachten an vergangne Jahre.
     Und so wurde es zum Schluß wie einst.

     Als sie an dem nächsten Tag erwachten,
     waren sie einander fremd wie nie.
     Und so oft sie sprachen oder lachten,
     logen sie.

     Gegen Abend mußte sie dann reisen.
     Und sie winkten. Doch sie winkten nur.
     Denn die Herzen lagen auf den Gleisen,
     über die der Zug ins Allgäu fuhr.

     Bilanz per Zufall

     Er hatte Geld. Und trank und aß
     in dem Hotel, in dem er saß,
     vom Teuersten und Besten.
     Er war vergnügt und trank und aß
     und winkte mit erhobnem Glas
     den Kellnern und den Gästen.

     Der Blumenfrau, die bei ihm stand,
     nahm er die Blumen aus der Hand
     und zahlte mit zwei Scheinen.
     Die Rosen waren rot und kühl.
     Er gab ihr dreißig Mark zuviel.
     Da fing sie an zu weinen.

     Die Hauskapelle, sechs Mann stark,
     erhielt von ihm zweihundert Mark.
     Sie konnte kaum noch spielen.
     Er gab den Boys und Pikkolos,
     den Fräuleins und den Gigolos.
     Er gab, ohne zu zielen.

     Die Rechnung sah er gar nicht an.
     Er warf paar Scheine hin,
     und dann verließ er jene Halle.
     Bewundernd gingen Schritt um Schritt,
     die Tänzer, Boys und Kellner mit.
     So liebten sie ihn alle!

     Er freute sich und sprach: "Schon gut",
     und nahm den Mantel und den Hut.
     Da rief die Garderobiere:
     "Ich kriege dreißig Pfennig für
     die Kleideraufbewahrung hier!
     Nicht zahlen, wie? Das wäre!"

     Da blieb er stehn. Da lachte er
     und suchte Geld und fand keins mehr.
     Und konnte ihr nichts geben.
     Die Blumenfrau, die Gigolos,
     die Kellner, Boys und Pikkolos,
     die standen fremd daneben.

     Er blickte sich, fast bittend, um.
     Die ändern standen steif und stumm,
     als sei er nicht mehr da.
     Da zog er schnell den Mantel aus,
     gab ihn der Frau, trat aus dem Haus
     und dachte nur: "Na ja."

     Das ist das Verhängnis

     Das ist das Verhängnis:
     zwischen Empfängnis
     und Leichenbegängnis
     nichts als Bedrängnis.

     Begegnung mit einem Trockenplatz

     Wie sehr sich solche Plätze gleichen.
     Wie eng verwandt sie miteinander sind.
     Gestänge, Stricke, Wäsche, Klammern, Wind
     und sieben Büschel Gras zum Bleichen,
     bei diesem Anblick wird man wieder Kind.

     Wie gern ich mich daran erinnern lasse.
     Ich schob den Wagen. Und die Mutter zog.
     Ich knurrte, weil die Wäsche so viel wog.
     Wie hieß doch jene schmale Gasse,
     die dicht vorm Bahnhof in die Gärten bog?

     Dort war die Wiese, die ich meine,
     dort setzten wir den Korb auf eine Bank
     und hängten unsern ganzen Wäscheschrank
     auf eine kreuz und quer gezogne Leine.
     Und Wind und Wäsche führten Zank.

     Ich saß im Gras. Die Mutter ging nach Hause.
     Die Wäsche wogte wie ein weißes Zelt.
     Dann kam die Mutter mit Kaffee und Geld.
     Ich kaufte Kuchen für die Mittagspause
     in dieser fast geheimnisvollen Welt.

     Die Hemden zuckten hin und her,
     als wollten sie herab und mit uns essen.
     Die Sonne schien. Die Strümpfe hingen schwer.
     Oh, ich erinnere mich an alles sehr
     genau und will es nie vergessen.

     Traum vom Gesichtertausch

     Als ich träumte, was ich jetzt erzähle,
     drängten Tausende durch jenes Haus.
     Und als ob es irgendwer befehle
     und das eigne Antlitz jeden quäle,
     zogen alle die Gesichter aus.

     Wie beim Umzug Bilder von den Wänden
     nahmen wir uns die Gesichter fort.
     Und dann hielten wir sie in den Händen,
     wie man Masken hält, wenn Feste enden.
     Aber festlich war er nicht, der Ort.

     Ohne Mund und Augen, kahl wie Schatten,
     griffen alle nach des Nachbarn Hand,
     bis sie wiederum Gesichter hatten.
     Schnell und schweigend ging der Tausch vonstatten.
     Jeder nahm, was er beim ändern fand.

     Männer hatten plötzlich Kindermienen.
     Frauen trugen Bärte im Gesicht.
     Greise lächelten wie Konkubinen.
     Und dann stürzten alle, ich mit ihnen,
     vor den Spiegel, doch ich sah mich nicht.

     Immer wilder wurde das Gedränge.
     Einer hatte sein Gesicht entdeckt!
     Rufend zwängte er sich durch die Menge.
     Und er trieb sein Antlitz in die Enge.
     Doch er fand es nicht. Es blieb versteckt.

     War ich jenes Kind mit langen Zöpfen?
     War ich dort die Frau mit rotem Haar?
     War ich einer von den kahlen Köpfen?
     Unter den verwechselten Geschöpfen
     sah ich keines, das ich selber war.

     Da erwachte ich vor Schreck. Mich fror.
     Irgendeiner riß mich an den Haaren.
     Finger zerrten mich an Mund und Ohr.
     Ich begriff, als sich die Angst verlor,
     daß es meine eigenen Hände waren.

     Ganz beruhigt war ich freilich nicht.
     Trug ich Mienen, die mich nicht betrafen?
     Hastig sprang ich auf und machte Licht,
     lief zum Spiegel, sah mir ins Gesicht,
     löschte aus und ging beruhigt schlafen.

     Moral

     Es gibt nichts Gutes,
     außer: man tut es!

     Der Weihnachtsabend des Kellners

     Aller Welt dreht er den Rücken,
     und sein Blick geht zu Protest.
     Und dann murmelt er beim Bücken:
     "Ach, du liebes Weihnachtsfest!"

     Im Lokal sind nur zwei Kunden.
     (Fröhlich sehn die auch nicht aus.)
     Und der Kellner zählt die Stunden.
     Doch er darf noch nicht nach Haus.

     Denn vielleicht kommt doch noch einer,
     welcher keinen Christbaum hat,
     und allein ist wie sonst keiner
     in der feierlichen Stadt. --

     Dann schon lieber Kellner bleiben
     und zur Nacht nach Hause gehn,
     als jetzt durch die Straßen treiben
     und vor fremden Fenstern stehn!

     Entwicklung der Menschheit

     Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
     behaart und mit böser Visage.
     Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
     und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
     bis zur 30. Etage.

     Da saßen sie nun den Flöhen entflohn
     in zentralgeheizten Räumen.
     Da sitzen sie nun am Telephon.
     Und es herrscht noch genau derselbe Ton
     wie seinerzeit auf den Bäumen.

     Sie hören weit. Sie sehen fern.
     Sie sind mit dem Weltall m Fühlung.
     Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.
     Die Erde ist ein gebildeter Stern
     mit sehr viel Wasserspülung.

     Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.
     Sie lagen und züchten Mikroben.
     Sie versehn die Natur mit allem Komfort.
     Sie fliegen steil m den Himmel empor
     und bleiben zwei Wochen oben.

     Was ihre Verdauung übrig läßt,
     das verarbeiten sie zu Watte.
     Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.
     Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,
     daß Cäsar Plattfüße hatte.

     So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
     den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
     Doch davon mal abgesehen und
     bei Lichte betrachtet, sind sie im Grund
     noch immer die alten Affen.

     Sozusagen in der Fremde

     Er saß in der großen Stadt Berlin
     an einem kleinen Tisch.
     Die Stadt war groß, auch ohne ihn.
     Er war nicht nötig, wie es schien.
     Und rund um ihn war Plüsch.

     Die Leute saßen zum Greifen nah,
     und er war doch allein.
     Und in dem Spiegel, in den er sah,
     saßen sie alle noch einmal da,
     als müßte das so sein.

     Der Saal war blaß vor lauter Licht.
     Es roch nach Parfüm und Gebäck.
     Er blickte ernst von Gesicht zu Gesicht.
     Was er sah, gefiel ihm nicht.
     Er schaute traurig weg.

     Er strich das weiße Tischtuch glatt.
     Und blickte in das Glas.
     Fast hatte er das Leben satt.
     Was wollte er in dieser Stadt,
     in der er einsam saß?

     Da stand er, in der Stadt Berlin,
     auf von dem kleinen Tisch!
     Keiner der Menschen kannte ihn.
     Da fing er an, den Hut zu ziehn...
     Not macht erfinderisch.

     An ein Scheusal im Abendkleid

     Ich muß mich stets vor Ihnen bücken.
     Und trotzdem kennen wir uns nicht.
     Ich bück mich auch gar nicht vor Ihrem Gesicht,
     sondern vor Ihrem Rücken.

     Die Knochen und die Rippen ragen,
     ganz nackt und manchmal ohne Haut,
     so spitz heraus, daß es mir graut,
     die Augen davor aufzuschlagen.

     Hört Ihr Gerüst denn niemals auf?
     Und ohne Kleid! Die ganze Strecke!
     Tief unten biegt es endlich um die Ecke.
     Und welches Glück: Sie sitzen drauf.

     Sie sollten sich ein Jäckchen leisten.
     Sie sind ein Scheusal. Auch von vorn.
     Gott schlug Sie hart in seinem Zorn.
     Doch hinten schlug er Sie am meisten.

     Wer Ihre grünen Locken sieht,
     ist sich auch ohnedies im klaren:
     Sie stehen in den besten Rückgangsjahren
     und haben nachts vergeblich Appetit.

     Ich bitte Sie, mir zu verzeihen.
     Man wird nicht schöner, wenn man älter wird.
     Wer andrer Ansicht ist, der irrt.
     Doch Sie war'n sicher schon als Kind zum Speien.

     Zieh dir was an, du alte Gans!
     Der ganze Saal sitzt voller Klimakterien.
     Und sowas gibt's! Und sowas nennt sich: Ferien
     eines noch ziemlich jungen Manns.

     Warnung vor Selbstmord

     Diesen Rat will ich dir geben:
     Wenn du zur Pistole greifst
     und den Kopf hinhältst und kneifst,
     kannst du was von mir erleben.

     Weißt wohl wieder mal geläufig,
     was die Professoren lehren?
     Daß die Guten selten wären
     und die Schweinehunde häufig?

     Ist die Walze wieder dran,
     daß es Arme gibt und Reiche?
     Mensch, ich böte deiner Leiche
     noch im Sarge Prügel an!

     Laß doch deine Neuigkeiten!
     Laß doch diesen alten Mist!
     Daß die Welt zum Schießen ist,
     wird kein Konfirmand bestreiten.

     War dein Plan nicht: irgendwie
     alle Menschen gut zu machen?
     Morgen wirst du drüber lachen.
     Aber, bessern kann man sie.

     Ja, die Bösen und Beschränkte
     sind die Meisten und die Stärkern.
     Aber spiel nicht den Gekränkten.
     Bleib am Leben, sie zu ärgern!

     Sport

     Meldung vom Wettlauf durch die Lübecker Schweiz:
     "Die Läufer trainieren täglich zehn Stunden.
     Sie brauchen für 100 Meter zirka minus 14 Sekunden.
     Die Spitzengruppe ist heute morgen bereits
     im Jahre 1919 verschwunden!"

     Er weiß nicht, ob er sie liebt

     Soll man sein Herz bestürmen: "Herz, sprich lauter!"
     da es auf einmal leise mit uns spricht?
     Einst sprach es laut zu uns. Das klang vertrauter.
     Nun flüstert's nur. Und man versteht es nicht.

     Was will das Herz? Man denkt: wenn es das wüßte,
     dann wär es laut, damit man es versteht.
     Dann riefe es, bis man ihm folgen müßte!
     Was will das Herz, daß es so leise geht?

     Das Allerschönste, was sich Kinder wünschen,
     das wagt sich kaum aus ihrem Mund hervor.
     Das Allerschönste, was sich Kinder wünschen,
     das flüstern sie der Mutter bloß ins Ohr.

     Ist so das Herz, daß es sich schämt zu rufen?
     Will es das Schönste haben? Ruft es Nein?
     Man soll den Mächten, die das Herz erschufen,
     nicht dankbar sein.

     Hinweis auf die Hände einer Waschfrau

     Es gibt berühmtere Hände,
     und schönere gibt's auch.
     Die Hände, die Sie hier sehen,
     sind für den Hausgebrauch.

     Sie kennen nicht Lack noch Feile.
     Sie spielten noch nie Klavier.
     Sie sind nicht zum Vergnügen,
     sondern zum Waschen hier.

     Sie waschen nicht nur einander,
     sie waschen mit großem Fleiß
     die Wäsche, die andere trugen,
     mühselig wieder weiß.

     Sie duften nicht nach Lavendel,
     sondern nach Lauge und Chlor.
     Sie wringen und rumpeln und schuften
     und fürchten sich nicht davor.

     Sie wurden rot und rissig.
     Sie wurden fühllos und rauh.
     Und wenn sie jemanden streicheln,
     streicheln sie ungenau.

     Es gibt berühmtere Hände,
     und schönere gibt's auch.
     Die Hände, die Sie hier sehen,
     sind nur für den Hausgebrauch.

     Wälder schweigen

     Die Jahreszeiten wandern durch die Wälder.
     Man sieht es nicht. Man liest es nur im Blatt.
     Die Jahreszeiten strolchen durch die Felder.
     Man zählt die Tage. Und man zählt die Gelder.
     Man sehnt sich fort aus dem Geschrei der Stadt.

     Das Dächermeer schlägt ziegelrote Wellen.
     Die Luft ist dick und wie aus grauem Tuch.
     Man träumt von Ackern und von Pferdeställen.
     Man träumt von grünen Teichen und Forellen.
     Und möchte in die Stille zu Besuch.

     Die Seele wird vom Pflastertreten krumm.
     Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden
     und tauscht bei ihnen seine Seele um.
     Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm.
     Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden.

     Man flieht aus den Büros und den Fabriken.
     Wohin, ist gleich! Die Erde ist ja rund!
     Dort, wo die Gräser wie Bekannte nicken
     und wo die Spinnen seidne Strümpfe stricken,
     wird man gesund.

     Tagebuch eines Herzkranken

     Der erste Doktor sagte:
     "Ihr Herz ist nach links erweitert."
     Der zweite Doktor klagte:
     "Ihr Herz ist nach rechts verbreitert."
     Der dritte machte ein ernstes Gesicht
     und sprach: "Herzerweiterung haben Sie nicht."
     Na ja.

     Der vierte Doktor klagte:
     "Die Herzklappen sind auf dem Hund."
     Der fünfte Doktor sagte:
     "Die Klappen sind völlig gesund."
     Der sechste machte die Augen groß
     und sprach: "Sie leiden an Herzspitzenstoß."
     Na ja.

     Der siebente Doktor klagte:
     "Die Herzkonfiguration ist mitral."
     Der achte Doktor sagte:
     "Ihr Röntgenbild ist durchaus normal."
     Der neunte Doktor staunte und sprach:
     "Ihr Herz geht dreiviertel Stunden nach."
     Na ja.

     Was nun der zehnte Doktor spricht,
     das kann ich leider nicht sagen,
     denn bei dem zehnten, da war ich noch nicht.
     Ich werde ihn nächstens fragen.
     Neun Diagnosen sind vielleicht schlecht,
     aber die zehnte hat sicher recht.
     Na ja.

     Stehgeigers Leiden

     Ach, wie gern lag ich in meinem Bette!
     Nacht für Nacht schläft Hildegard allein.
     Wenn mein Fiedelbogen Zähne hätte,
     sägte ich die Geige kurz und klein.

     Keinen Abend weiß ich, was sie treibt.
     Jeden Abend steh ich hier und spiele.
     Ob sie, wie sie sagt, zu Hause bleibt?
     Schlechte Frauen gibt es ziemlich viele.

     Gräßlich haut der Krause aufs Klavier.
     Wie sie staunten, wenn ich plötzlich ginge!
     Keine Angst, Herr Wirt, ich bleibe hier,
     geige mir den Buckel schief und singe:

     "Die deutschen Mädchen sind die schönsten.
     Hipp hipp hurra, hipp hipp hurra!
     Denn bei den blonden deutschen Mädchen
     ist alles da, ist alles da!"

     Ich trau ihr nicht. Sie lügt. Ich habe Proben.
     Ach, wenn sie lügt, sieht sie so ehrlich aus.
     Wie im Gefängnis stehe ich hier oben.
     Ich muß verdienen und darf nicht nach Haus.

     Eines Tages pack ich meine Geige,
     denn sie ist mein einziges Gepäck.
     Krause spielt Klavier. Ich aber steige
     schnell vom Podium und laufe weg.

     Und die Gäste und der Wirt und Krause
     werden schweigen, bis ich draußen bin.
     Und dann seh ich: Sie ist nicht zu Hause!
     Und wo gehe ich dann hin?

     Hamlets Geist

     Gustav Renner war bestimmt die beste
     Kraft im Toggenburger Stadttheater.
     Alle kannten seine weiße Weste.
     Alle kannten ihn als Heldenvater.

     Alle lobten ihn, sogar die Kenner.
     Und die Damen fanden ihn sogar noch schlank.
     Schade war nur, daß sich Gustav Renner,
     wenn er Geld besaß, enorm betrank.

     Eines Abends, als man "Hamlet" gab,
     spielte er den Geist von Hamlets Vater.
     Ach, er kam betrunken aus dem Grab!
     Und was man nur Dummes tun kann, tat er.

     Hamlet war aufs äußerste bestürzt.
     Denn der Geist fiel gänzlich aus der Rolle.
     Und die Szene wurde abgekürzt.
     Renner fragte, was man von ihm wolle.

     Man versuchte hinter den Kulissen
     ihn von seinem Rausche zu befrein,
     legte ihn langhin und gab ihm Kissen.
     Und dabei schlief Gustav Renner ein.

     Die Kollegen spielten nun exakt,
     weil er schlief und sie nicht länger störte.
     Doch er kam! Und zwar im nächsten Akt,
     wo er absolut nicht hingehörte!

     Seiner Gattin trat er auf den Fuß.
     Seinem Sohn zerbrach er das Florett.
     Und er tanzte mit Ophelia Blues.
     Und den König schmiß er ins Parkett.

     Alle zitterten und rissen aus.
     Doch dem Publikum war das egal.
     So etwas von donnerndem Applaus
     gab's in Toggenburg zum ersten Mal.

     Und die meisten Toggenburger fanden:
     Endlich hätten sie das Stück verstanden.

     Sentimentale Reise

     O verflucht, ist man alleine!
     Was man hört und sieht, ist fremd.
     Und im Stiefel hat man Steine.
     Und schon spürt man eine kleine
     Sehnsucht unterm Oberhemd.

     Man betrachtet, was Ihr rietet,
     und fährt hoch und rund und weit.
     Man bewundert, was sich bietet.
     Doch das Herz ist ja vermietet.
     Man vertreibt sich nur die Zeit.

     Wenn doch endlich Einer grüßte!
     Wenn Ihr kämt und nicht nur schriebt!
     Doch man steht wie in der Wüste
     und begafft die Bronzebüste
     eines Gottes, den's nicht gibt.

     Wer es wünscht, kann selbstverständlich
     auch ganz andre Büsten sehn.
     (Gegen Eintritt, nein wie schändlich!)
     Man denkt nach. Und läßt es endlich,
     wie so vieles, ungeschehn.

     Ja, die Welt ist wie ein Garten.
     Und man wartet wie bestellt.
     Doch da kann man lange warten.
     Und dann schreibt man Ansichtskarten,
     Daß es Einem sehr gefällt.

     Nachts steckt man durchs Fenster seinen
     Kopf und senkt ihn wie ein Narr.
     Und man hört die Katzen weinen.
     Und am Morgen hat man einen
     schönen Bronchialkatarrh.

     Ganz besonders feine Damen

     Sie tragen die Büsten und Nasen
     im gleichen Schritt und Tritt
     und gehen so zart durch die Straßen,
     als wären sie aus Biskuit.
     Mit ihnen ist nicht zu spaßen.
     Es ist, als trügen sie Vasen
     und wüßten nur nicht, womit.

     Sie scheinen sich stündlich zu baden
     und sind nicht dünn und nicht dick.
     Sie haben Beton in den Waden
     und Halbgefrorenes im Blick.
     Man hält sie für Feen auf Reisen,
     doch kann man es nicht beweisen.
     Der Gatte hat eine Fabrik.

     Sie laufen auf heimlichen Schienen.
     Man weicht ihnen besser aus.
     Sie stecken die steifsten Mienen
     wie Fahnenstangen heraus.
     Man kann es ganz einfach nicht fassen,
     daß sie sich beißen lassen,
     in und außer dem Haus.

     Man könnte sich denken, sie stiegen
     mit Hüten und Mänteln ins Bett.
     Und stünden im Schlaf, statt zu liegen.
     Und schämten sich auf dem Klosett.
     Man könnte sich denken, sie ließen
     die Männer alle erschießen
     und kniffen sie noch ins Skelett.

     So schweben sie zwischen den Leuten
     wie Königinnen nach Maß.
     Doch hat das nichts zu bedeuten.
     Sie sind ja gar nicht aus Glas!
     Man kann sie, wie andere Frauen,
     verführen, verstehn und verhauen.
     Denn: fein sind sie nur zum Spaß.

     Umzug der Klubsessel

     Einen Tafelwagen traf ich heute,
     und er war mit Möbeln vollgestellt.
     Die Besitzer schienen solche Leute,
     denen nur das Teuerste gefällt.

     Schwere Gäule zogen schwere Stühle,
     Tisch und Schränke, und der Kutscher pfiff.
     Und der Wagen kroch durch das Gewühle
     wie ein altes, havariertes Schiff.

     In zwei Ledersesseln, auf dem Karren,
     saßen zwei sehr müde Möbelräumer.
     In den Händen hielten sie Zigarren,
     und die Köpfe hielten sie wie Träumer.

     Sicher träumten sie, sie wären Grafen,
     und sie führen zum Vergnügen aus ...
     Doch da hielt der Wagen, und die braven
     alten Herrn bugsierten wie die Sklaven
     fremde Möbel in ein fremdes Haus.

     Warnung

     Ein Mensch, der Ideale hat,
     der hüte sich, sie zu erreichen!
     Sonst wird er eines Tags anstatt
     sich selber andren Menschen gleichen.

     Des Vetters Eckfenster
     (E. T. A. H off man gewidmet)

     Er sitzt im Erker hoch im Haus
     und weiß nicht, wem er gleicht.
     Er wollte nicht so hoch hinaus
     und hat es doch erreicht.

     Er glaubt an keine Wiederkehr.
     (Auch nicht als Schmetterling.)
     Sein Haus hat keine Türen mehr,
     seit er nach oben ging.

     Er liebt das späte Abendrot,
     das hinterm Kirchturm brennt.
     Er liebt das Leben und den Tod
     und das, was beide trennt.

     Das Fenster zeigt ihm Bild auf Bild
     und rahmt die Bilder ein.
     Er sitzt davor und lächelt mild
     und mag nicht traurig sein.

     Er lächelt, weil ihr glücklich seid.
     Nur manchmal flüstert er:
     "Ach, mündet dieser Strom der Zeit
     denn nirgendwo ins Meer?"

     Er hat dem Schicksal längst verziehn,
     obwohl es ihn vergaß,
     beneidet ihn! Verachtet ihn!
     Das ist für ihn kein Maß.

     Der gefundene Groschen

     Ich mach mich vor dem Groschen klein
     und nehm ihn in die Hand.
     Ach, wär es doch ein Zehnmarkschein!
     Geld hat keinen Verstand.

     Es leben Leute, die werfen ihr Geld,
     sagt man, zum Fenster hinaus.
     Ich wüßte gern, wohin es fällt,
     und blicke vor jedes Haus.

     Das Geld, das aus den Fenstern fliegt,
     wer weiß, wohin's gerät!
     Das Geld, das auf der Straße liegt,
     ist ziemlich dünn gesät.

     Ich bücke mich, so tief ich kann.
     Mein Kind, mir ist dabei,
     als bete ich den Groschen an.
     Deine Eltern sind arm. Verzeih!

     Moderne Kunstausstellung

     Die Leute stehen in Sälen herum.
     Sie finden das ungewöhnlich?
     Das ist ja gar kein Publikum!
     Das sind die Maler persönlich.

     Das Altersheim

     Das ist ein Pensionat für Greise.
     Hier hat man Zeit.
     Die Endstation der Lebensreise
     ist nicht mehr weit.

     Gestern trug man Kinderschuhe.
     Heute sitzt man hier vorm Haus.
     Morgen fährt man zur ewigen Ruhe
     ins Jenseits hinaus.

     Ach, so ein Leben ist rasch vergangen,
     wie lange es auch sei.
     Hat es nicht eben erst angefangen?
     Schon ist's vorbei.

     Die sich hier zur Ruhe setzten,
     wissen vor allem das Eine:
     Das ist die letzte Station vor der letzten.
     Dazwischen liegt keine.

     Sachliche Romanze

     Als sie einander acht Jahre kannten
     (und man darf sagen: sie kannten sich gut),
     kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
     Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

     Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
     versuchten Küsse, als ob nichts sei,
     und sahen sich an und wußten nicht weiter.
     Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

     Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
     Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
     und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken. --
     Nebenan übte ein Mensch Klavier.

     Sie gingen ins kleinste Café am Ort
     und rührten in ihren Tassen.
     Am Abend saßen sie immer noch dort.
     Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
     und konnten es einfach nicht fassen.

     Jardin du Luxembourg

     Dieser Park liegt dicht beim Paradies.
     Und die Blumen blühn, als wüßten sie's.
     Kleine Knaben treiben große Reifen.
     Kleine Mädchen tragen große Schleifen.
     Was sie rufen, läßt sich schwer begreifen.
     Denn die Stadt ist fremd. Und heißt Paris.

     Alle Leute, auch die ernsten Herrn,
     spüren hier: Die Erde ist ein Stern.
     Und die Kinder haben hübsche Namen
     und sind fast so schön wie auf Reklamen.
     Selbst die Steinfiguren, meistens Damen,
     lächelten (wenn sie nur dürften) gern.

     Lärm und Jubel weht an uns vorbei.
     Wie Musik. Und ist doch nur Geschrei.
     Bälle hüpfen fort, weil sie erschrecken.
     Ein fideles Hündchen läßt sich necken.
     Kleine Neger müssen sich verstecken,
     und die andern sind die Polizei.

     Mütter lesen. Oder träumen sie?
     Und sie fahren hoch, wenn jemand schrie.
     Schlanke Fräuleins kommen auf den Wegen
     und sind jung und blicken sehr verlegen
     und benommen auf den Kindersegen.
     Und dann fürchten sie sich irgendwie.

     Traurigkeit, die jeder kennt

     Man weiß von vornherein, wie es verläuft.
     Vor morgen früh wird man bestimmt nicht munter.
     Und wenn man sich auch noch so sehr besäuft,
     die Bitterkeit, die spült man nicht hinunter.

     Die Trauer kommt und geht ganz ohne Grund.
     Und man ist angefüllt mit nichts als Leere.
     Man ist nicht krank. Und ist auch nicht gesund.
     Es ist, als ob die Seele unwohl wäre.

     Man will allein sein. Und auch wieder nicht.
     Man hebt die Hand und möchte sich verprügeln.
     Vorm Spiegel denkt man: "Das ist dein Gesicht?"
     Ach, solche Falten kann kein Schneider bügeln!

     Vielleicht hat man sich das Gemüt verrenkt?
     Die Sterne ähneln plötzlich Sommersprossen.
     Man ist nicht krank. Man fühlt sich nur gekränkt.
     Und hält, was es auch sei, für ausgeschlossen.

     Man möchte fort und findet kein Versteck.
     Es wäre denn, man ließe sich begraben.
     Wohin man blickt, entsteht ein dunkler Fleck.
     Man möchte tot sein. Oder Urlaub haben.

     Man weiß, die Trauer ist sehr bald behoben.
     Sie schwand noch jedesmal, so oft sie kam.
     Mal ist man unten, und mal ist man oben.
     Die Seelen werden immer wieder zahm.

     Der eine nickt und sagt: "So ist das Leben."
     Der andre schüttelt seinen Kopf und weint.
     Die Welt ist rund, und wir sind schlank daneben.
     Ist das ein Trost? So war es nicht gemeint.

     Sogenannte Klassefrauen

     Sind sie nicht pfuiteuflisch anzuschauen?
     Plötzlich färben sich die Klassefrauen,
     weil es Mode ist, die Nägel rot!
     Wenn es Mode wird, sie abzukauen
     oder mit dem Hammer blauzuhauen,
     tun sie's auch. Und freuen sich halbtot.

     Wenn es Mode wird, die Brust zu färben,
     oder falls man die nicht hat, den Bauch...
     Wenn es Mode wird, als Kind zu sterben
     oder sich die Hände gelbzugerben,
     bis sie Handschuh ähneln, tun sie's auch.

     Wenn es Mode wird, sich schwarzzuschmieren...
     Wenn verrückte Gänse in Paris
     sich die Haut wie Chinakrepp plissieren...
     Wenn es Mode wird, auf allen Vieren
     durch die Stadt zu kriechen, machen sie's.

     Wenn es gälte, Volapük zu lernen
     und die Nasenlöcher zuzunähn und
     die Schädeldecke zu entfernen
     und das Bein zu heben an Laternen, -
     morgen könnten wir's bei ihnen sehn.

     Denn sie fliegen wie mit Engelsflügeln
     immer auf den ersten besten Mist.
     Selbst das Schienbein würden sie sich bügeln!
     Und sie sind auf keine Art zu zügeln,
     wenn sie hören, daß was Mode ist.

     Wenn's doch Mode würde, zu verblöden!
     Denn in dieser Hinsicht sind sie groß.
     Wenn's doch Mode würde, diesen Kröten
     jede Öffnung einzeln zuzulöten!
     Denn dann wären wir sie endlich los.

     Der Streichholzjunge

     Streichhölzer! Kaufen Sie Streichhölzer!
     Drei Schachteln zwanzig!

     Sie lachen, statt was zu kaufen.
     Oder sie sind entrüstet
     und knurren, während sie weiterlaufen.
     Wenn ihr nur wüßtet...

     Streichhölzer! Kaufen Sie Streichhölzer!
     Drei Schachteln zwanzig!

     Vater kriegt zehn Mark Unterstützung
     und Mutter ein kleines Gesicht.
     Wir haben ein Zimmer mit Küchenbenützung.
     Aber wir benützen die Küche gar nicht.

     Gestern trank Vater paar Flaschen Bier.
     Mutter hat nicht mittrinken gemocht.
     Vater sang: "Ein freies Leben führen wir!"
     Und dann hat er das Fenster zerpocht.

     Streichhölzer! Kaufen Sie Streichhölzer!
     Drei Schachteln zwanzig!

     Mein Pappkarton wird nicht leer.
     Den Aufsatz muß ich noch machen.
     Wenn ich bloß nicht so müde war.
     Kaufen Sie Streichhölzer, statt zu lachen!

     Mit braunen und schwarzen Schnürsenkeln
     verdient man natürlich mehr.
     Doch da brauchte ich erst mal drei Mark.
     Und wo nehm ich die her?

     Streichhölzer! Braune und schwarze Streichhölzer!
     Drei Paar zwanzig ...

     Besagter Lenz ist da

     Es ist schon so. Der Frühling kommt m Gang.
     Die Bäume räkeln sich. Die Fenster staunen.
     Die Luft ist weich, als wäre sie aus Daunen.
     Und alles andre ist nicht von Belang.

     Nun brauchen alle Hunde eine Braut.
     Und Pony Hütchen sagte mir, sie fände:
     Die Sonne habe kleine warme Hände
     und krabble ihr mit diesen auf der Haut.

     Die Hausmannsleute stehen stolz vorm Haus.
     Man sitzt schon wieder auf Caféterrassen
     und friert nicht mehr und kann sich sehen lassen.
     Wer kleine Kinder hat, der führt sie aus.

     Sehr viele Fräuleins haben schwache Knie.
     Und in den Adern rinnt's wie süße Sahne.
     Am Himmel tanzen blanke Aeroplane.
     Man ist vergnügt dabei. Und weiß nicht wie.

     Man sollte wieder mal spazieren gehn.
     Das Blau und Rot und Grün war ganz verblichen.
     Der Lenz ist da! Die Welt wird frisch gestrichen!
     Die Menschen lächeln, bis sie sich verstehn.

     Die Seelen laufen Stelzen durch die Stadt.
     Auf den Balkons stehn Männer ohne Westen
     und säen Kresse in die Blumenkästen.
     Wohl dem, der solche Blumenkästen hat!

     Die Gärten sind nur noch zum Scheine kahl.
     Die Sonne heizt und nimmt am Winter Rache.
     Es ist zwar jedes Jahr dieselbe Sache.
     Doch ist es immer wie zum ersten Mal.

     Der synthetische Mensch

     Professor Bumke hat neulich Menschen erfunden,
     die kosten zwar, laut Katalog, ziemlich viel Geld,
     doch ihre Herstellung dauert nur sieben Stunden,
     und außerdem kommen sie fix und fertig zur Welt!

     Man darf dergleichen Vorteile nicht unterschätzen.
     Professor Bumke hat mir das alles erklärt.
     Und ich merkte schon nach den ersten Worten und
     Sätzen:
     Die Bumkeschen Menschen sind das, was sie kosten, auch
     wert.

     Sie werden mit Barten oder mit Busen geboren,
     mit allen Zubehörteilen, je nach Geschlecht.
     Durch Kindheit und Jugend würde nur Zeit verloren,
     meinte Professor Bumke. Da hat er ja recht.

     Er sagte, wer einen Sohn, der Rechtsanwalt sei,
     etwa benötige, brauche ihn nur zu bestellen.
     Man liefre ihn, frei ab Fabrik, in des Vaters Kanzlei,
     promoviert und vertraut mit den schwersten juristischen
     Fällen.

     Man brauche nun nicht mehr zwanzig Jahre zu warten,
     daß das Produkt einer unausgeschlafenen Nacht
     auf dem Umweg über Wiege und Kindergarten
     das Abitur und die übrigen Prüfungen macht.

     Es sei ja auch denkbar, das Kind werde dumm oder krank
     und sei für die Welt und die Eltern nicht recht zu
     verwenden.
     Oder es sei musikalisch! Das gäbe nur Zank,
     falls seine Eltern nichts von Musik verständen.

     Nicht wahr, wer könne denn wirklich wissen,
     was später aus einem anfangs ganz reizenden Kinde wird?
     Bumke sagte, er liefre auch Töchter und Väter,
     und sein Verfahren habe sich niemals geirrt.

     Nächstens vergrößre er seine Menschenfabrik.
     Schon heute liefre er zweihundertneunzehn Sorten.
     Mißlungene Aufträge nahm er natürlich zurück.
     Die müßten dann nochmals durch die verschiednen
     Retorten.

     Ich sagte: Da sei noch ein Bruch in den Fertigartikeln.
     In jenen Menschen aus Bumkes Geburtsinstitute.
     Sie seien konstant und würden sich niemals entwickeln.
     Da gab er zur Antwort: "Das ist ja gerade das Gute!"

     Ob ich tatsächlich vom Sichentwickeln was halte?
     Professor Bumke sprach's in gestrengem Ton.
     Auf seiner Stirn entstand eine tiefe Falte. -
     Und dann bestellte ich mir einen vierzigjährigen Sohn.

     Ankündigung einer Chansonette

     Sie ist nicht sehr schön. Doch es kommt nicht drauf an.
     Ohne Schönheit geht's auch.
     Sie ist eine Frau. Und steht ihren Mann.
     Und hat Musik im Bauch.

     Sie kennt das Leben in jeder Fasson.
     Sie kennt es per Du und per Sie.
     Ihre Lieder passen in keinen Salon.
     Höchstens die Melodie.

     Sie singt, was sie weiß. Und sie weiß, was sie singt.
     Man merkt das am Gesang.
     Und manches, was sie zum Vortrag bringt,
     behält man jahrelang.

     Sie pfeift auf das mühelos hohe C.
     Und ihr Ton ist nicht immer rund.
     Das Herz tut ihr manchmal beim Singen weh.
     Denn sie singt nicht nur mit dem Mund.

     Sie kennt den Kakao, durch den man uns zieht,
     genau so gut wie wir,
     und sie weiß zu dem Thema so manches Lied.
     Und ein paar davon singt sie hier.

     Ein Kind, etwas frühreif

     Ich hab mich zu einem Kinde gebückt.
     (Denn ich bin in solchen Dingen nicht stolz.)
     Und ich hab ihm sein Spielzeug zurechtgerückt.
     Es war ein Schimmel aus Holz.

     Das Kind ging mit einer schönen Frau.
     Die dachte, ich dächte, sie wäre so frei...
     Und sie zog ihr Kind wie einen Wauwau
     an Laternen und Läden vorbei.

     Sie fühlte sich schon zur Hälfte verführt
     und schwenkte vergnügt ihr Gewölbe.
     Das hätte mich nun nicht weiter gerührt.
     Doch das Kind - ich hab es ganz deutlich gespürt -
     es dachte bereits dasselbe.

     Nur Geduld!

     Das Leben, das die Meisten führen,
     zeigt ihnen, bis sie's klar erkennen:
     Man kann sich auch an offnen Türen
     den Kopf einrennen!

     Spaziergang nach einer Enttäuschung

     Da hätte mich also wieder einmal
     eine der hausschlachtenen Ohrfeigen ereilt,
     die das eigens hierzu gegründete Schicksal
     in beliebiger Windstärke und Zahl
     an die Umstehenden gratis verteilt.

     Na schön. Der Weg des Lebens ist wellig.
     Man soll die Steigungen nicht noch steigern.
     Es war wieder mal eine Ohrfeige fällig.
     Ich konnte die Annahme schlecht verweigern.

     So ein Schlag ins vergnügte Gesicht
     klingt für den, der ihn kriegt, natürlich sehr laut,
     weil das Schicksal mit Liebe zur Sache zuhaut.
     Tödlich sind diese Ohrfeigen hingegen nicht.
     Der Mensch ist entsprechend gebaut.

     Jedoch, wenn ich den See betrachte
     und die schneeweiß gedeckten Berge daneben,
     muß ich denken, was ich schon häufig dachte:
     Diese Art Ohrfeigen brauchte es nicht zu geben.

     Da rennt man nun die Natur entlang
     und ist froh, daß man keinem begegnet.
     Die Vögel verüben Chorgesang.
     Die Sonne scheint im Überschwang.
     Aber innen hat's ziemlich geregnet.

     Die Glockenblumen nicken verständig.
     Eine Biene kratzt sich ernst hinterm Ohr.
     Und der Wind und die Wellen spielen vierhändig
     die Sonnenscheinsonate vor.

     Das Schicksal wird mich noch öfter äffen
     und schlagen, wie es mich heute schlug.
     Vielleicht wird man wirklich durch Schaden klug?
     Mich müssen noch viele Schläge treffen,
     bevor mich der Schlag trifft! Und damit genug.

     Selbstmord im Familienbad

     Hier bist du. Und dort ist die Natur.
     Leider ist Verschiedenes dazwischen.
     Bis zu dir herüber wagt sich nur
     ein Parfüm aus Blasentang und Fischen.

     Zwischen deinen Augen und dem Meer,
     das sich sehnt, von dir erblickt zu werden,
     laufen dauernd Menschen hin und her.
     Und ihr Anblick macht dir Herzbeschwerden.

     Freigelaßne Bäuche und Popos
     stehn und hegen kreuz und quer im Sande.
     Dicke Tanten senken die Trikots
     und sehn aus wie Quallen auf dem Lande.

     Wo man hinschaut, wird den Augen schlecht,
     und man schließt sie fest, um nichts zu sehen.
     Doch dann sieht man dies und das erst recht.
     Man beschließt, es müsse was geschehen.

     Wütend stürzt man über tausend Leiber,
     bis ans Meer, und dann sogar hinein, -
     doch auch hier sind dicke Herrn und Weiber.
     Fett schwimmt oben. Muß das denn so sein?

     Traurig hängt man in den grünen Wellen,
     vor der Nase eine Frau in Blond.
     Ach, das Meer hat nirgends freie Stellen,
     und der Mensch verhüllt den Horizont.

     Hier bleibt keine Wahl als zu ersaufen!
     Und man macht sich schwer wie einen Stein.
     Langsam läßt man sich voll Wasser laufen.

     Auf dem Meeresgrund ist man allein.

     Wohltätigkeit

     Ihm war so scheußlich mild zumute.
     Er konnte sich fast nicht verstehn.
     Er war entschlossen, eine gute
     und schöne Handlung zu begehn.

     Das mochte an den Bäumen liegen
     und an dem Schatten, den er warf.
     Er hätte mögen Kinder kriegen,
     obwohl ein Mann das gar nicht darf.

     Der Abend ging der Nacht entgegen,
     und aus den Gärten kam es kühl.
     Er litt, und wußte nicht weswegen,
     an einer Art von Mitgefühl.

     Da sah er Einen, der am Zaune
     versteckt und ohne Mantel stand.
     Dem drückte er, in Geberlaune,
     zehn Pfennig mitten in die Hand.

     Er fühlte sich enorm gehoben,
     als er darauf von dannen schritt,
     und blickte anspruchsvoll nach oben,
     als hoffe er, Gott schreite mit.

     Jedoch der Mann, dem er den Groschen
     verehrte, wollte nichts in bar
     und hat ihn fürchterlich verdroschen!
     Warum? Weil er kein Bettler war.

     Monolog mit verteilten Rollen

     Geht dein Fenster auch zum Hof hinaus?
     So ein Hof ist eine trübe Welt.
     Wo du hinsiehst, steht ein andres Haus.
     Und der Blick ist wie ein Wild umstellt.

     Und wie traurig wird das erst zur Nacht!
     Alle schlafen schon. Nur du schläfst nicht.
     Und der Hof umgibt dich wie ein Schacht.
     Und drei Sterne sind das ganze Licht.

     Dann geschieht es wohl, daß du erschrickst,
     wenn du, gegenüber, an der Wand,
     einen Schatten, der dir winkt, erblickst.
     Und du weichst zurück vor seiner Hand.

     Doch wenn du zurückgewichen bist,
     siehst du, daß auch er ins Dunkle trat.
     Bis du merkst, daß es dein Schatten ist,
     und du winktest selbst, wenn er es tat!

     Und nun lächelst du. Und nickst ihm zu.
     Beide Arme streckst du nach ihm aus.
     Und er macht es ganz genau wie du.
     Und sein Kopf ist größer als dein Haus.

     Einmal bist du hier und einmal dort.
     Und dir ist, als wärst du nicht allein.
     Und du wagst dich nicht vom Fenster fort.
     Denn dann würdst du wieder einsam sein.

     Und du freust dich an dem Schattenspiel.
     Und du wirst dem anderen fast gut.
     Aber endlich wird's dir doch zuviel,
     da er immer nur, was du tust, tut.

     Keiner sah das nächtliche Duett,
     nur im Hofe der verdorrte Strauch ...
     Und du gähnst betrübt. Und gehst ins Bett.
     Und der andre drüben auch.

     Plädoyer einer Frau

     Du darfst mir das, was war, nicht übelnehmen.
     Ich sag es dir, obwohl du mich nicht fragst.
     Sieh mich dabei nicht an! Ich will mich schämen
     und tun, als ob die Toten wiederkämen.
     Ich glaube nicht, daß du mich dann noch magst.

     Ich will nicht sagen, daß ich mir verzeihe.
     Denn darauf kommt es im Moment nicht an.
     Ich wartete und kam nicht an die Reihe.
     Wer keinen Mann hat, hat auf einmal zweie!
     Doch fünf von diesen wären noch kein Mann.

     Man fühlt: man könnte Einem was bedeuten.
     Es ist nur traurig, daß es ihn nicht gibt.
     Und dann umarmt man sich mit fremden Leuten
     und wird zu einer von den vielen Bräuten,
     die sich nur lieben läßt und selbst nicht hebt.

     Die Zeit vergeht. Geduld ist keine Ware.
     Man sucht nicht mehr. Man findet ab und zu.
     Man sieht vom Fenster aus die Jagd der Jahre.
     Man wartet nicht mehr auf das Wunderbare.
     Und plötzlich kommt es doch! Denn nun kommst du!

     Was war, das bleibt. Wie soll ich mich erneuen?
     Mir wird ein Schmerz mit Nadeln zugenäht.
     Was war, das bleibt. Man kann es nur bereuen.
     Nun bist du da. Nun sollte ich mich freuen!
     Ich bin nicht froh. Ist es denn schon zu spät?

     Goldne Jugendzeit

     Wenn sie abends von der Arbeit kommen,
     fahren sie, so schnell es geht, nach Haus.
     Und sie sehen ziemlich mitgenommen
     und wie kleine kranke Kinder aus.

     Die Büros sind keine Puppenstuben.
     Die Fabriken sind kein Nadelwald.
     Und auch die modernsten Kohlengruben
     sind kein idealer Aufenthalt.

     Aber nicht nur müde sind sie, leider
     hat ihr Müdesein auch keinen Zweck.
     Vielmehr ziehn sie ihre Sonntagskleider
     heimlich an und laufen wieder weg.

     Und dann gehn sie irgendwohin tanzen.
     Ins "Orpheum" oder wie es heißt.
     Und sie treiben es im großen ganzen,
     mit und ohne Noten, ziemlich dreist!

     Später sitzen sie in Parks auf Bänken,
     und es ist aufs Haar wie einst im Mai.
     Weiter können sie sich ja nichts schenken!
     Und bis sie zu Hause sind, wird's Drei.

     Einmal werden sie sich schon noch fügen.
     Wenn ihr Schicksal die Geduld verliert.
     Ach, sie glauben, daß man zum Vergnügen
     (noch dazu zum eignen) existiert.

     Sie sind jung und täuschen sich nach Kräften.
     6 Uhr 30, wenn der Wecker klirrt,
     in der Bahn und dann in den Geschäften
     merken sie: sie haben sich geirrt.

     Menschen werden niemals Schmetterlinge.
     Nektar ist, im besten Fall, ein Wort.
     Jung und froh sein, sind verschiedne Dinge.
     Und die Freude stirbt auf dem Transport.

     Meyer IX. im Schnee

     Der Schnee hängt wie kandiertes Obst im Wald.
     Es war ganz gut, daß ich gleich gestern fuhr.
     Den Bäumen sind vielleicht die Füße kalt...
     Doch was weiß unsereins von der Natur.

     Der Schnee, das könnte klarer Zucker sein.
     Als Kind hat man oft ähnliches geglaubt.
     Wieso fällt mir das heute wieder ein,
     und weshalb überhaupt?

     Vorher sind Wolken da. Und nachher schneit's.
     Wie aber kommt der Schnee da erst hinauf?
     Die Welt ist, wie gesagt, von großem Reiz.
     Man paßt nur gar nicht auf.

     Die kleinen Flocken tanzen ein Ballett,
     und viele große Berge sehen zu.
     Das schneit und schneit! Die Erde liegt zu Bett.
     Und kaltes Wasser hab ich auch im Schuh.

     Wenn man so ganz allem im Walde steht,
     begreift man nur sehr schwer,
     wozu man in Büros und Kinos geht.
     Und plötzlich will man alles das nicht mehr!

     Ich las, es soll die ganze Woche schnein.
     Für einen Menschen, der auf sich was hält,
     ist es nicht leicht, im Schnee allein zu sein.
     Da wackelt, eh er's denkt, die ganze Welt.

     Na ja. Schon gut. Dort fließt ja auch ein Bach
     und tut, als gab es weiter nichts als ihn.
     Es ist so furchtbar still. Mir fehlt der Krach.
     Die ersten Nächte lieg ich sicher wach
     und möchte nach Berlin.

     Der Blinde an der Mauer

     Ohne Hoffnung, ohne Trauer
     hält er seinen Kopf gesenkt.
     Müde hockt er auf der Mauer.
     Müde sitzt er da und denkt:

     "Wunder werden nicht geschehen.
     Alles bleibt so, wie es war.
     Wer nichts sieht, wird nicht gesehen.
     Wer nichts sieht, ist unsichtbar.

     Schritte kommen, Schritte gehen.
     Was das wohl für Menschen sind?
     Warum bleibt denn niemand stehen?
     Ich bin blind, und ihr seid blind.

     Euer Herz schickt keine Grüße
     aus der Seele ins Gesicht.
     Hörte ich nicht eure Füße,
     dächte ich, es gibt euch nicht.

     Tretet näher! Laßt euch nieder,
     bis ihr ahnt, was Blindheit ist.
     Senkt den Kopf, und senkt die Lider,
     bis ihr, was euch fremd war, wißt.

     Und nun geht! Ihr habt ja Eile!
     Tut, als wäre nichts geschehn.
     Aber merkt euch diese Zeile:
     Wer nichts sieht, wird nicht gesehn."

     Existenz im Wiederholungsfälle

     Man müßte wieder sechzehn Jahre sein
     und alles, was seitdem geschah, vergessen.
     Man müßte wieder seltne Blumen pressen
     und (weil man wächst) sich an der Türe messen
     und auf dem Schulweg in die Tore schrein.

     Man müßte wieder nachts am Fenster stehn
     und auf die Stimme der Passanten hören,
     wenn sie den leisen Schlaf der Straßen stören.
     Man müßte sich, wenn einer lügt, empören
     und ihm fünf Tage aus dem Wege gehn.

     Man müßte wieder durch den Stadtpark laufen
     mit einem Mädchen, das nach Hause muß
     und küssen will und Angst hat vor dem Kuß.
     Man müßte ihr und sich, vor Ladenschluß,
     für zwei Mark fünfzig ein paar Ringe kaufen.

     Man würde seiner Mutter wieder schmeicheln,
     weil man zum Jahrmarkt ein paar Groschen braucht.
     Man sähe dann den Mann, der lange taucht.
     Und einen Affen, der Zigarren raucht.
     Und ließe sich von Riesendamen streicheln.

     Man ließe sich von einer Frau verführen
     und dächte stets: das ist Herrn Lehmanns Braut.
     Man spürte ihre Hände auf der Haut.
     Das Herz im Leibe schlüge hart und laut,
     als schlügen nachts im Elternhaus die Türen.

     Man sähe alles, was man damals sah.
     Und alles, was seit jener Zeit geschah,
     das würde nun zum zweitenmal geschehn ...
     Dieselben Bilder willst du wiedersehn?
     Ja!

     Frau Großhennig schreibt an ihren Sohn

     Mein lieber Junge! Das war natürlich sehr schade,
     daß Du zu meinem Geburtstag nicht kamst. Und nur
     schriebst.
     Die Nelken waren sehr schön. Und Bratwurst hatten wir
     grade.
     Weil ich doch hoffte, Du kämst. Und Du doch Bratwurst
     so liebst.

     Tante Isolde hat mir eine Lackledertasche geschenkt.
     Nur Vater hatte es gänzlich vergessen.
     Ich war erst traurig. Wo er doch sonst stets an alles denkt.
     Aber es gab viel zu tun, mit dem Kaffee, und dann mit dem
     Abendessen.

     Und wie geht es Dir sonst und bist Du den trockenen
     Husten los?
     Das macht mir Sorgen, mein Kind. Und das darf man
     nicht hinhängen lassen.

     Nächstens schick ich Dir Umlegekragen. Waren die
     letzten zu groß?
     Ja, wenn Du zu Hause wärst, dann würden die Kragen
     schon passen.

     Ach, Krauses älteste Tochter hat kürzlich ein Kind
     gekriegt!
     Wer der Vater ist, weiß kein Mensch. Und sie soll es selber
     nicht wissen.
     Ob denn das wirklich bloß an der Gymnasialbildung hegt?
     Und schick bald die schmutzige Wäsche. Der letzte Karton
     war schrecklich zerrissen.

     Mein Kostüm habe ich umfärben lassen. Jetzt ist es
     marineblau.

     Laß Dein Zimmer heizen! Wir machen schon lange Feuer.
     Das Fleisch, das kaufe ich jetzt bei unsrer Gemüsefrau,
     da ist es zehn Pfennige billiger. Ich finde es trotzdem noch
     teuer.

     Drei Monate bist Du nun schon nicht zu Hause gewesen.
     Läßt es sich wirklich nicht mal und wenn's auf zwei Tage ist
     machen?
     Erst vorgestern habe ich eine Berliner Zeitung gelesen.
     Fritz,  sieh  Dich  bloß  vor! Da  passieren  ja  gräßliche
Sachen!

     Ist das Essen auch gut in dem Restaurant, wo Du ißt?
     Laß Dir doch abends von Deiner Wirtin zwei Eier auf
     Butter braten.
     Das wird alles anders, wenn Du erst richtig verheiratet bist.
     Ich weiß schon, Du hast keine Lust. Das ist schade, da läßt
     sich nicht raten.

     Unser neuer Zimmerherr, der hat eine richtige Braut.
     Die ist mitunter bei ihm. Sonst bin ich mit ihm ganz
     zufrieden.
     Die Hausmannsfrau hat sie gesehn. Und sagte gestern
     ganz laut,
     das wäre nicht immer dieselbe. Ich müßte das endlich
     verbieten.

     Sonst geht es uns allen wenn man das schlechte nicht
     rechnet famos.
     Ich hoffe dasselbe von Dir. Was wollte ich gleich noch
     sagen?
     Das Papier ist zu Ende. Leb wohl! Bei Ehrlichs ist wieder
     was los.
     Ich will nur den Brief noch ganz schnell in den
     Bahnhofbriefkasten tragen.

     Da fällt mir noch etwas ein. Doch es geht schon gar nicht
     mehr her.
     Kannst Du's auch lesen? Frau Fleischer Stefan traf ich jetzt
     im Theater.
     Was die Erna ist, ihre Tochter. Die liebt Dich längst
     schon. Und sehr.
     Ich find sie recht nett. Na schon gut. Auch viele Grüße
     von Vater.

     Eisenbahnfahrt

     Die Welt ist rund. Man geht auf Reisen,
     damit sich die Nervosität verliert.
     Und Bauern stehen an den Gleisen,
     als würden sie fotografiert.

     Man sieht ein Schloß und spiegelglatte
     Gewässer und ein rotes Feld mit Mohn.
     Die Landschaft kreist wie eine Platte
     auf Gottes großem Grammophon.

     Der Schnellzug rast und will nicht rasten.
     Die Hühner nicken längs der Bahn.
     Vorm Fenster wehen Telegraphenmasten
     wie Maiglöckchen aus Porzellan.

     Die Drähte fallen tief und steigen.
     Die Masten gehen manchmal in die Knie.
     Es ist, als ob sie sich vor uns verneigen.
     Uns wird so eigen!
     Wir ziehn den Hut und grüßen sie
     und schweigen.

     Kleine Führung durch die Jugend

     Und plötzlich steht man wieder in der Stadt,
     in der die Eltern wohnen und die Lehrer
     und andre, die man ganz vergessen hat.
     Mit jedem Schritte fällt das Gehen schwerer.

     Man sieht die Kirche, wo man sonntags sang.
     (Man hat seitdem fast gar nicht mehr gesungen.)
     Dort sind die Stufen, über die man sprang.
     Man blickt hinüber. Es sind andre Jungen.

     Der Fleischer Kurzhals lehnt an seinem Haus.
     Nun ist er alt. Man winkt ihm wie vor Jahren.
     Er nickt zurück. Und sieht verwundert aus.
     Man kennt ihn doch. Er ist sich nicht im klaren.

     Dann fährt man Straßenbahn und hat viel Zeit.
     Der Schaffner ruft die kommenden Stationen.
     Es sind Stationen der Vergangenheit!
     Man dachte, sie sei tot. Sie blieb hier wohnen.

     Dann steigt man aus. Und zögert. Und erschrickt.
     Der Wind steht still, und alle Wolken warten.
     Man biegt um eine Ecke. Und erblickt
     ein schwarzes Haus in einem kahlen Garten.

     Das ist die Schule. Hier hat man gewohnt.
     Im Schlafsaal brennen immer noch die Lichter.
     Im Amselpark schwimmt immer noch der Mond.
     Und an die Fenster pressen sich Gesichter.

     Das Gitter blieb. Und nun steht man davor.
     Und sieht dahinter neue Kinderherden.
     Man fürchtet sich. Und legt den Kopf ans Tor.
     (Es ist, als ob die Hosen kürzer werden.)

     Hier floh man einst. Und wird jetzt wieder fliehn.
     Was nützt der Mut? Hier wagt man nicht zu retten.
     Man geht, denkt an die kleinen Eisenbetten
     und fährt am besten wieder nach Berlin.

     Ein gutes Mädchen träumt

     Ihr träumte, sie träfe ihn im Café.
     Er läse. Und säße beim Essen.
     Und sähe sie an. Und sagte zu ihr:
     "Du hast das Buch vergessen!"

     Da nickte sie. Und drehte sich um.
     Und lächelte verstohlen.
     Und trat auf die späte Straße hinaus
     und dachte: ich will es holen.

     Der Weg war weit. Sie lief und lief.
     Und summte ein paar Lieder.
     Sie stieg in die Wohnung. Und blieb eine Zeit.
     Und schließlich ging sie wieder.

     Und als sie das Café betrat,
     saß er noch immer beim Essen.
     Er sah sie kommen. Und rief ihr zu:
     "Du hast das Buch vergessen!"

     Da stand sie still und erschrak vor sich.
     Und konnte es nicht verstehen.
     Dann nickte sie wieder. Und trat vor die Tür,
     um den Weg noch einmal zu gehen.

     Sie war so müde. Und ging. Und kam.
     Und hätte so gerne gesessen.
     Er sah kaum hoch. Und sagte bloß:
     "Du hast das Buch vergessen!"

     Sie kehrte um. Sie kam. Sie ging.
     Schlich Treppen auf und nieder.
     Und immer wieder fragte er.
     Und immer ging sie wieder.

     Sie lief wie durch die Ewigkeit!
     Sie weinte. Und er lachte.
     Ihr flossen Tränen in den Mund.
     Auch noch, als sie erwachte.

     Maskenball im Hochgebirge

     Eines schönen Abends wurden alle
     Gäste des Hotels verrückt, und sie
     rannten schlagerbrüllend aus der Halle
     in die Dunkelheit und fuhren Ski.

     Und sie sausten über weiße Hänge.
     Und der Vollmond wurde förmlich fahl.
     Und er zog sich staunend in die Länge.
     So etwas sah er zum erstenmal.

     Manche Frauen trugen nichts als Flitter.
     Andre Frauen waren in Trikots.
     Ein Fabrikdirektor kam als Ritter.
     Und der Helm war ihm zwei Kopf zu groß.

     Sieben Rehe starben auf der Stelle.
     Diese armen Tiere traf der Schlag.
     Möglich, daß es an der Jazzkapelle --
     denn auch die war mitgefahren - lag.

     Die Umgebung glich gefrornen Betten.
     Auf die Abendkleider fiel der Reif.
     Zähne klapperten wie Kastagnetten.
     Frau von Cottas Brüste wurden steif.

     Das Gebirge machte böse Miene.
     Das Gebirge wollte seine Ruh.
     Und mit einer mittleren Lawine
     deckte es die blöde Bande zu.

     Dieser Vorgang ist ganz leicht erklärlich.
     Der Natur riß einfach die Geduld.
     Andre Gründe hierfür gibt es schwerlich.
     Den Verkehrsverein trifft keine Schuld.

     Man begrub die kalten Herrn und Damen.
     Und auch etwas Gutes war dabei:
     für die Gäste, die am Mittwoch kamen,
     wurden endlich ein paar Zimmer frei.

     Apropos, Einsamkeit!

     Man kann mitunter scheußlich einsam sein!
     Da hilft es nichts, den Kragen hochzuschlagen
     und vor Geschäften zu sich selbst zu sagen:
     Der Hut da drin ist hübsch, nur etwas klein ...

     Da hilft es nichts, in ein Café zu gehn
     und aufzupassen, wie die ändern lachen.
     Da hilft es nichts, ihr Lachen nachzumachen.
     Es hilft auch nicht, gleich wieder aufzustehn.

     Da schaut man seinen eignen Schatten an.
     Der springt und eilt, um sich nicht zu verspäten,
     und Leute kommen, die ihn kühl zertreten.
     Da hilft es nichts, wenn man nicht weinen kann.

     Da hilft es nichts, mit sich nach Haus zu fliehn
     und, falls man Brom zu Haus hat, Brom zu nehmen.
     Da hilft es nichts, sich vor sich selbst zu schämen
     und die Gardinen hastig vorzuziehn.

     Da spürt man, wie es wäre: klein zu sein.
     So klein, wie nagelneue Kinder sind!
     Dann schließt man beide Augen und wird blind.
     Und liegt allein...

     Albumvers

     Die Hühner fühlten sich plötzlich verpflichtet,
     statt Eiern Apfeltörtchen zu legen.
     Die Sache zerschlug sich. Und zwar weswegen?
     Das Huhn ist auf Eier eingerichtet.
     (So wurde schon manche Idee vernichtet.)

     Beispiel von ewiger Liebe

     Im gelben Autobus ging's durch den Ort,
     schnell hinein, schnell hinaus.
     Erstes Haus, letztes Haus.
     Fort.

     Hab ich den Namen vergessen?
     Ob ich ihn überhaupt las?
     Es war eine Kleinstadt in Hessen,
     zwischen Reben und Gras.

     Du lehntest am grünen Staket,
     als du mich plötzlich erblicktest.
     Dann hab ich mich umgedreht.
     Du nicktest.

     Darf ich nicht Du zu dir sagen?
     Es war keine Zeit dazu,
     erst um Erlaubnis zu fragen.
     Ich sage Du.

     Ich wünsche es sehnlich,
     ich stände bei dir.
     Ging dir's nicht ähnlich?
     Ging dir's wie mir?

     Der Zufall hat keinen Verstand.
     Es heißt, er sei blind.
     Er gab und entzog uns hastig die Hand
     wie ein ängstliches Kind.

     Ich bin entschlossen, fest daran zu glauben,
     daß du die Richtige gewesen wärst.
     Du kannst mir diese Illusion nicht rauben,
     da du sie nicht erfährst.

     Du lehntest lächelnd am grünen Staket.
     Es war im Taunus. Es war in Hessen.
     Ich habe den Namen des Ortes vergessen.
     Die Liebe besteht.

     Brief aus einem Herzbad

     Wie geht es Dir? Es ist schon reichlich spät.
     Der Doktor fände sicher, daß es schadet.
     Das Pferd von Droschke 7, heißt es, badet.
     Und selbst die Hunde leben hier diät.

     Sogar der Luft entzieht man Koffein!
     Das Atmen wird dadurch fast ungefährlich.
     Es ist ja leider noch nicht ganz entbehrlich.
     Wie einfach mir das Atmen früher schien...

     Seit gestern nehm ich täglich zwölfmal ein.
     Nichts einzunehmen, wäre das Verkehrtste.
     Hier nehmen alle ein. Sogar die Ärzte!
     Der eine soll so reich wie Morgan sein.

     Das Schönste sind die kohlensauren Bäder.
     Zehntausend Perlen sitzen auf der Haut.
     Man ähnelt einer Wiese, wenn es taut.
     Kann sein, es nützt. Das merkt man erst viel später.

     Ich inhaliere auch. Das ist gesund.
     Da sitzen Herren, meistens hochbejahrt,
     mit Kinderlätzchen vor dem Rauschebart
     und Porzellanzigarren fesch im Mund.

     Des weiteren mach ich die Brunnenkur.
     Das Wasser schmeckt wie Hering mit Lakritzen.
     Und bleibt man, wie vom Blitz erschlagen, sitzen,
     und die Kapelle schwelgt im "Troubadour".

     Wer da nicht krank wird, darf für trotzig gelten.
     Der Doktor Barthel untersucht mich oft,
     weil er noch dies und das zu finden hofft.
     Er ist der Chef. Wir sind die Angestellten.

     Ich sehne mich nach einem Glase Bier.
     Nach Dir natürlich auch. Doch ich muß baden.
     Kneif Dich, in meinem Auftrag, in die Waden.
     Was war denn noch? Ja so: Wie geht es Dir?

     Junger Mann, 5 Uhr morgens

     Wenn ich dich früh verlasse,
     tret ich aus deinem Haus
     still auf die kahle, blasse,
     öde Straße hinaus.

     In dem Geäst sind Spatzen
     zänkisch beim ersten Lied.
     Drunter hocken zwei Katzen,
     hölzern vor Appetit.

     Wirst du noch lange weinen?
     Oder ob du schon schläfst?
     Wenn du doch endlich einen
     besseren Menschen träfst.

     In dem Laden, beim Bäcker,
     wird der Kuchen zu Stein.
     Wütend erwacht ein Wecker,
     brüllt und schläft wieder ein.

     Noch ist die große Pause zwischen
     der Nacht und dem Tag.
     Und ich geh nach Hause,
     weil ich mich nicht mag.

     Noch brennt hinter deinen
     Fenstern etwas Licht.
     Wirst du noch lange weinen?
     Bald wird die Sonne scheinen.
     Aber sie scheint noch nicht.

     Aufforderung zur Bescheidenheit

     Wie nun mal die Dinge liegen,
     und auch wenn es uns mißfällt:
     Menschen sind wie Eintagsfliegen
     an den Fenstern dieser Welt.

     Unterschiede sind fast keine,
     und was wär auch schon dabei!
     Nur: die Fliege hat sechs Beine,
     und der Mensch hat höchstens zwei.

     Frühling auf Vorschuß

     Im Grünen ist's noch gar nicht grün.
     Das Gras steht ungekämmt im Wald,
     als sei es tausend Jahre alt.
     Hier also, denkt man, sollen bald
     die Glockenblumen blühn?

     Die Blätter sind im Dienst ergraut
     und rascheln dort und rascheln hier,
     als raschle Butterbrotpapier.
     Der Wind spielt überm Wald Klavier,
     mal leise und mal laut.

     Doch wer das Leben kennt, der kennt's.
     Und sicher wird's in diesem Jahr
     so, wie's in andern Jahren war.
     Im Walde sitzt ein Ehepaar
     und wartet auf den Lenz.

     Man soll die beiden drum nicht schelten.
     Sie lieben eben die Natur
     und sitzen gern in Wald und Flur.
     Man kann's ganz gut verstehen, nur:
     sie werden sich erkälten!

     Nasser November

     Ziehen Sie die ältesten Schuhe an,
     die m Ihrem Schrank vergessen stehn!
     Denn Sie sollten wirklich dann und wann
     auch bei Regen durch die Straßen gehn.

     Sicher werden Sie ein bißchen frieren,
     und die Straßen werden trostlos sein.
     Aber trotzdem: gehn Sie nur spazieren!
     Und, wenn's irgend möglich ist, allein.

     Müde fällt der Regen durch die Äste.
     Und das Pflaster glänzt wie blauer Stahl.
     Und der Regen rupft die Blätterreste.
     Und die Bäume werden alt und kahl.

     Abends tropfen hunderttausend Lichter
     zischend auf den glitschigen Asphalt.
     Und die Pfützen haben fast Gesichter.
     Und die Regenschirme sind ein Wald.

     Ist es nicht, als stiegen Sie durch Träume?
     Und Sie gehn doch nur durch eine Stadt!
     Und der Herbst rennt torkelnd gegen Bäume.
     Und im Wipfel schwankt das letzte Blatt.

     Geben Sie ja auf die Autos acht.
     Gehn Sie, bitte, falls Sie friert, nach Haus!
     Sonst wird noch ein Schnupfen heimgebracht.
     Und, ziehn Sie sofort die Schuhe aus!

     Ein Mann gibt Auskunft

     Das Jahr war schön und wird nicht wiederkehren.
     Du wußtest, was ich wollte, stets und gehst.
     Ich wünschte zwar, ich könnte dir's erklären,
     und wünsche doch, daß du mich nicht verstehst.

     Ich riet dir manchmal, dich von mir zu trennen,
     und danke dir, daß du bis heute bliebst.
     Du kanntest mich und lerntest mich nicht kennen.
     Ich hatte Angst vor dir, weil du mich liebst.

     Du denkst vielleicht, ich hätte dich betrogen.
     Du denkst bestimmt, ich wäre nicht wie einst.
     Und dabei habe ich dich nie belogen!
     Wenn du auch weinst.

     Du zürntest manchmal über meine Kühle.
     Ich muß dir sagen: Damals warst du klug.
     Ich hatte stets die nämlichen Gefühle.
     Sie waren aber niemals stark genug.

     Du denkst, das klingt, als wollte ich mich loben
     und stünde stolz auf einer Art Podest.
     Ich stand nur fern von dir. Ich stand nicht oben.
     Du bist mir böse, weil du mich verläßt.

     Es gibt auch andre, die wie ich empfinden.
     Wir sind um soviel ärmer, als Ihr seid.
     Wir suchen nicht. Wir lassen uns bloß finden.
     Wenn wir Euch leiden sehn, packt uns der Neid.

     Ihr habt es gut. Denn Ihr dürft alles fühlen.
     Und wenn Ihr trauert, drückt uns nur der Schuh.
     Ach, unsere Seelen sitzen wie auf Stühlen
     und sehn der Liebe zu.

     Ich hatte Furcht vor dir. Du stelltest Fragen.
     Ich brauchte dich und tat dir doch nur weh.
     Du wolltest Antwort. Sollte ich denn sagen:
     "Geh!"

     Es ist bequem, mit Worten zu erklären.
     Ich tu es nur, weil du es so verlangst.
     Das Jahr war schön und wird nicht wiederkehren.
     Und wer kommt nun? Leb wohl! Ich habe Angst.

     Fauler Zauber

     Frühmorgens in der Wanne geht es los.
     Man sitzt und wünscht sich, nie mehr aufzustehen,
     und ist zu faul, die Hähne zuzudrehen.
     Man müßte baden. Doch man plätschert bloß.
     Das Wasser steigt. Man starrt auf seine Zehen,
     als wären es platonische Ideen.
     Da irrt man sich. Sie sind nur etwas groß.

     Man lächelt so, als röche man an Rosen,
     und ist verwundert, daß man lächeln kann.
     Denn man ist faul. Doch Lächeln greift nicht an.
     Ach, der Verstand ist noch in Unterhosen!
     Die Energie, der Kopf, der ganze Mann --
     sie sind verreist, und keiner weiß, bis wann.
     Man sitzt und zählt sich zu den Arbeitslosen.

     Man liegt und schläft, auch wenn man ißt und geht.
     Und trollt durch Straßen, summt ein dummes Zeilchen
     und schäkert in den Gärten mit den Veilchen.
     Fast wie ein Luftballon wird man verweht.
     Man zupft den Brief von Fee in tausend Teilchen.
     Und wirft ihn weg. Und wartet noch ein Weilchen,
     ob wenigstens der Wind den Brief versteht.

     So faul ist man! Und hat soviel zu tun.
     Und Uhren ticken rings m allen Taschen.
     Die Zeit entflieht und will, man soll sie haschen,
     und rennt sich fast die Sohlen von den Schuhn.
     Man ist zu faul, die Seele reinzuwaschen.
     Man wird die Stunden wie Bonbons vernaschen
     und schleicht nach Hause, um sich auszuruhn.

     Faulheit strengt an, als stemme man Gewichte.
     Man ist allein, und das ist kein Verkehr.
     Und Steineklopfen ist nicht halb so schwer.
     Man steht herum und steht dem Glück im Lichte.
     Und daß man lächelt, spürt man gar nicht mehr.
     Vom Nichtstun wird nicht nur der Beutel leer...
     Das ist das Traurigste an der Geschichte.

     Ein Buchhalter schreibt seiner Mutter

     Heute erhielt ich die Wäsche, Du Gute.
     Und unter Brüdern, es wurde Zeit.
     Der Postbote kam in letzter Minute.
     Was sagst Du, mir sind die Kragen zu weit.

     Kein Wunder, fortwährend die Sache mit Hilde.
     Ich heirate nicht bei diesem Gehalt.
     Ich hab's ihr erklärt. Und nun ist sie im Bilde.
     Sie wartet nicht länger, sonst wird sie zu alt.

     Du schreibst, daß ich Deine Briefe nicht läse
     und Du nur noch Postkarten schicken wirst.
     Du schreibst, daß Du denkst, daß ich Dich vergäße.
     Wie Du Dich irrst...

     Wie gern ich Dir öfter und gründlicher schriebe
     und nicht bloß den ewigen Wochenbericht!
     Ich dachte, Du wüßtest, daß ich Dich liebe.
     Im letzten Briefe, da weißt Du es nicht.

     Da sitz ich nun ständig und rechne und buche
     fünfstellige Zahlen und werde kaum satt.
     Ob ich mir vielleicht mal was anderes suche?
     Am besten, in einer anderen Stadt?

     Ich bin doch nicht dumm, doch ich komm nicht vom
     Flecke.
     Ich lebe, aber man merkt es nicht sehr.
     Ich lebe auf einer Nebenstrecke.
     Das ist nicht nur traurig. Es fällt auch schwer.

     Du schreibst, daß am Sonntag die Breslauer kommen.
     Wie ist das denn übrigens, hast Du Dir,
     ich bat Dich darum, eine Waschfrau genommen?
     Und wenn sie kommen, dann grüße von mir!

     Und schick zum Geburtstag nicht wieder Geschenke!
     Du sparst es Dir ab. Denn ich kenne das schon.
     Und schreib ich zu wenig, so glaub mir, ich denke
     fast immer an Dich. Viele Grüße. Dein Sohn.

     Ein Geizhals geht im Regen

     Der Frühling gießt den Regen durch ein Sieb.
     Die Veilchen stehen Hand in Hand und flennen.
     Wenn die erst wüßten, was mir Dora schrieb.
     Sie sei zwar äußerst sparsam im Betrieb,
     doch trotzdem müßten wir uns, meint sie, trennen.

     Die Bäume sind nur, wenn man hinschaut, kahl.
     Die Straße blüht, als war's zum erstenmal.
     Was alles grün ist, selbst die Autotaxen!
     Ich laß mir keine grauen Haare wachsen.
     Für so etwas ist meine Brust zu schmal.

     Der Regen regnet fast wie dünner Zwirn.
     Der liebe Gott näht Blumen auf den Rasen.
     Ich hätte Rheumatismus im Gehirn
     und eine, schreibt sie mir, plissierte Stirn.
     "Und meine Seele lief sich bei dir Blasen."

     Herr Ober, bitte eine andre Frau!
     Ein Glück, daß Frühling wird. Die Luft weht lau.
     Und von den Wunden spürt man nur die Narbe.
     Die Welt ist grau, und Grau ist keine Farbe!
     Jetzt sind sogar die schwarzen Wolken blau.

     Die Blumen blühn, und keiner kennt den Grund.
     Man atmet dreimal tief und ist gesund.
     Ich kann nur sagen: "Ora et labora."
     Ich ärgere mich nicht weiter über Dora
     und kaufe mir am Ersten einen Hund.

     Nanu, da ist ja schon der Lietzensee.
     Jetzt geh ich heim und koche mir Kaffee
     und freß ihn ganz allein, den guten Kuchen.
     Paul hat im Kino kostenlos Entree.
     Den könnte ich zum Abendbrot besuchen.

     Ballade vom Mißtrauen

     Plötzlich fühlte er: "Ich muß hinüber."
     Und er fuhr fünf Stunden und stieg aus.
     Daraufhin lief er durch viele Straßen.
     Denn er hatte Furcht vor ihrem Haus.

     Gegen Abend nahm er sich zusammen.
     Doch in ihren Fenstern war kein Licht.
     Wartend stand er auf der dunklen Straße.
     Und der Mond versank im Landgericht.

     Später hielt ein Taxi vor der Türe.
     Und er dachte sich: "Das wird sie sein."
     Und sie war's! Mit irgend einem Manne
     trat sie hastig in das Haus hinein.

     Wieder stand er auf der leeren Straße.
     Und die Zimmer oben wurden hell.
     Schatten bogen sich auf den Gardinen.
     Aus entfernten Gärten klang Gebell.

     Während sich die Stunden überholten,
     rauchte er und saß auf einer Bank.
     Gegen Morgen fing es an, zu regnen.
     Trotzdem wurde ihm die Zeit nicht lang.

     Als es tagte, zerrte er die Briefe,
     die sie ihm geschrieben hatte, vor.
     Und er las, wie innig sie ihn liebe...
     Und er nickte zu dem Haus empor.

     Sechs Uhr früh trat der Herr Stellvertreter
     aus der Tür und ging und pfiff ein Lied.
     Und der Mann, der auf der Bank saß,
     dachte tief beschämt: "Wenn man mich nur nicht sieht."

     Oben öffnete die Frau die Fenster,
     trat auf den Balkon und gähnte sehr.
     Da erhob er sich und ging zum Bahnhof.
     Sie erschrak und starrte hinterher.

     Vornehme Leute, 1200 Meter hoch

     Sie sitzen in den Grandhotels.
     Ringsum sind Eis und Schnee.
     Ringsum sind Berge, Wald und Fels.
     Sie sitzen in den Grandhotels
     und trinken immer Tee.

     Sie haben ihren Smoking an.
     Im Walde klirrt der Frost.
     Ein kleines Reh hüpft durch den Tann.
     Sie haben ihren Smoking an
     und lauern auf die Post.

     Sie tanzen Blues im Blauen Saal,
     wobei es draußen schneit.
     Es blitzt und donnert manches Mal.
     Sie tanzen Blues im Blauen Saal
     und haben keine Zeit.

     Sie schwärmen sehr für die Natur
     und heben den Verkehr.
     Sie schwärmen sehr für die Natur
     und kennen die Umgebung nur
     von Ansichtskarten her.

     Sie sitzen in den Grandhotels
     und sprechen viel von Sport.
     Doch einmal treten sie, im Pelz,
     sogar vors Tor der Grandhotels --
     und fahren wieder fort!

     Gewisse Ehepaare

     Ob sie nun gehen, sitzen oder liegen,
     sie sind zu zweit.
     Man sprach sich aus. Man hat sich ausgeschwiegen.
     Es ist soweit.

     Das Haar wird dünner, und die Haut wird gelber,
     von Jahr zu Jahr.
     Man kennt den ändern besser als sich selber.
     Der Fall liegt klar.

     Man spricht durch Schweigen. Und man schweigt mit
     Worten.
     Der Mund läuft leer.
     Die Schweigsamkeit besteht aus neunzehn Sorten.
     (Wenn nicht aus mehr.)

     Vom Anblick ihrer Seelen und Krawatten
     wurden sie bös.
     Sie sind wie Grammophone mit drei Platten.
     Das macht nervös.

     Wie oft sah man einander beim Betrügen
     voll ins Gesicht!
     Man kann zur Not das eigne Herz belügen,
     das andre nicht.

     Sie lebten feig und wurden unansehnlich.
     Jetzt sind sie echt.
     Sie sind einander zum Erschrecken ähnlich.
     Und das mit Recht.

     Sie wurden stumpf wie Tiere hinterm Gitter.
     Sie flohen nie.
     Und manchmal steht vorm Käfige ein Dritter.
     Der ärgert sie.

     Nachts liegen sie gefangen in den Betten
     und stöhnen sacht,
     während ihr Traum aus Bett und Kissen Ketten
     und Särge macht.

     Sie mögen gehen, sitzen oder liegen,
     sie sind zu zweit.
     Man sprach sich aus. Man hat sich ausgeschwiegen.
     Nun ist es Zeit...

     In der Seitenstraße

     Hier ist es dunkel. Komm noch etwas näher.
     Hier ist es fast, als wäre man im Wald.
     Was soll man andres tun als Europäer?
     Die Stadt ist groß, und klein ist das Gehalt.

     Man liest manchmal in seltsamen Romanen
     von Inseln, wo fast keine Menschen sind.
     Dort gibt es Palmen statt der Straßenbahnen.
     Und kleine Affen schaukeln sich im Wind.

     Und an das Ufer spülen manchmal Fässer.
     Darin ist Cornedbeef und Pilsner Bier.
     Dort haben es die Liebespaare besser!
     Wir sind nicht dort, mein Kerlchen, sondern hier.

     Hier stört man uns, als täte man's zum Spaße.
     Die Städte schrein und platzen vor Betrieb.
     Da stehn wir nun in einer Seitenstraße
     und haben uns "nur zur Verrechnung" lieb.

     Es sieht fast aus, als wollten wir wen meucheln.
     Dabei ist unsere Absicht gar nicht bös.
     Ein bißchen küssen ... Und ein bißchen streicheln.
     Ach, wer sich liebt, den macht Berlin nervös.

     Was hilft das alles? Reizend war es heute.
     Vermutlich kriegst du wieder Krach zu Haus.
     Es ist, als wohnten hier gar keine Leute.
     Na ja, und ich muß morgen zeitig raus.

     Ich bringe dich noch bis zur Haltestelle.
     Gleich ist es Zeit. Gleich kommt dein Autobus.
     Hast du mich lieb? Gib mir noch einen Kuß.
     Und Mittwoch sehn wir uns. Auf alle Fälle.
     Nun aber Schluß!

     Kurzgefaßter Lebenslauf

     Wer nicht zur Welt kommt, hat nicht viel verloren.
     Er sitzt im All auf einem Baum und lacht.
     Ich wurde seinerzeit als Kind geboren,
     eh ich's gedacht.

     Die Schule, wo ich viel vergessen habe,
     bestritt seitdem den größten Teil der Zeit.
     Ich war ein patentierter Musterknabe.
     Wie kam das bloß? Es tut mir jetzt noch leid.

     Dann gab es Weltkrieg, statt der Großen Ferien.
     Ich trieb es mit der Fußartillerie.
     Dem Globus lief das Blut aus den Arterien.
     Ich lebte weiter. Fragen Sie nicht, wie.

     Bis dann die Inflation und Leipzig kamen.
     Mit Kant und Gotisch, Börse und Büro,
     mit Kunst und Politik und jungen Damen.
     Und sonntags regnete es sowieso.

     Nun bin ich beinah vierzig Jahre
     und habe eine kleine Versfabrik.
     Ach, an den Schläfen blühn schon graue Haare,
     und meine Freunde werden langsam dick.

     Ich setze mich sehr gerne zwischen Stühle.
     Ich säge an dem Ast, auf dem wir sitzen.
     Ich gehe durch die Gärten der Gefühle,
     die tot sind, und bepflanze sie mit Witzen.

     Auch ich muß meinen Rucksack selber tragen!
     Der Rucksack wächst. Der Rücken wird nicht breiter.
     Zusammenfassend läßt sich etwa sagen:
     Ich kam zur Welt und lebe trotzdem weiter.

     Kleine Stadt am Sonntagmorgen

     Das Wetter ist recht gut geraten.
     Der Kirchturm träumt vom lieben Gott.
     Die Stadt riecht ganz und gar nach Braten
     und auch ein bißchen nach Kompott.

     Am Sonntag darf man lange schlafen.
     Die Gassen sind so gut wie leer.
     Zwei alte Tanten, die sich trafen,
     bestreiten rüstig den Verkehr.

     Sie führen wieder mal die alten
     Gespräche, denn das hält gesund.
     Die Fenster gähnen sanft und halten
     sich die Gardinen vor dem Mund.

     Der neue Herr Provisor lauert
     auf sein gestärktes Oberhemd.
     Er flucht, weil es so lange dauert.
     Man merkt daran: Er ist hier fremd.

     Er will den Gottesdienst besuchen,
     denn das erheischt die Tradition.
     Die Stadt ist klein. Man soll nicht fluchen.
     Pauline bringt das Hemd ja schon!

     Die Stunden machen kleine Schritte
     und heben ihre Füße kaum.
     Die Langeweile macht Visite.
     Die Tanten flüstern über Dritte.
     Und drüben, auf des Marktes Mitte,
     schnarcht leise der Kastanienbaum.

     Exemplarische Herbstnacht

     Nachts sind die Straßen so leer.
     Nur ganz mitunter
     markiert ein Auto Verkehr.
     Ein Rudel bunter,
     raschelnder Blätter jagt hinterher.

     Die Blätter jagen und hetzen.
     Und doch weht kein Wind.
     Sie rascheln wie Fetzen und hetzen
     und folgen geheimen Gesetzen,
     obwohl sie gestorben sind.

     Nachts sind die Straßen so leer.
     Die Lampen brennen nicht mehr.
     Man geht und möchte nicht stören.
     Man könnte das Gras wachsen hören,
     wenn Gras auf den Straßen wär.

     Der Himmel ist kalt und weit.
     Auf der Milchstraße hat's geschneit.
     Man hört seine Schritte wandern,
     als wären es Schritte von ändern,
     und geht mit sich selbst zu zweit.

     Nachts sind die Straßen so leer.
     Die Menschen legten sich nieder.
     Nun schlafen sie, treu und bieder.
     Und morgen fallen sie wieder
     übereinander her.

     Die Heimkehr des verlorenen Sohnes

     Erst wollte er bis ans Mittelmeer.
     Er war schon auf halber Strecke
     und stieg im Schnee und in Innsbruck umher.
     Der Himmel war blau. Das gefiel ihm sehr.
     Und er staunte an jeder Ecke.

     Dann hatte er noch zehn Tage Zeit
     und wollte nach Nizza reisen.
     Er war vergnügt wie nicht gescheit
     und lachte und dachte: Die Welt ist zwar weit,
     doch ich werde ihr's schon beweisen.

     So kam der Tag, an dem er fuhr.
     Es war schon alles in Butter.
     Da blickte er plötzlich erstaunt auf die Uhr
     und pfiff auf Nizza und die Natur
     und reiste zu seiner Mutter.

     Die Fahrt erschien ihm wunderbar.
     Er winkte jedem Flüßchen.
     Es war schon über ein volles Jahr,
     daß er nicht mehr zu Hause war.
     Und da schämte er sich ein bißchen.

     Dann kam er an und stieg schnell aus,
     mit seinen Koffern und Taschen.
     Er kaufte Blumen und fuhr nach Haus
     und sagte versteckt hinterm Blumenstrauß:
     "Ich wollte dich überraschen."

     Jetzt saß er zwar nicht m Nizza und Cannes,
     doch er saß in Mutters Zimmer.
     Sie schwieg und lachte dann und wann
     und erzählte und brachte Kuchen an
     und betrachtete ihn immer ...

     Zehn ganze Tage blieb er hier!
     Bis zur allerletzten Minute.
     Dann fuhr er fort und winkte ihr.
     Sie stand verlassen am Bahnsteig 4
     und sagte gerührt: "Der Gute."

     Verzweiflung Nr. I

     Ein kleiner Junge lief durch die Straßen
     und hielt eine Mark in der heißen Hand.
     Es war schon spät, und die Kaufleute maßen
     mit Seitenblicken die Uhr an der Wand.

     Er hatte es eilig. Er hüpfte und summte:
     "Ein halbes Brot. Und ein Viertelpfund Speck."
     Das klang wie ein Lied. Bis es plötzlich verstummte.
     Er tat die Hand auf. Das Geld war weg.

     Da blieb er stehen und stand im Dunkeln.
     In den Ladenfenstern erlosch das Licht.
     Es sieht zwar gut aus, wenn die Sterne funkeln.
     Doch zum Suchen von Geld reicht das Funkeln nicht.

     Als wolle er immer stehenbleiben, stand er.
     Und war, wie noch nie, allein.
     Die Rolläden klapperten über die Scheiben.
     Und die Laternen nickten ein.

     Er öffnete immer wieder die Hände.
     Und drehte sie langsam hin und her.
     Dann war die Hoffnung endlich zu Ende.
     Er öffnete seine Fäuste nicht mehr...

     Der Vater wollte zu essen haben.
     Die Mutter hatte ein müdes Gesicht.
     Sie saßen und warteten auf den Knaben.
     Der stand im Hof. Sie wußten es nicht.

     Der Mutter wurde allmählich bange.
     Sie ging ihn suchen. Bis sie ihn fand.
     Er lehnte still an der Teppichstange
     und kehrte das kleine Gesicht zur Wand.

     Sie fragte erschrocken, wo er denn bliebe.
     Da brach er in lautes Weinen aus.
     Sein Schmerz war größer als ihre Liebe.
     Und beide traten traurig ins Haus.

     Höhere Töchter im Gespräch

     Die Eine sitzt. Die Andre liegt.
     Sie reden viel. Die Zeit verfliegt.
     Das scheint sie nicht zu stören.
     Die Eine liegt. Die Andre sitzt.
     Sie reden viel. Das Sofa schwitzt
     und muß viel Dummes hören.

     Sie sind sehr wirkungsvoll gebaut
     und haben ausgesuchte Haut.
     Was mag der Meter kosten?
     Sie sind an allen Ecken rund.
     Sie sind bemalt, damit der Mund
     und die Figur nicht rosten.

     Ihr Duft erinnert an Gebäck.
     Das Duften ist ihr Lebenszweck,
     vom Scheitel bis zur Zehe.
     Bis beide je ein Mann mit Geld
     in seine gute Stube stellt.
     Das nennt man dann: Die Ehe.

     Sie knabbern Pralines und Zeit;
     von ihren Männern, Hut und Kleid
     und keine Kinder kriegend.
     So leben sie im Grunde nur
     als 44er Figur,
     teils sitzend und teils liegend.

     Ihr Kopf ist hübsch und ziemlich hohl.
     Sie fühlen sich trotzdem sehr wohl.
     Was läßt sich daraus schließen?
     Man schaut sie sich zwar gerne an,
     doch ganz gefielen sie erst dann,
     wenn sie das Reden ließen.

     Ein Baum läßt grüßen

     Man reist von einer Stadt zur ändern Stadt.
     Vier Schinkenbrote hat man schon gegessen.
     Der Zug fährt gut. Die Fahrt geht glatt.
     Man rechnet aus, ob man Verspätung hat,
     und fühlt sich frei von höhern Interessen.

     Man blickt durchs Fenster. Gänzlich ohne Zweck.
     Man könnte ebenso die Augen schließen.
     Dann schielt man nach dem Handgepäck.
     Am Zug tanzt Schnee vorbei. Ein Dorf im Dreck.
     Und Rhomboide. Doch das sind sonst Wiesen.

     Man gähnt. Und ist zu faul, die Hand zu nehmen.
     Man überlegt schon, ob man müde ist...
     Die Dame rechts soll sich was schämen!
     Wenn ihre Hüften bloß nicht näher kämen!
     Wie schnell der Mensch das Müdesein vergißt.

     Man überlegt sich, ob man ihr entweiche.
     Sie lehnt sich an. Und tut, als war's im Traum.
     Da sieht man draußen plötzlich eine Eiche!
     Es kann auch Ahorn sein. Das ist das Gleiche.
     Denn eins steht fest: Es ist ein Baum!

     Und da entsinnt man sich. Und ist entsetzt:
     Seit zwanzig Jahren sah man keine Felder!
     Das heißt, man sah sie wohl. Doch nicht wie jetzt!
     Wann sah man denn ein Blumenbeet zuletzt?
     Und wann zum letzten Male Birkenwälder?

     Man hat vergessen, daß es Gärten gibt.
     Und kleine Vögel drin, die abends flöten.
     Und blaue Veilchen, die die Mutter liebt...
     Und während sich die Dame näherschiebt,
     greift man gefaßt zu weitren Schinkenbröten.

     Wiegenlied, väterlicherseits

     Schlaf ein, mein Kind! Schlaf ein, mein Kind!
     Man hält uns für Verwandte.
     Doch ob wir es auch wirklich sind?
     Ich weiß es nicht, schlaf ein, mein Kind!
     Mama ist bei der Tante ...

     Schlaf ein, mein Kind! Sei still! Schlaf ein!
     Man kann nichts Klügres machen.
     Ich bin so groß. Du bist so klein.
     Wer schlafen kann, darf glücklich sein.
     Wer schlafen darf, kann lachen.

     Nachts liegt man neben einer Frau,
     die sagt: Laß mich in Ruhe!
     Sie liebt mich nicht. Sie ist so schlau.
     Sie hext mir meine Haare grau.
     Wer weiß, was ich noch tue.

     Schlaf ein, mein Kind! Mein Kindchen, schlaf!
     Du hast nichts zu versäumen.
     Man träumt vielleicht, man war ein Graf.
     Man träumt vielleicht, die Frau war brav.
     Es ist so schön, zu träumen...

     Man schuftet, liebt und lebt und frißt
     und kann sich nicht erklären,
     wozu das alles nötig ist!
     Sie sagt, daß du mir ähnlich bist.
     Mag sich zum Teufel scheren!

     Der hat es gut, den man nicht weckt.
     Wer tot ist, schläft am längsten.
     Wer weiß, wo deine Mutter steckt!
     Sei ruhig. Hab ich dich erschreckt?
     Ich wollte dich nicht ängsten.

     Vergiß den Mond! Schlaf ein, mein Kind!
     Und laß die Sterne scheinen.
     Vergiß auch mich. Vergiß den Wind!
     Nun gute Nacht! Schlaf ein, mein Kind!
     Und, bitte, laß das Weinen ...!

     Kalenderspruch

     Vergiß in keinem Falle,
     auch dann nicht, wenn Vieles mißlingt:
     Die Gescheiten werden nicht alle!
     (So unwahrscheinlich das klingt.)

     Genesis der Niedertracht

     Eines merkt man stündlich und täglich:
     Kinder sind hübsch und offen und gut,
     aber Erwachsene sind unerträglich.
     Manchmal nimmt uns das allen Mut.

     Böse und häßliche alte Leute
     waren als Kinder fast tadellos.
     Nette und reizende Kinder von heute
     werden später kleinlich und groß.

     Wie ist das möglich? Was soll das heißen?
     Sind denn die Kinder auch nur echt,
     wenn sie den Fliegen die Flügel ausreißen?
     Sind denn auch schon die Kinder schlecht?

     Jeder Charakter ist durch Zwei teilbar,
     da Gut und Böse beisammen sind.
     Doch die Bosheit ist unheilbar,
     und die Güte stirbt als Kind.

     Lob des Einschlafens

     Man gähnt vergnügt und löscht die Lampe aus.
     Nur auf der Straße ist noch etwas Licht.
     Man legt sich nieder. Doch man schläft noch nicht.
     Der Herr von nebenan kommt erst nach Haus.
     Man hört, wie er mit einer Dame spricht.

     Nun klappt man seine Augendeckel zu,
     und vor den Augen tanzen tausend Ringe.
     Man denkt noch rasch an Geld und solche Dinge.
     Im Nebenzimmer knarrt ein kleiner Schuh.
     Wenn doch die Dame in Pantoffeln ginge!

     Man legt den Kopf auf lauter kühle Kissen
     und lächelt in den dunklen Raum hinein.
     Wie schön das ist: Am Abend müde sein
     und schlafen dürfen und von gar nichts wissen!
     Und alle Sorgen sind wie Zwerge klein.

     Der Herr von nebenan ist froh und munter.
     Es klingt, als ob er ohne Anlaß lacht.
     Man hebt die Lider schwer und senkt sie sacht,
     und schließt die Augen, - und die Welt geht unter!
     Dann sagt man sich persönlich Gute Nacht.

     Wenn bloß der Schwarze dieses Mal nicht käme!
     Er steigt ins Bett und macht sich darin breit
     und geht erst wieder, wenn man furchtbar schreit.
     Man wünscht sich Träume, aber angenehme,
     und für Gespenster hat man keine Zeit.

     Man war einmal ein Kind, ist das auch wahr?
     Und sagte mühelos: "Mein Herz ist rein."
     Das würde heute nicht mehr möglich sein.
     Es geht auch so, auf eigene Gefahr.
     Man zählt bis dreiundsiebzig. Und schläft ein.

     Vorstadtstraßen

     Mit solchen Straßen bin ich gut bekannt.
     Sie fangen an, als wären sie zu Ende.
     Trinkt Magermilch! steht groß an einer Wand,
     als ob sich das hier nicht von selbst verstände.

     Es riecht nach Fisch, Kartoffeln und Benzin.
     In diesen Straßen dürfte niemand wohnen.
     Ein Fenster schielt durch schräge Jalousien.
     Und welke Blumen blühn auf den Balkonen.

     Die Häuser bilden Tag und Nacht Spalier
     und haben keine weitern Interessen.
     Seit hundert Jahren warten sie nun hier.
     Auf wen sie warten, haben sie vergessen.

     Die Nacht fällt wie ein großes altes Tuch,
     von Licht durchlöchert, auf die grauen Mauern.
     Ein paar Laternen gehen zu Besuch.
     Und vor den Kellern sieht man Katzen kauern.

     Die Häuser sind so traurig und so krank,
     weil sie die Armut auf den Straßen trafen.
     Aus einem Hof dringt ganz von ferne Zank.
     Dann decken sich die Fenster zu und schlafen.

     So sieht die Welt in tausend Städten aus!
     Und keiner weiß, wohin die Straßen zielen.
     An jeder zweiten Ecke steht ein Haus,
     in dem sie Skat und Pianola spielen.

     Ein Mann mit Sorgen geigt aus dritter Hand.
     Ein Tisch fällt um. Die Wirtin holt den Besen.
     Trinkt Magermilch! steht groß an einer Wand.
     (Doch in der Nacht kann das ja niemand lesen.)

     Elegie, ohne große Worte

     Man kann sich selber manchmal gar nicht leiden
     und möchte sich vor Wut den Rücken drehn.
     Wer will, ob das berechtigt ist, entscheiden?
     Doch wer sich kennt, der wird mich schon verstehn.

     Wenn eine Straßenbahn vorüberfegte,
     kann es passieren, daß man sich höchst wundert,
     warum man sich nicht einfach drunterlegte ...
     Und solche Fälle gibt es über hundert.

     Man muß sich stets die gleichen Hände waschen!
     Und wer Charakter hat, ist schon beschränkt!
     Womit soll man sich denn noch überraschen?
     Man muß schon gähnen, wenn man an sich denkt.

     Man hängt sich meterlang zum Hals heraus.
     In Worte läßt sich sowas gar nicht kleiden.
     Man blickt sich an - und hält den Blick nicht aus!
     Und kann sich (siehe oben!) selbst nicht leiden.

     Wie gerne wäre man dann dies oder das!
     Ein Bild, ein Buch, im Wald ein Meilenstein,
     ein Buschwindröschen oder sonst etwas!
     Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein.

     Jedoch auch solche Tage gehn herum.
     Und man fährt fort, sich in die Brust zu werfen.
     Der Doktor nickt und sagt: Das sind die Nerven...
     Ja, wer zu klug wird, ist schon wieder dumm.

     Eine Mutter zieht Bilanz

     Mein Sohn schreibt mir so gut wie gar nicht mehr.
     Das heißt, zu Ostern hat er mir geschrieben.
     Er denke gern an mich zurück, schrieb er,
     und würde mich, wie stets, von Herzen lieben.

     Das letztemal, als wir uns beide sahn,
     das war genau vor zweidreiviertel Jahren.
     Ich stehe manchmal an der Eisenbahn,
     wenn Züge nach Berlin - dort wohnt er - fahren.

     Und einmal kaufte ich mir ein Billett
     und wäre beinah nach Berlin gekommen!
     Doch dann begab ich mich zum Schalterbrett.
     Dort hat man das Billett zurückgenommen.

     Seit einem Jahr, da hat er eine Braut.
     Das Bild von ihr will er schon lange schicken.
     Ob er mich kommen läßt, wenn man sie traut?
     Ich würde ihnen gern ein Kissen sticken.

     Man weiß nur nicht, ob ihr sowas gefällt...
     Ob sie ihn wohl, wie er's verdiente, liebt?
     Mir ist manchmal so einzeln auf der Welt.
     Ob es auch zärtlichere Söhne gibt?

     Wie war das schön, als wir zusammen waren!
     Im gleichen Haus... Und in der gleichen Stadt.
     Nachts lieg ich wach und hör die Züge fahren.
     Ob er noch immer seinen Husten hat?

     Ich hab von ihm noch ein Paar Kinderschuhe.
     Nun ist er groß und läßt mich so allein.
     Ich sitze still und habe keine Ruhe.
     Am besten war's, die Kinder blieben klein.

     Das Herz im Spiegel

     Der Arzt notierte eine Zahl.
     Er war ein gründlicher Mann.
     Dann sprach er streng: "Ich durchleuchte Sie mal",
     Und schleppte mich nebenan.

     Hier wurde ich zwischen kaltem Metall
     zum Foltern aufgestellt.
     Der Raum war finster wie ein Stall
     und außerhalb der Welt.

     Dann knisterte das Röntgenlicht.
     Der Leuchtschirm wurde hell.
     Und der Doktor sah mit ernstem Gesicht
     mir quer durchs Rippenfell.

     Der Leuchtschirm war seine Staffelei.
     Ich stand vor Ergriffenheit stramm.
     Er zeichnete eifrig und sagte, das sei
     mein Orthodiagramm.

     Dann brachte er ganz feierlich
     einen Spiegel und zeigte mir den
     und sprach: "In dem Spiegel können Sie sich
     Ihr Wurzelwerk ansehn."

     Ich sah, wobei er mir alles beschrieb,
     meine Anatomie bei Gebrauch.
     Ich sah mein Zwerchfell im Betrieb
     und die atmenden Rippen auch.

     Und zwischen den Rippen schlug sonderbar
     ein schattenhaftes Gewächs.
     Das war mein Herz! Es glich aufs Haar
     einem zuckenden Tintenklecks.

     Ich muß gestehn, ich war verstört.
     Ich stand zu Stein erstarrt.
     Das war mein Herz, das dir gehört,
     geliebte Hildegard?

     Laß uns vergessen, was geschah,
     und mich ins Kloster gehn.
     Wer nie sein Herz im Spiegel sah,
     der kann das nicht verstehn.

     Kind, das Vernünftigste wird sein,
     daß du mich rasch vergißt.
     Weil so ein Herz wie meines kein
     Geschenkartikel ist.

     Gefährliches Lokal

     Mir träumte neulich, daß mein Stammcafé
     auf einer Insel unter Palmen stünde.
     Persönlich kenne ich bloß Warnemünde.
     Doch Träume reisen gern nach Übersee.

     Ich saß am Fenster und versank in Schweigen.
     Wo sonst die Linie 56 hält,
     war eine Art von Urwald aufgestellt.
     Und Orang-Utans hingen in den Zweigen.

     Sie waren sicher noch nicht lange da.
     So leicht verändern sich die Metermaße!
     Bevor ich kam, war's noch die Prager Straße.
     Man setzt sich hin, schon ist es Sumatra.

     Erst wollte ich den Oberkellner fragen,
     dann dachte ich, es hätte keinen Zweck.
     Was soll ein Kellner, namens Urbanek,
     selbst wenn er wollte, weiter dazu sagen?

     Dann ging die Tür. Das war der Doktor Uhl.
     Und hinter ihm erschien ein schwarzer Panther.
     Der setzte sich, als sei er ein Bekannter,
     an meinem Tisch auf einen leeren Stuhl.

     Ich fragte ihn betreten, ob er rauche.
     Er sah mich an. Und sagte keinen Ton.
     Dann kam der Wirt in eigener Person
     und kitzelte den seltenen Gast am Bauche.

     Der Ober brachte Erbspüree mit Speck.
     Er hatte große Angst und ging auf Zehen.
     Der Panther ließ das gute Essen stehen
     und fraß den Kellner. Armer Urbanek!

     Von oben drang der Klang der Billardbälle.
     Der schwarze Panther war noch beim Diner.
     Ich saß bestürzt in meinem Stammcafé.
     Und sah nur Wald. Und keine Haltestelle.

     Weil man mich dann zum Telephone rief
     (ein Kunde wollte mich geschäftlich sprechen),
     war ich genötigt, plötzlich aufzubrechen.
     Als ich zurückkam, sah ich, daß ich schlief...

     Möblierte Melancholie

     Mancher Mann darf, wie er möchte, schlafen.
     Und er möchte selbstverständlich gern!
     Andre Menschen will der Himmel strafen,
     und er macht sie zu möblierten Herrn.

     Er verschickt sie zu verkniffnen Damen.
     In Logis. Und manchmal in Pension.
     Blöde Bilder wollen aus den Rahmen.
     Und die Möbel sagen keinen Ton.

     Selbst das Handtuch möchte sauber bleiben.
     Dreimal husten kostet eine Mark.
     Um die alten Schachteln zu beschreiben,
     ist kein noch so starkes Wort zu stark.

     Das Klavier, die Köpfe und die Stühle
     sind aus Überzeugung stets verstaubt.
     Und die Nutzanwendung der Gefühle
     ist den Aftermietern nicht erlaubt.

     Und sie nicken nur noch wie die Puppen;
     denn der Mund ist nach und nach vereist.
     Untermieter sind Besatzungstruppen
     in dem Reiche, das Familie heißt.

     Alles, was erlaubt ist, ist verboten.
     Wer die Liebe liebt, muß in den Wald.
     Oder macht, noch besser, einen Knoten
     in sein Maskulinum. Und zwar bald.

     Die möblierten Herrn aus allen Ländern
     stehen fremd und stumm in ihrem Zimmer.
     Nur die Ehe kann den Zustand ändern.
     (Doch die Ehe ist ja noch viel schlimmer.)

     Der geregelte Zeitgenosse

     Hei, wie er die Zukunft auswendig wußte!
     Er kannte die Höhe der Summe genau,
     die man den Kindern und seiner Frau
     nach seinem Tod auszahlen mußte.

     Er war berühmt als Vater und Gatte,
     der Leben und Sterben und Diebstahl und Brand
     versicherungsrechtlich geregelt hatte.
     Er hatte das Schicksal glatt in der Hand.

     Und wenn sich die Achse der Erde verböge:
     Er wußte, wieviel er am ersten Mai
     (vorausgesetzt, daß er am Leben sei)
     in zwanzig Jahren Gehalt bezöge.

     Gewohnheit umgab ihn mit hohen Mauern.
     Sie rückten immer näher heran.
     Und er begann, sich sehr zu bedauern.
     Nicht immer, aber dann und wann.

     Da half kein gesteigertes Innenleben.
     Er wußte, was sie morgen besprächen
     und was sie einander zur Antwort gäben
     und wann und wie sie sich unterbrächen.

     Das Lieben und Atmen und Zeitunglesen,
     das wurde alles zu einem Amt.
     Er war doch mal ein Mensch gewesen!
     Das war vorbei, und er dachte: Verdammt!

     Verschiedentlich faßte er Fluchtgedanken.
     Er dachte speziell an Amerika.
     Aber aus Angst, seine Frau könnte zanken,
     blieb er dann doch immer wieder da.

     Spruch in der Silvesternacht

     Man soll das Jahr nicht mit Programmen
     beladen wie ein krankes Pferd.
     Wenn man es allzu sehr beschwert,
     bricht es zu guter Letzt zusammen.

     Je üppiger die Pläne blühen,
     um so verzwickter wird die Tat.
     Man nimmt sich vor, sich zu bemühen,
     und schließlich hat man den Salat!

     Es nützt nicht viel, sich rotzuschämen.
     Es nützt nichts, und es schadet bloß,
     sich tausend Dinge vorzunehmen.
     Laßt das Programm! Und bessert euch drauflos!

     Das Genie

     Der Mensch, der in die Zukunft springt,
     der geht zugrunde.
     Und ob der Sprung mißglückt, ob er gelingt, -
     der Mensch, der springt,
     geht vor die Hunde.

     Im Auto über Land

     An besonders schönen Tagen
     ist der Himmel sozusagen
     wie aus blauem Porzellan.
     Und die Federwolken gleichen
     weißen, zart getuschten Zeichen,
     wie wir sie auf Schalen sahn.

     Alle Welt fühlt sich gehoben,
     blinzelt glücklich schräg nach oben
     und bewundert die Natur.
     Vater ruft, direkt verwegen:
     "'n Wetter, glatt zum Eierlegen!"
     (Na, er renommiert wohl nur.)

     Und er steuert ohne Fehler
     über Hügel und durch Täler.
     Tante Paula wird es schlecht.
     Doch die übrige Verwandtschaft
     blickt begeistert in die Landschaft.
     Und der Landschaft ist es recht.

     Um den Kopf weht eine Brise
     von besonnter Luft und Wiese,
     dividiert durch viel Benzin.
     Onkel Theobald berichtet,
     was er alles sieht und sichtet.
     Doch man sieht's auch ohne ihn.

     Den Gesang nach Kräften pflegend
     und sich rhythmisch fortbewegend
     strömt die Menschheit durchs Revier.
     Immer rascher jagt der Wagen.
     Und wir hören Vätern sagen:
     "Dauernd Wald, und nirgends Bier."

     Aber schließlich hilft sein Suchen.
     Er kriegt Bier. Wir kriegen Kuchen.
     Und das Auto ruht sich aus.
     Tante schimpft auf die Gehälter.
     Und allmählich wird es kälter.
     Und dann fahren wir nach Haus.

     Gedanken beim Überfahrenwerden

     Halt, mein Hut! Ist das das Ende?
     Groß ist so ein Autobus.
     Und wo hab ich meine Hände?
     Daß mir das passieren muß.

     Artur wohnt gleich in der Nähe.
     Und es regnet. Hin ist hin.
     Wenn mich Dorothee so sähe!
     Gut, daß ich alleine bin.

     Hab ich die Theaterkarten,
     als ich fortging, eingesteckt?
     Pasternak wird auf mich warten.
     Der Vertrag war fast perfekt.

     Ist der Schreibtisch fest verschlossen?
     Ohne mich macht Schwarz bankrott.
     Gestern noch auf stolzen Rossen.
     Morgen schon beim lieben Gott.

     Bitte, nicht nach Hause bringen!
     Dorothee erschrickt zu sehr.
     Wer wird den Mephisto singen?
     Na, ich hör ihn ja nicht mehr.

     Und ich hab natürlich meinen
     guten blauen Anzug an.
     Anfangs wird sie furchtbar weinen.
     Und dann kommt der nächste Mann.

     Weitergehen! Das Gewimmel
     hat doch wirklich keinen Sinn.
     Hoffentlich gibt's keinen Himmel.
     Denn da passe ich nicht hin.

     Das Begräbnis erster Klasse,
     mit Musik und echtem Sarg...
     Dodo, von der Sterbekasse
     kriegst du zirka tausend Mark.

     Andre würden gerne sterben.
     Noch dazu in voller Fahrt.
     Nur die Möbel wirst du erben.
     Wenn ich wenigstens gespart --

     Dann erschien ein Arzt in Eile.
     Doch es hatte keinen Zweck.
     Anstandshalber blieb er eine Weile.
     Und dann ging er wieder weg.

     Prima Wetter

     Wo sind die Tage, die so traurig waren
     und deren Traurigkeit uns so bezwang?
     Die Sonne scheint. Das Jahr ist sich im klaren.
     Es ist, um schreiend aus der Haut zu fahren
     und als Ballon den blauen Himmel lang!

     Die grünen Bäume sind ganz frisch gewaschen.
     Der Himmel ist aus riesenblauem Taft.
     Die Sonnenstrahlen spielen kichernd Haschen.
     Man sitzt und lächelt, zieht das Glück auf Flaschen
     und lebt mit sich in bester Nachbarschaft.

     Man könnte, denkt man, wenn man wollte, fliegen.
     Vom Stuhle fort. Mit Kuchen und Kaffee.
     Auf weißen Wolken wie auf Sofas liegen
     und sich gelegentlich vornüber biegen
     und denken: "Also das dort ist die Spree."

     Man könnte sich mit Blumen unterhalten
     und Wiesen streicheln wie sein Fräulein Braut.
     Man könnte sich in tausend Teile spalten
     und vor Begeisterung die Hände falten.
     Sie sind nur gar nicht mehr dafür gebaut.

     Man zieht sich voller Zweifel an den Haaren.
     Die Sonne scheint, als hätte es wieder Sinn.
     Wo sind die Tage, die so traurig waren?
     Es ist, um förmlich aus der Haut zu fahren.
     Die größte Schwierigkeit ist nur: Wohin?

     Direktor Körner ist unaufmerksam

     Manchmal,
     wenn ernste Männer beisammen stehn
     und auch du stehst mit dabei,
     möchtest du leise beiseite gehn.
     Wohin? Einerlei.

     Du möchtest nur rasch den Bart ablegen
     und die Falten von deiner Stirn
     und das große und kleine Gehirn
     und dich dann nicht mehr bewegen.

     Und es fehlte nur noch Mutters Schürze.
     Die war so weich und so hell.
     Die Kindheit litt an zu großer Kürze.
     Es ging zu schnell.

     Und während du in dich verloren scheinst,
     stehen noch immer die Männer herum.
     Sie reden und reden, nur du bist stumm.
     Und sie fragen, was du dazu meinst.

     "Zu kurz!" sagst du, und du sagst das so,
     weil dir die Kindheit zu kurz erschien.
     Sie aber meinen den Zahlungstermin
     für Schimmel & Co.

     Da ruft der eine, er steht breitbeinig
     und stemmt seinen Bauch:
     "Da wären wir ja handelseinig,
     Körner meint's auch!"

     Er hat, was du gesprochen hast,
     nicht kapiert, doch auch das hat sein Gutes.
     Hauptsache, daß es trotzdem paßt.
     Und das tut es.

     Junggesellen sind auf Reisen

     Ich bin mit meiner Mutter auf der Reise...
     Wir fuhren über Frankfurt, Basel, Bern
     zum Genfer See. Und dann ein Stück im Kreise.
     Die Mutter schimpfte manchmal auf die Preise.
     Jetzt sind wir in Luzern.

     Die Schweiz ist schön. Man muß sich dran gewöhnen.
     Man fährt auf Berge. Und man fährt auf Seen.
     Und manchmal schmerzt der Leib von all dem Schönen.
     Man trifft es oft, daß Mütter mit den Söhnen
     auf Reisen gehn.

     Das ist ein Glück: mit seiner Mutter fahren!
     Weil Mütter doch die besten Frauen sind.
     Sie reisten mit uns, als wir Knaben waren,
     und reisen nun mit uns, nach vielen Jahren,
     als wären sie das Kind.

     Sie lassen sich die höchsten Gipfel zeigen.
     Die Welt ist wieder wie ein Bilderbuch.
     Sie können, wenn ein See ganz blau wird, schweigen
     und haben stets, wenn sie in Züge steigen,
     Angst um das Umschlagtuch.

     Erst ist man sich noch etwas fremd. Wie immer,
     seit man fern voneinander leben muß.
     Jetzt schläft man, wie dereinst, im selben Zimmer.
     Und sagt: "Schlaf wohl!" Und löscht den
     Lampenschimmer.
     Und gibt sich einen Kuß.

     Doch eh man's lernt, ist es zu Ende!
     Wir bringen unsre Mütter bis nach Haus.
     Frau Haubold sagt, daß sie das reizend fände.
     Dann schütteln wir den Müttern kurz die Hände
     und fahren wieder in die Welt hinaus.

     Ganz vergebliches Gelächter

     Eines Tages fällt ihm plötzlich auf,
     daß er schon seit langem nicht mehr lachte.
     Und nun prüft er seinen Lebenslauf,
     was er denn inzwischen machte.

     Manchmal, weiß er noch, war alles Sünde,
     manchmal hat er wie ein Vieh geflucht.
     Manchmal suchte er für alles Gründe,
     wie man Kragenknöpfe sucht.

     Doch nun will er lustig sein und lachen!
     Früher hat er das ganz gut gebracht.
     Und er wird es jetzt wie früher machen,
     und er stellt sich hin - und lacht.

     Ach, es ist ein schreckliches Gelächter!
     Er erschrickt und wird schnell wieder stumm.
     Warum, fragt er sich, klang es nicht echter?
     Und er weiß es nicht, warum.

     Und er geht dorthin, wo viele sitzen,
     weil er hofft, er würde dann wie sie.
     Und sie freuen sich an tausend Witzen --
     nur er selber lächelt nie.

     Er beschließt, sich einmal zu vergeuden.
     Doch da spürt er, angesichts der Stadt,
     daß er mit der Freude und den Freuden
     so etwas wie Mitleid hat.

     Dieser falsche Hochmut drückt ihn nieder,
     und er sagt zu seiner Seele: Prost!
     Nicht mehr froh zu sein und noch nicht wieder,
     dafür weiß er keinen Trost.

     Schließlich springt er auf den Autobus
     und fährt blindlings in die späte Nacht.
     Und er ahnt, daß er noch warten muß,
     bis er ganz von selber wieder lacht.

     Trottoircafé bei Nacht

     Hinter sieben Palmenbesen,
     die der Wirt im Ausverkauf erstand,
     sitzt man und kann seine Zeitung lesen,
     und die Kellner lehnen an der Wand.

     An den Garderobenständern
     schaukeln Hüte, und der Abendwind
     möchte sie in Obst verändern.
     Aber Hüte bleiben, was sie sind.

     Sterne machen Lichtreklame.
     Leider weiß man nicht genau für wen.
     Und die Nacht ist keine feine Dame,
     sondern läßt uns ihr Gewölbe sehn.

     In der renommierten Küche
     brät der dicke Koch Filet und Fisch.
     Und er liefert sämtliche Gerüche
     seiner Küche gratis an den Tisch.

     Wenn man jetzt in einer Wiese läge,
     und ein Reh trat aus dem Wald,
     seine erste Frage wäre diese:
     "Kästner, pst! Wie hoch ist Ihr Gehalt?"

     Also bleibt man traurig hocken
     und hält Palmen quasi für Natur.
     Fliegen setzen sich auf süße Brocken.
     Und der Mond ist nur die Rathausuhr.

     Sieben Palmen wedeln mit den Fächern,
     denn auch ihnen wird es langsam heiß.
     Und die Nacht sitzt dampfend auf den Dächern.
     Und ein Gast bestellt Vanille-Eis.

     Selbstmörder halten Asternbuketts

     Wie oft man in der Zeitung liest,
     daß der und der - weil er Geld unterschlug,
     zur Flucht zu wenig, fürs Zuchthaus genug --
     sich am Grabe der Mutter erschießt.

     Die Selbstmörder sitzen am Elterngrab,
     auf der kleinen, grünen Bank,
     verstehen nicht mehr, wie sich alles begab,
     und fühlen sich alt und krank.

     Sie sagten, ehe sie gingen, zu Haus
     (als jemand sie fragte, warum),
     sie brächten nur rasch ein paar Blumen hinaus,
     und nicht: sie brächten sich um.

     Die Selbstmörder halten ein Asternbukett
     und lesen den Text auf dem Stein:
     "Hier ruht unsre gute Mutter, Frau Z.",
     und denken, sie wird es verzeihn.

     Am anderen Ende der Ahornallee
     ist ein Begräbnis im Gang.
     Sie sehen Zylinder und fremdes Weh
     und hören Männergesang.

     Die Selbstmörder lächeln die Mutter an,
     die unter dem Rasen ruht.
     Daß ein toter Mensch nicht mehr sehen kann,
     finden die Selbstmörder gut.

     Das Wetter ist mäßig. Der Himmel ist grau.
     Sie haben vom Leben genug.
     Sie beichten alles der toten Frau,
     und das ist ein schöner Zug.

     Sie haben Pistolen zu sich gesteckt,
     weil sehr viel Schande droht.
     Und ehe man noch ihre Schuld entdeckt,
     schießen sie sich tot...

     Wie oft man in der Zeitung liest,
     daß der und der -- weil er Geld unterschlug
     und seine Angst nicht länger ertrug --
     sich am Grabe der Mutter erschießt.

     Nächtliches Rezept für Städter

     Man nehme irgendeinen Autobus.
     Es kann nicht schaden, einmal umzusteigen.
     Wohin, ist gleich. Das wird sich dann schon zeigen.
     Doch man beachte, daß es Nacht sein muß.

     In einer Gegend, die man niemals sah
     (das ist entscheidend für dergleichen Fälle),
     verlasse man den Autobus und stelle
     sich in die Finsternis und warte da.

     Man nehme allem, was zu sehn ist, Maß.
     Den Toren, Giebeln, Bäumen und Balkonen,
     den Häusern und den Menschen, die drin wohnen.
     Und glaube nicht, man täte es zum Spaß.

     Dann gehe man durch Straßen. Kreuz und quer.
     Und folge keinem vorgefaßten Ziele.
     Es gibt so viele Straßen, ach so viele!
     Und hinter jeder Biegung sind es mehr.

     Man nehme sich bei dem Spaziergang Zeit.
     Er dient gewissermaßen höhern Zwecken.
     Er soll das, was vergessen wurde, wecken.
     Nach zirka einer Stunde ist's soweit.

     Dann wird es sein, als liefe man ein Jahr
     durch diese Straßen, die kein Ende nehmen.
     Und man beginnt, sich seiner selbst zu schämen
     und seines Herzens, das verfettet war.

     Nun weiß man wieder, was man wissen muß,
     statt daß man in Zufriedenheit erblindet:
     daß man sich in der Minderheit befindet!
     Dann nehme man den letzten Autobus,
     bevor er in der Dunkelheit verschwindet...

     Eine Frau spricht im Schlaf

     Als er mitten in der Nacht erwachte,
     schlug sein Herz, daß er davor erschrak.
     Denn die Frau, die neben ihm lag, lachte,
     daß es klang, als sei der Jüngste Tag.

     Und er hörte ihre Stimme klagen.
     Und er fühlte, daß sie trotzdem schlief.
     Weil sie beide blind im Dunkeln lagen,
     sah er nur die Worte, die sie rief.

     "Warum tötest du mich denn nicht schneller?"
     fragte sie und weinte wie ein Kind.
     Und ihr Weinen drang aus jenem Keller,
     wo die Träume eingemauert sind.

     "Wieviel Jahre willst du mich noch hassen?"
     rief sie aus und lag unheimlich still.
     "Willst du mich nicht weiterleben lassen,
     weil ich ohne dich nicht leben will?"

     Ihre Fragen standen wie Gespenster,
     die sich vor sich selber fürchten, da.
     Und die Nacht war schwarz und ohne Fenster.
     Und schien nicht zu wissen, was geschah.

     Ihm (dem Mann im Bett) war nicht zum Lachen.
     Träume sollen wahrheitsliebend sein...
     Doch er sagte sich: "Was soll man machen!"
     und beschloß, nachts nicht mehr aufzuwachen.
     Daraufhin schlief er getröstet ein.

     Lessing

     Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung,
     doch um zu dichten schrieb er nie.
     Es gab kein Ziel. Er fand die Richtung.
     Er war ein Mann und kein Genie.

     Er lebte in der Zeit der Zöpfe,
     und er trug selber seinen Zopf.
     Doch kamen seitdem viele Köpfe
     und niemals wieder so ein Kopf.

     Er war ein Mann, wie keiner wieder,
     obwohl er keinen Säbel schwang.
     Er schlug den Feind mit Worten nieder,
     und keinen gab's, den er nicht zwang.

     Er stand allein und kämpfte ehrlich
     und schlug der Zeit die Fenster ein.
     Nichts auf der Welt macht so gefährlich,
     als tapfer und allein zu sein!

     Mißtrauensvotum

     Ihr sagt, ihr könntet in uns lesen.
     Und nickt dazu. Und macht euch klein.
     Ihr sagt, auch ihr wärt jung gewesen.
     Es kann ja sein.

     Ihr tragt Konfetti in den Bärten
     und sagt, wir wären nicht allein.
     Und fänden in euch Weggefährten.
     Es kann ja sein.

     Ihr hüpft wie Lämmer durch die Auen
     und tanzt mit Kindern Ringelreihn.
     Ihr sagt, wir dürften euch vertrauen.
     Es kann ja sein.

     Ihr mögt uns lieben oder hassen,
     ihr treibt dergleichen nur aus Pflicht.
     Wir sollen uns auf euch verlassen?
     Ach, lieber nicht!

     Herbst auf der ganzen Linie

     Nun gibt der Herbst dem Wind die Sporen.
     Die bunten Laubgardinen wehn.
     Die Straßen ähneln Korridoren,
     in denen Türen offenstehn.

     Das Jahr vergeht in Monatsraten.
     Es ist schon wieder fast vorbei.
     Und was man tut, sind selten Taten.
     Das, was man tut, ist Tuerei.

     Es ist, als ob die Sonne scheine.
     Sie läßt uns kalt. Sie scheint zum Schein.
     Man nimmt den Magen an die Leine.
     Er knurrt. Er will gefüttert sein.

     Das Laub verschießt, wird immer gelber,
     nimmt Abschied vom Geäst und sinkt.
     Die Erde dreht sich um sich selber.
     Man merkt es deutlich, wenn man trinkt.

     Wird man denn wirklich nur geboren,
     um wie die Jahre zu vergehn?
     Die Straßen ähneln Korridoren,
     in denen Türen offenstehn.

     Die Stunden machen ihre Runde.
     Wir folgen ihnen Schritt für Schritt.
     Und gehen langsam vor die Hunde.
     Man führt uns hin. Wir laufen mit.

     Man grüßt die Welt mit kalten Mienen.
     Das Lächeln ist nicht ernst gemeint.
     Es wehen bunte Laubgardinen.
     Nun regnet's gar. Der Himmel weint.

     Man ist allein und wird es bleiben.
     Ruth ist verreist, und der Verkehr
     beschränkt sich bloß aufs Briefeschreiben.
     Die Liebe ist schon lange her!

     Das Spiel ist ganz und gar verloren.
     Und dennoch wird es weitergehn.
     Die Straßen ähneln Korridoren,
     in denen Türen offenstehn.

     Ein Pessimist, knapp ausgedrückt

     Ein Pessimist ist, knapp ausgedrückt, ein Mann,
     dem nichts recht ist.
     Und insofern ist er verdrießlich.
     Obwohl er sich, andrerseits, schließlich
     (und wenn überhaupt) nur freuen kann,
     gerade weil alles schlecht ist!

     Einer von ihnen hat mir erklärt, wie das sei
     und was ihn am meisten freute:
     "Im schlimmsten Moment, der Geburt, sind die Leute
     (hat er gesagt) schon dabei.
     Doch gerade das schönste Erlebnis
     erleben sie nie: ihr Begräbnis!"

     Abschied in der Vorstadt

     Wenn man fröstelnd unter der Laterne steht,
     wo man tausend Male mit ihr stand...
     Wenn sie ängstlich wie ein Kind ins Dunkel geht,
     winkt man lautlos mit der Hand.

     Denn man weiß: man winkt das letzte Mal.
     Und an ihrem Gange sieht man, daß sie weint.
     War die Straße stets so grau und stets so kahl?
     Ach, es fehlt bloß, daß der Vollmond scheint.

     Plötzlich denkt man an das Abendbrot
     und empfindet dies als gänzlich deplaciert.
     Ihre Mutter hat zwei Jahre lang gedroht.
     Heute folgt sie nun. Und geht nach Haus. Und friert.

     Lust und Trost und Lächeln trägt sie fort.
     Und man will sie rufen! Und bleibt stumm.
     Und sie geht und wartet auf ein Wort!
     Und sie geht und dreht sich nie mehr um.

     Atmosphärische Konflikte

     Die Bäume schielen nach dem Wetter.
     Sie prüfen es. Dann murmeln sie:
     "Man weiß in diesem Jahre nie,
     ob nun raus mit die Blätter
     oder rin mit die Blätter
     oder wie?"

     Aus Wärme wurde wieder Kühle.
     Die Oberkellner werden blaß
     und fragen ohne Unterlaß:
     "Also, raus mit die Stühle
     oder rin mit die Stühle
     oder was?"

     Die Pärchen meiden nachts das Licht.
     Sie hocken Probe auf den Bänken
     in den Alleen, wobei sie denken:
     "Raus mit die Gefühle
     oder rin mit die Gefühle
     oder nicht?"

     Der Lenz geht diesmal auf die Nerven
     und gar nicht, wie es heißt, ins Blut.
     Wer liefert Sonne in Konserven?
     Na, günstigen Falles
     wird doch noch alles
     gut.

     Es ist schon warm. Wird es so bleiben?
     Die Knospen springen im Galopp.
     Und auch das Herz will Blüten treiben.
     Drum, raus mit die Stühle
     und rin mit die Gefühle,
     als ob!

     Der Kümmerer

     Der Kümmerer ist zwar ein Mann,
     doch seine Männlichkeit hält sich in Grenzen.
     Er nimmt sich zwar der Frauen an,
     doch andre Männer ziehn die Konsequenzen.

     Der Kümmerer ist ein Subjekt,
     das Frauen, wenn es sein muß, zwar bedichtet,
     hingegen auf den Endeffekt
     von vornherein und überhaupt verzichtet.

     Er dient den Frauen ohne Lohn.
     Er liebt die Frau en gros, er liebt summarisch,
     Er liebt die Liebe mehr als die Person.
     Er hebt, mit einem Worte, vegetarisch!

     Er wiehert nicht. Er wird nicht wild.
     Er hilft beim Einkauf, denn er ist ein Kenner.
     Sein Blick macht aus der Frau ein Bild.
     Die andren Blicke werfen andre Männer.

     Die Kümmerer sind nicht ganz neu.
     Auch von von Goethe wird uns das bekräftigt.
     Sein Clärchen war dem Egmont treu,
     doch der war meist mit Heldentum beschäftigt.

     So kam Herr Brackenburg ins Haus,
     vertrieb die Zeit und half beim Wäschelegen.
     Am Abend warf sie ihn hinaus.
     Wer Goethes Werke kennt, der weiß weswegen.

     Die Kümmerer sind sehr begehrt,
     weil sie bescheiden sind und nichts begehren.
     Sie wollen keinen Gegenwert.
     Sie wollen nichts als da sein und verehren.

     Sie heben euch auf einen Sockel,
     der euch zum Denkmal macht und förmlich weiht.
     Dann blicken sie durch ihr Monokel
     und wundern sich, daß ihr unnahbar seid.

     Dann knien sie hin und beten an.
     Ihr gähnt und haltet euch mit Mühe munter.
     Zum Glück kommt dann und wann ein Mann
     und holt euch von dem Sockel runter!

     Klassenzusammenkunft

     Sie trafen sich, wie ehemals,
     im ersten Stock des Kneiplokals.
     Und waren zehn Jahr älter.
     Sie tranken Bier. (Und machten Hupp!)
     Und wirkten wie ein Kegelklub.
     Und nannten die Gehälter.

     Sie saßen da, die Beine breit,
     und sprachen von der Jugendzeit
     wie Wilde vom Theater.
     Sie hatten, wo man hinsah, Bauch.
     Und Ehefrau'n hatten sie auch.
     Und fünfe waren Vater.

     Sie tranken rüstig Glas auf Glas
     und hatten Köpfe bloß aus Spaß
     und nur zum Hütetragen.
     Sie waren laut und waren wohl
     aus einem Guß, doch innen hohl,
     und hatten nichts zu sagen.

     Sie lobten schließlich haargenau
     die Körperformen ihrer Frau,
     den Busen und dergleichen.
     Erst dreißig Jahr, und schon zu spät!
     Sie saßen breit und aufgebläht
     wie nicht ganz tote Leichen.

     Da, gegen Schluß, erhob sich wer
     und sagte kurzerhand, daß er
     genug von ihnen hätte.
     Er wünsche ihnen sehr viel Bart
     und hundert Kinder ihrer Art
     und gehe jetzt zu Bette. -

     Den andern war es nicht ganz klar,
     warum der Kerl gegangen war.
     Sie strichen seinen Namen.
     Und machten einen Ausflug aus.
     Für Sonntag früh. Ins Jägerhaus.
     Doch dieses Mal mit Damen.

     Stiller Besuch

     Jüngst war seine Mutter zu Besuch.
     Doch sie konnte nur zwei Tage bleiben.
     Und sie müsse Ansichtskarten schreiben.
     Und er las in einem dicken Buch.

     Freilich war er nicht sehr aufmerksam.
     Er betrachtete die Autobusse
     und die goldnen Pavillons am Flusse
     und den Dampfer, der vorüberschwamm.

     Seine Mutter hielt den Kopf gesenkt.
     Und sie schrieb gerade an den Vater:
     "Heute abend gehn wir ins Theater.
     Erich kriegte zwei Billetts geschenkt."

     Und er tat, als ob er fleißig las.
     Doch er sah die Nähe und die Ferne,
     sah den Himmel und zehntausend Sterne
     und die alte Frau, die drunter saß.

     Einsam saß sie neben ihrem Sohn.
     Leise lächelnd. Ohne es zu wissen.
     Stadt und Sterne wirkten wie Kulissen.
     Und der Wirtshausstuhl war wie ein Thron.

     Ihn ergriff das Bild. Er blickte fort.
     Wenn sie mir schreibt, mußte er noch denken,
     wird sie ihren Kopf genau so senken.
     Und dann las er. Und verstand kein Wort.

     Seine Mutter saß am Tisch und schrieb.
     Ernsthaft rückte sie an ihrer Brille,
     und die Feder kratzte in der Stille.
     Und er dachte: Gott, hab ich sie lieb!

     Rezitation bei Regenwetter

     Der Regen regnet sich nicht satt.
     Es regnet hoffnungslosen Zwirn.
     Wer jetzt 'ne dünne Schädeldecke hat,
     dem regnet's ins Gehirn.

     Im Rachen juckt's. Im Rücken zerrt's.
     Es blöken die Bakterienherden.
     Der Regen reicht allmählich bis ans Herz.
     Was soll bloß daraus werden?

     Der Regen bohrt sich durch die Haut.
     Und dieser Trübsinn, der uns beugt,
     wird, wie so Manches, subkutan erzeugt.
     Wir sind porös gebaut.

     Seit Wochen rollen Wolkenfässer
     von Horizont zu Horizont.
     Der Neubau drüben mit der braunen Front
     wird von dem Regen täglich blässer.
     Nun ist er blond.

     Die Sonne wurde eingemottet.
     Es ist, als lebte sie nicht mehr.
     Ach, die Alleen, durch die man traurig trottet,
     sind kalt und leer.

     Man kriecht ins Bett. Das ist gescheiter,
     als daß man klein im Regen steht.
     Das geht auf keinen Fall so weiter,
     wenn das so weiter geht.

     Kleine Sonntagspredigt

     Jeden Sonntag hat man Kummer
     und beträchtlichen Verdruß,
     weil man an die Montagsnummer
     seiner Zeitung denken muß.

     Denn am Sonntag sind bestimmt
     zwanzig Morde losgewesen!
     Wer sich Zeit zum Lesen nimmt,
     muß das montags alles lesen.

     Eifersucht und Niedertracht
     schweigen fast die ganze Woche.
     Aber Sonntag früh bis nacht
     machen sie direkt Epoche.

     Sonst hat niemand Zeit dazu,
     sich mit sowas zu befassen.
     Aber sonntags hat man Ruh,
     und man kann sich gehenlassen.

     Endlich hat man einmal Zeit,
     geht spazieren, steht herum,
     sucht mit seiner Gattin Streit
     und bringt sie und alle um.

     Gibt es wirklich nichts Gescheitres,
     als sich, gleich gemeinen Mördern,
     mit den Seinen ohne weitres
     in das Garnichts zu befördern?

     Ach, die meisten Menschen sind
     nicht geeignet, nichts zu machen!
     Langeweile macht sie blind.
     Dann passieren solche Sachen.

     Lebten sie im Paradiese,
     ohne Pflicht und Ziel und Not,
     wär die erste Folge diese:
     alle schlügen alle tot.

     Die Fabel von Schnabels Gabel

     Kannten Sie Christian Leberecht Schnabel?
     Ich habe ihn gekannt.
     Vor seiner Zeit gab es die vierzinkige,
     die dreizinkige
     und auch schon die zweizinkige Gabel.
     Doch jener Christian Leberecht Schnabel,
     das war der Mann,
     der in schlaflosen Nächten die einzinkige Gabel
     entdeckte, bzw. erfand.

     Das Einfachste ist immer das Schwerste.
     Die einzinkige Gabel
     lag seit Jahrhunderten auf der Hand.
     Aber Christian Leberecht Schnabel
     war eben der Erste,
     der die einzinkige Gabel erfand!

     Die Menschen sind wie die Kinder.
     Christian Leberecht Schnabel
     teilte mit seiner Gabel
     das Schicksal aller Entdecker, bzw. Erfinder.

     Einzinkige Gabeln,
     wurde Schnäbeln
     erklärt,
     seien nichts wert.

     Sie entbehrten als Teil des Bestecks
     jeden praktischen Zwecks,
     und man könne, sagte man Schnäbeln,
     mit seiner Gabel nicht gabeln.

     Die Menschen glaubten tatsächlich, daß Schnabel
     etwas Konkretes bezweckte,
     als er die einzinkige Gabel
     erfand, bzw. entdeckte!
     Ha!

     Ihm ging es um nichts Reelles.
     (Und deshalb ging es ihm schlecht.)
     Ihm ging es um Prinzipielles!
     Und insofern hatte Schnabel
     mit der von ihm erfundenen Gabel
     natürlich recht.

     Modernes Märchen

     Sie waren so sehr ineinander verliebt,
     wie es das nur noch in Büchern gibt.
     Sie hatte kein Geld. Und er hatte keins.
     Da machten sie Hochzeit und lachten sich eins.

     Er war ohne Amt. So blieben sie arm.
     Und speisten zweimal in der Woche warm.
     Er nannte sie trotzdem: "Mein Schmetterling."
     Sie schenkte ihm Kinder, so oft es nur ging.

     Sie wohnten möbliert und waren nie krank.
     Die Kinder schliefen im Kleiderschrank.
     Zu Weihnachten malten sie kurzerhand
     Geschenke mit Buntstiften an die Wand.

     Und aßen Brot, als wär's Konfekt,
     und spielten: Wie Gänsebraten schmeckt.
     Dergleichen stärkt wohl die Phantasie.
     Drum wurde der Mann, blitzblatz! ein Genie.

     Schrieb schöne Romane. Verdiente viel Geld
     und wurde der reichste Mann auf der Welt.
     Erst waren sie stolz. Doch dann tat's ihnen leid,
     denn der Reichtum schadet der Heiterkeit.

     Sie schenkten das Geld einem Waisenkind.
     Und wenn sie nicht gestorben sind...

     Die Großeltern haben Besuch

     Für seine Kinder hat man keine Zeit.
     (Man darf erst sitzen, wenn man nicht mehr gehn kann.)
     Erst bei den Enkeln ist man dann soweit,
     daß man die Kinder ungefähr verstehn kann.

     Spielt hübsch mit Sand und backt auch Sandgebäck!
     Ihr seid so fern und trotzdem in der Nähe,
     als ob man über einen Abgrund weg
     in einen fremden bunten Garten sähe.

     Spielt brav mit Sand und baut euch Illusionen!
     Ihr und wir Alten wissen ja Bescheid:
     Man darf sie bauen, aber nicht drin wohnen.
     Ach, bleibt so klug, wenn ihr erwachsen seid!

     Wir möchten euch auch später noch beschützen.
     Denn da ist vieles, was euch dann bedroht.
     Doch unser Wunsch wird uns und euch nichts nützen.
     Wenn ihr erwachsen seid, dann sind wir tot.

     Ein Kubikkilometer genügt

     Ein Mathematiker hat behauptet,
     daß es allmählich an der Zeit sei,
     eine stabile Kiste zu bauen,
     die tausend Meter lang, hoch und breit sei.

     In diesem einen Kubikkilometer
     hätten, schrieb er im wichtigsten Satz,
     sämtliche heute lebenden Menschen
     (das sind zirka zwei Milliarden) Platz!

     Man könnte also die ganze Menschheit
     in eine Kiste steigen heißen
     und diese, vielleicht in den Kordilleren,
     in einen der tiefsten Abgründe schmeißen.

     Da lägen wir dann, fast unbemerkbar,
     als würfelförmiges Paket.
     Und Gras könnte über die Menschheit wachsen.
     Und Sand würde daraufgeweht.

     Kreischend zögen die Geier Kreise.
     Die riesigen Städte stünden leer.
     Die Menschheit läge in den Kordilleren.
     Das wüßte dann aber keiner mehr.


     1936




Last-modified: Sat, 08 Feb 2003 06:58:14 GMT
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