nge im Zimmer Kontur anzunehmen begannen, warf er
keinen Blick mehr auf ihr Bett, um sie wenigstens ein einziges Mal in seinem
Leben mit Augen zu sehen. Ihre Gestalt interessierte ihn nicht. Sie war fur
ihn als Kurper gar nicht mehr vorhanden, nur noch als kurperloser Duft. Und
diesen trug er unterm Arm und nahm ihn mit sich.
Leise schwang er sich auf die Brustung des Fensters und stieg die
Leiter hinab. Draußen war wieder Wind aufgekommen, und der Himmel
klarte auf und goss ein kaltes dunkelblaues Licht uber das Land.
Eine halbe Stunde sputer schlug die Magd in der Kuche Feuer. Als sie
vor das Haus trat, um Holz zu holen, sah sie die angelehnte Leiter, war aber
noch zu verschlafen, sich irgendeinen Reim darauf zu machen. Kurz nach sechs
ging die Sonne auf. Riesig und goldrot hob sie sich zwischen den beiden
Lerinischen Inseln aus dem Meer. Keine Wolke war am Himmel. Ein strahlender
Fruhlingstag begann.
Richis, dessen Zimmer nach Westen lag, erwachte um sieben. Er hatte zum
ersten Mal seit Monaten wirklich pruchtig geschlafen und blieb entgegen
seiner Gewohnheit noch eine Viertelstunde lang liegen, rukelte sich und
seufzte vor Vergnugen und lauschte dem angenehmen Rumoren, das aus der Kuche
heraufdrang. Als er dann aufstand und das Fenster weit uffnete und
draußen das schune Wetter gewahrte und die frische wurzige Morgenluft
einsog und die Brandung des Meeres hurte, da kannte seine gute Laune keine
Grenzen mehr, und er spitzte die Lippen und pfiff eine muntere Melodie.
Wuhrend er sich ankleidete, pfiff er weiter und pfiff immer noch, als
er sein Zimmer verließ und mit beschwingtem Schritt uber den Gang an
die Kammerture seiner Tochter trat. Er pochte. Und pochte wieder, ganz
leise, um sie nicht aufzuschrecken. Es kam keine Antwort. Er luchelte. Er
verstand gut, dass sie noch schlief.
Vorsichtig schob er den Schlussel ins Loch und drehte den Riegel,
leise, ganz leise, bedacht, sie nicht zu wecken, begierig fast, sie noch im
Schlaf vorzufinden, aus dem er sie wachkussen wollte, noch einmal, zum
letzten Mal, ehe er sie einem undern Mann geben musste.
Die Ture sprang auf, er trat ein, und das Sonnenlicht fiel ihm voll ins
Gesicht. Die Kammer war wie von gleißendem Silber gefullt, alles
strahlte, und er musste vor Schmerz fur einen Moment die Augen
schließen.
Als er sie wieder uffnete, sah er Laure auf dem Bett liegen, nackt und
tot und kahlrasiert und blendend weiß. Es war wie in dem Alptraum, den
er vorvergangene Nacht in Grasse gehabt und wieder vergessen hatte, und
dessen Inhalt ihm jetzt wie ein Blitzschlag ins Geduchtnisuhr. Alles war mit
einem Mal haargenau wie in jenem Traum, nur sehr viel heller.
47
Die Nachricht vom Mord an Laure Richis verbreitete sich so schnell im
Grasser Land, als hutte es geheißen "Der Kunig ist tot!" oder "Es gibt
Krieg!" oder "Die Piraten sind an der Kuste gelandet!", und uhnlichen,
schlimmeren Schrecken luste sie aus. Mit einem Mal war die sorgfultig
vergessene Angst wieder da, virulent wie im vergangenen Herbst, mit all
ihren Begleiterscheinungen: der Panik, der Empurung, der Wut, den
hysterischen Verduchtigungen, der Verzweiflung. Die Menschen blieben nachts
in den Huusern, sperrten ihre Tuchter ein, verbarrikadierten sich,
misstrauten einander und schliefen nicht mehr. Jedermann dachte, es werde
nun weitergehen wie damals, jede Woche ein Mord. Die Zeit schien um ein
halbes Jahr zuruckgesetzt.
Luhmender noch als vor einem halben Jahr war die Angst, denn die
plutzliche Ruckkunft der lungst uberwunden geglaubten Gefahr verbreitete ein
Gefuhl von Hilflosigkeit unter den Menschen. Wenn selbst des Bischofs Fluch
versagte! Wenn Antoine Richis, der große Richis, der reichste Burger
der Stadt, der Zweite Konsul, ein muchtiger, besonnener Mann, dem alle
Hilfsmittel zu Gebote standen, sein eigenes Kind nicht schutzen konnte! Wenn
des Murders Hand nicht einmal vor der heiligen Schunheit Laures
zuruckschreckte - denn in der Tat wie eine Heilige erschien sie allen, die
sie gekannt hatten, vor allem jetzt, hinterher, als sie tot war. Was gab es
da noch fur Hoffnung, dem Murder zu entgehen? Er war grausamer als die Pest,
denn vor der Pest konnte man fliehen, vor diesem Murder aber nicht, wie das
Beispiel Richis' bewies. Er besaß offenbar uberirdische Fuhigkeiten.
Er stand ganz gewiss mit dem Teufel im Bund, wenn er nicht selbst der Teufel
war. Und so wussten sich viele, vor allem die einfultigeren Gemuter, keinen
anderen Rat, als in die Kirche zu gehen und zu beten, ein jeder Berufsstand
zu seinem Patron, die Schlosser zum Heiligen Aloysius, die Weber zum
Heiligen Krispinius, die Gurtner zum Heiligen Antonius, die Parfumeure zum
Heiligen Josephus. Und sie nahmen ihre Frauen und Tuchter mit, beteten
gemeinsam, aßen und schliefen in der Kirche, verließen sie
selbst am Tage nicht mehr, uberzeugt, im Schutz der verzweifelten
Gemeinschaft und im Angesicht der Madonna die einzig mugliche Sicherheit vor
dem Ungeheuer zu finden, sofern es uberhaupt noch Sicherheit gab.
Andere, gewitztere Kupfe, schlossen sich, da die Kirche bereits schon
einmal versagt hatte, zu okkulten Gruppen zusammen, engagierten fur viel
Geld eine approbierte Hexe aus Gourdon, verkrochen sich in eine der vielen
Kalksteingrotten des Grasser Untergrunds und veranstalteten Satansmessen, um
sich den Leibhaftigen geneigt zu machen. Wieder andere, vornehmlich
Mitglieder des gehobenen Burgertums und des gebildeten Adels, setzten auf
modernste wissenschaftliche Methoden, magnetisierten ihre Huuser,
hypnotisierten ihre Tuchter, bildeten fluidale Schweigekreise in ihren
Salons und versuchten, mit gemeinschaftlich produzierten Gedankenemissionen
den Geist des Murders telepathisch zu bannen. Die Korporationen
organisierten eine Bußprozession von Grasse nach Napoule und zuruck.
Die Munche aus den funf Klustern der Stadt richteten einen permanenten
Bittgottesdienst ein, mit Dauergesungen, so dass bald an dieser, bald an
jener Ecke der Stadt ein ununterbrochenes Lamento zu huren war, bei Tag und
bei Nacht. Gearbeitet wurde kaum noch.
So harrte das Volk von Grasse in fieberhafter Untutigkeit, beinahe mit
Ungeduld, des nuchsten Mordanschlags. Dass er bevorstand, bezweifelte
niemand. Und insgeheim sehnte jeder die Schreckensnachricht herbei, in der
einzigen Hoffnung, dass sie nicht ihn selbst, sondern einen anderen betrufe.
Die Obrigkeit allerdings in Stadt, Land und Provinz ließ sich
diesmal nicht von der hysterischen Stimmung des Volkes anstecken. Zum ersten
Mal, seitdem der Mudchenmurder aufgetreten war, kam es zu planvoller und
ersprießlicher Zusammenarbeit zwischen den Vogteien von Grasse,
Draguignan und Toulon, zwischen Magistraten, Polizei, Intendant, Parlament
und Marine.
Der Grund fur dieses solidarische Vorgehen der Muchtigen war einerseits
die Befurchtung eines allgemeinen Volksaufstandes, andrerseits die Tatsache,
dass man seit dem Mord an Laure Richis Anhaltspunkte hatte, die eine
systematische Verfolgung des Murders uberhaupt erst ermuglichten. Der Murder
war gesehen worden. Offensichtlich handelte es sich um jenen ominusen
Gerbergesellen, der sich in der Mordnacht im Stall des Gasthofs von Napoule
aufgehalten hatte und am nuchsten Morgen spurlos verschwunden war. Nach
ubereinstimmenden Angaben des Wirts, des Stallknechts und Richis' war er ein
unscheinbarer, kleingewachsener Mann mit bruunlichem Rock und grobleinenem
Reisesack. Obwohl ansonsten die Erinnerung der drei Zeugen seltsam vage
blieb, sie etwa Gesicht, Haarfarbe oder Sprache des Mannes nicht hutten
beschreiben kunnen, wusste der Wirt doch noch zu sagen, dass ihm, wenn er
sich nicht tuusche, an Haltung und Gang des Fremden etwas Linkisches,
Hinkendes aufgefallen sei, wie von einer Beinverletzung oder einem
verkruppelten Fuß.
Mit diesen Indizien versehen nahmen schon gegen Mittag des Mordtags
zwei Reiterabteilungen der Marechaussee die Verfolgung des Murders in
Richtung Marseille auf - eine an der Kuste entlang, die andere uber den Weg
im Landesinnern. Die nuhere Umgebung von Napoule ließ man von
Freiwilligen durchkummen. Zwei Kommissionure des Grasser Landgerichts
reisten nach Nizza, um dort Nachforschungen uber den Gerbergesellen
anzustellen. In den Hufen von Frejus, Cannes und Antibes wurden alle
auslaufenden Schiffe kontrolliert, an der Grenze nach Savoyen jeder Weg
gesperrt, Reisende hatten sich auszuweisen. Eine steckbriefliche
Beschreibung des Tuters erschien fur die, die lesen konnten, an allen
Stadttoren von Grasse, Vence, Gourdon und an den Kirchturen der Durfer.
Dreimal tuglich wurde sie ausgeschrieen. Die Sache mit dem vermuteten
Klumpfuß besturkte freilich die Ansicht, es handle sich bei dem Tuter
um den Teufel selbst, und schurte deshalb eher die Panik in der Bevulkerung,
als dass man verwertbare Hinweise erhielt.
Erst nachdem der Grasser Gerichtsprusident im Auftrag Richis' eine
Belohnung von nicht weniger als zweihundert Livres fur Hinweise zur
Ergreifung des Tuters ausgeschrieben hatte, fuhrten Denunziationen zur
Festnahme einiger Gerbergesellen in Grasse, Opio und Gourdon, von denen
einer tatsuchlich das Ungluck hatte, zu hinken. Diesen gedachte man schon
trotz seinem durch mehrere Zeugen gefestigten Alibi der Folter zu
unterziehen, als sich, am zehnten Tag nach geschehenem Mord, ein Mann der
Stadtwache bei der Magistratur meldete und den Richtern folgende Aussage
machte: Am Mittag jenes Tages sei er, Gabriel Tagliasco, Hauptmann der
Wache, an der Porte du Cours wie gewuhnlich Dienst tuend, von einem
Individuum, auf welches, wie er jetzt wisse, die steckbriefliche
Beschreibung ziemlich passe, angesprochen und wiederholt und in dringlicher
Weise nach dem Weg gefragt worden, auf welchem der Zweite Konsul mit seiner
Karawane am Morgen die Stadt verlassen habe. Dem Vorfall selbst habe er
weder damals noch sputer irgendeine Bedeutung beigemessen, und auch an das
Individuum hutte er sich aus eigener Kraft mit Bestimmtheit nicht mehr
erinnern kunnen - es sei so durchaus unbemerkenswert gewesen -, wenn er es
nicht gestern zufullig wieder gesehen hutte, und zwar hier in Grasse, in der
Rue de la Louve, vor dem Atelier des Maitre Druot und der Madame Arnulfi,
bei welcher Gelegenheit ihm auch aufgefallen sei, dass der Mensch, in die
Werkstatt zuruckkehrend, deutlich gehinkt habe. Eine Stunde sputer wurde
Grenouille verhaftet. Der Wirt und sein Stallknecht aus Napoule, die sich
wegen der Identifizierung der anderen Verduchtigen in Grasse aufhielten,
erkannten ihn sofort als den Gerbergesellen wieder, der bei ihnen
ubernachtet hatte: Dieser sei's und kein anderer, dieser musse der gesuchte
Murder sein.
Man untersuchte die Werkstatt, man untersuchte die Kabane im
Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster. In einer Ecke, kaum versteckt,
lagen das zerschnittene Nachtgewand, das Unterhemd und die roten Haare der
Laure Richis. Und als man den Boden aufgrub, kamen nach und nach die Kleider
und Haare der anderen vierundzwanzig Mudchen zum Vorschein. Die Holzkeule
fand sich, mit der die Opfer erschlagen worden waren, und der leinene
Reisesack. Die Indizien waren uberwultigend. Man ließ die
Kirchenglocken luuten. Der Gerichtsprusident gab durch Ausruf und Anschlag
bekannt, dass der beruchtigte Mudchenmurder, nach dem man fast ein Jahr lang
gefahndet habe, endlich gefasst und in festem Gewahrsam sei.
48
Zunuchst glaubten die Leute nicht an die Verlautbarung. Sie hielten sie
fur eine Finte, mit der die Behurden ihre eigene Unfuhigkeit kaschieren und
die gefuhrlich gereizte Stimmung des Volkes beruhigen wollten. Zu gut
erinnerte man sich noch der Zeit, da es geheißen hatte, der Murder sei
nach Grenoble abgezogen. Zu fest hatte sich diesmal die Angst in die Seelen
der Menschen gefressen.
Erst als am folgenden Tag auf dem Kirchplatz vor der Pruvotu die
Beweisstucke uffentlich ausgestellt wurden - es war ein schauerliches Bild,
die funfundzwanzig Gewunder mit den funfundzwanzig Haarbuscheln, wie
Vogelscheuchen an Stangen aufgezogen, an der Stirnseite des Platzes, der
Kathedrale gegenuber, aufgereiht zu sehen - da wandelte sich die uffentliche
Meinung.
Zu vielen Hunderten defilierten die Menschen an der makabren Galerie
voruber. Angehurige der Opfer, die die Kleider wiedererkannten, brachen
schreiend zusammen. Die ubrige Menge, teils aus Sensationslust, teils um
vullig uberzeugt zu sein, begehrte den Murder zu sehen. Die Rufe nach ihm
wurden bald so laut, die Unruhe auf dem kleinen, menschenwogenden Platz so
bedrohlich, dass der Prusident sich entschloss, Grenouille aus seiner Zelle
heraufbringen zu lassen und ihn an einem Fenster des ersten Stocks der
Pruvotu zu prusentieren.
Als Grenouille ans Fenster trat, verstummte das Gebrull. Es war mit
einem Mal so vollstundig still wie an einem heißen Sommertag zur
Mittagsstunde, wenn alles draußen auf den Feldern ist oder sich in den
Schatten der Huuser verkriecht. Kein Tritt, kein Ruuspern, kein Atmen war
mehr zu huren. Die Menge war nur noch Auge und offener Mund, minutenlang.
Kein Mensch konnte es fassen, dass der windige, kleine, geduckte Mann dort
oben am Fenster, dieses Wurstchen, dieses armselige Huuflein, dieses Nichts,
uber zwei Dutzend Morde begangen haben sollte. Er sah einem Murder einfach
nicht gleich. Niemand hutte zwar sagen kunnen, wie er sich den Murder,
diesen Teufel, eigentlich vorgestellt hatte, aber alle waren sich einig: so
nicht! Und dennoch - obwohl der Murder den Vorstellungen der Leute so gar
nicht entsprach und seine Prusentation daher, wie man wurde meinen kunnen,
wenig uberzeugend hutte wirken sollen, ging paradoxerweise allein von der
Leibhaftigkeit dieses Menschen am Fenster und von der Tatsache, dass eben
nur er und kein anderer als Murder prusentiert wurde, eine uberzeugende
Wirkung aus. Sie dachten alle: Das kann doch nicht wahr sein! - und wussten
im selben Moment, dass es wahr sein musse.
Freilich, erst als die Wachen das Munnlein wieder zuruck ins Dunkel des
Zimmers gezogen hatten, erst als es also nicht mehr gegenwurtig und
sichtbar, sondern nur noch, wenn auch fur kurzeste Zeit, als Erinnerung,
fast muchte man sagen als Begriff in den Hirnen der Menschen existierte, als
Begriff eines abscheulichen Murders - da erst wich die Verbluffung der Menge
und schaffte Raum fur eine angemessene Reaktion: Die Munder klappten zu, die
tausend Augen belebten sich wieder. Und dann erscholl es in einem einzigen
donnernden Wut- und Racheschrei: "Wir wollen ihn haben!" Und sie schickten
sich an, die Pruvotu zu sturmen, um ihn mit eigenen Hunden zu erwurgen, zu
zerreißen und zu zerstuckeln. Die Wachen hatten alle Muhe, das Tor zu
verrammeln und den Mob zuruckzudrungen. Grenouille wurde schleunigst in sein
Verlies gebracht. Der Prusident trat ans Fenster und versprach ein schnelles
und exemplarisch strenges Verfahren. Trotzdem dauerte es noch Stunden, ehe
sich die Menge verlaufen, noch Tage, eh sich die Stadt leidlich beruhigt
hatte.
In der Tat ging der Prozess gegen Grenouille uußerst zugig
vonstatten, da nicht nur die Beweismittel erdruckend waren, sondern der
Angeklagte selbst bei den Vernehmungen ohne Umschweife die ihm zur Last
gelegten Morde gestand.
Allein nach seinen Motiven befragt, wusste er keine befriedigende
Antwort zu geben. Er wiederholte immer nur, er habe die Mudchen gebraucht
und sie deshalb erschlagen. Wozu er sie gebraucht habe und was das uberhaupt
bedeuten sollte, "er habe sie gebraucht" - dazu schwieg er. Man
uberantwortete ihn daraufhin der Folter, hungte ihn stundenlang an den
Fußen auf, pumpte ihm sieben Finten Wasser ein, setzte
Fußzwingen - ohne den geringsten Erfolg. Der Mensch schien gegen
kurperliche Schmerzen unempfindlich, gab keinen Laut von sich und sagte,
wenn er abermals befragt wurde, nichts als: "Ich habe sie gebraucht. " Die
Richter hielten ihn fur geisteskrank. Sie setzten die Folter ab und
beschlossen, das Verfahren ohne weitere Vernehmungen zu Ende zu bringen.
Die einzige Verzugerung, die sich noch ergab, war ein juristisches
Geplunkel mit dem Magistrat von Draguignan, in dessen Vogtei La Napoule
gelegen war, und dem Parlament in Aix, welche beide den Prozess an sich
bringen wollten. Aber die Grasser Richter ließen sich die Sache nicht
mehr entwinden. Sie waren es gewesen, die den Tuter gefasst hatten, in ihrem
Zustundigkeitsbereich war die uberwiegende Anzahl der Morde begangen worden,
und ihnen drohte der geballte Volkszorn, wenn sie den Murder einem anderen
Gericht uberließen. Sein Blut musste in Grasse fließen.
Am 15. April 1766 wurde das Urteil gefullt und dem Angeklagten in
seiner Zelle verlesen: "Der Parfumeurgeselle Jean-Baptiste Grenouille", so
hieß es da, "soll binnen achtundvierzig Stunden auf den Cours vor die
Tore der Stadt gefuhrt, dort, das Gesicht zum Himmel, auf ein Holzkreuz
gebunden werden, bei lebendigem Leib zwulf Schluge mit einer eisernen Stange
erhalten, die ihm die Gelenke der Arme, Beine, Huften und Schultern
zerschmettern, und danach auf dem Kreuze angeflochten aufgestellt werden bis
zu seinem Tode." Die ubliche Gnadenpraxis, den Delinquenten nach dem
Zerschmettern mittels eines Fadens zu erwurgen, wurde dem Scharfrichter
ausdrucklich untersagt, auch wenn der Todeskampf sich uber Tage hinziehen
sollte. Die Leiche sei nuchtens auf dem Schindanger zu vergraben, der Ort
nicht zu kennzeichnen.
Grenouille nahm den Spruch ohne Regung entgegen. Der Gerichtsdiener
fragte ihn nach seinem letzten Wunsch. "Nichts", sagte Grenouille; er habe
alles, was er brauche.
Ein Priester ging in die Zelle, um ihm die Beichte abzunehmen, kam aber
schon nach einer Viertelstunde unverrichteter Dinge wieder heraus. Der
Verurteilte habe ihn bei der Erwuhnung des Namens Gottes so absolut
verstundnislos angeschaut, als hure er diesen Namen soeben zum ersten Mal,
sich dann auf seiner Pritsche ausgestreckt, um sofort in tiefsten Schlaf zu
versinken. Jedes weitere Wort sei sinnlos gewesen.
In den folgenden zwei Tagen kamen viele Menschen, um den beruhmten
Murder aus der Nuhe zu sehen. Die Wurter ließen sie durch die Klappe
an der Zellenture einen Blick tun und verlangten sechs Sol pro Blick. Ein
Kupferstecher, der eine Skizze anfertigen wollte, musste zwei Franc
bezahlen. Das Motiv war aber eher enttuuschend. Der Gefangene, an Fuß-
und Handgelenken angekettet, lag die ganze Zeit auf der Pritsche und
schlief. Das Gesicht hatte er zur Wand gekehrt, und er reagierte weder auf
Klopfzeichen noch auf Zurufe. Der Zutritt zur Zelle war Besuchern strikt
verwehrt, und die Wurter wagten es trotz verlockender Angebote nicht, sich
uber dies Verbot hinwegzusetzen. Man furchtete, der Gefangene kunne von
einem Angehurigen seiner Opfer zur Unzeit ermordet werden. Aus dem gleichen
Grund durfte ihm auch kein Essen zugeschoben werden. Es hutte vergiftet sein
kunnen. Wuhrend der ganzen Gefangenschaft erhielt Grenouille sein Essen aus
der Gesindekuche des bischuflichen Palastes, welches der
Gefungnisoberaufseher vorzukosten hatte. Die letzten beiden Tage aß er
freilich gar nichts. Er lag und schlief. Gelegentlich klirrten seine Ketten,
und wenn der Wurter an die Turklappe eilte, konnte er ihn einen Schluck aus
der Wasserflasche nehmen, sich wieder aufs Lager werfen und weiterschlafen
sehen. Es schien, als sei dieser Mensch seines Lebens derart mude, dass er
nicht einmal mehr die letzten Stunden davon in wachem Zustand miterleben
wollte.
Unterdessen wurde der Cours fur die Hinrichtung vorbereitet.
Zimmerleute bauten ein Schafott, drei mal drei Meter groß und zwei
Meter hoch, mit Gelunder und einer soliden Treppe - ein so pruchtiges hatte
man in Grasse noch nie gehabt. Dazu eine Holztribune fur die Honoratioren
und einen Zaun gegen das gemeine Volk, das in gewisser Distanz gehalten
werden sollte. Die Fensterplutze in den Huusern links und rechts der Porte
du Cours und im Gebuude der Wache waren lungst zu exorbitanten Preisen
vermietet. Sogar in der etwas seitwurts gelegenen Charitu hatte der Gehilfe
des Scharfrichters den Kranken ihre Zimmer abgehandelt und mit hohem Gewinn
an Schaulustige weitervermietet. Die Limonadenverkuufer mischten kannenweise
Lakritzenwasser auf Vorrat, der Kupferstecher druckte seine im Gefungnis
genommene und aus der Phantasie noch ein wenig rasanter gestaltete Skizze
des Murders in vielen hundert Exemplaren, fliegende Hundler strumten zu
Dutzenden in die Stadt, die Bucker buken Gedenkplutzchen.
Der Scharfrichter, Monsieur Papon, der schon seit Jahren keinen
Delinquenten mehr zu zerbrechen gehabt hatte, ließ sich eine schwere
vierkantige Eisenstange schmieden und ging damit in den Schlachthof, um an
Tierkadavern seine Hiebe zu uben. Zwulf Schluge durfte er nur fuhren, und
mit diesen mussten die zwulf Gelenke sicher zerbrochen werden, ohne dass
wertvolle Teile des Kurpers, wie etwa Brust oder Kopf, beschudigt wurden -
ein diffiziles Geschuft, das grußtes Fingerspitzengefuhl erforderte.
Die Burger bereiteten sich auf das Ereignis wie auf einen hohen Festtag
vor. Dass nicht gearbeitet werden wurde, verstand sich von selbst. Die
Frauen bugelten ihr Feiertagshabit, die Munner staubten ihre Rucke aus und
ließen sich die Stiefel glunzend putzen. Wer eine Militurcharge oder
ein Amt besaß, wer Gildenmeister war, Advokat, Notar, Direktor einer
Bruderschaft oder sonst etwas Bedeutendes, der legte Uniform und offizielle
Tracht an, mit Orden, Schurpen, Ketten und mit kreideweiß gepuderter
Perucke. Die Gluubigen gedachten sich post festum zum Gottesdienst zu
versammeln, die Satansjunger zu einer deftigen luziferischen Dankmesse, die
gebildete Noblesse zur magnetischen Seance in den Hotels der Cabris',
Villeneuves und Fontmichels. In den Kuchen wurde schon gebacken und
gebraten, aus den Kellern Wein geholt und vom Markt der Blumenschmuck, in
der Kathedrale probten Organist und Kirchenchor.
Im Hause Richis an der Rue Drohe blieb es still. Richis hatte sich jede
Zurustung fur den "Tag der Befreiung", als welchen das Volk den
Hinrichtungstag des Murders bezeichnete, verbeten. Ihm war alles ein Ekel.
Die plutzlich wiederaufbrechende Furcht der Menschen war ihm ein Ekel
gewesen, ihre fiebrige Vorfreude war ihm ein Ekel. Sie selbst, die Menschen,
alle miteinander, waren ihm ein Ekel. Er hatte sich nicht an der
Prusentation des Tuters und seiner Opfer auf dem Platz vor der Kathedrale
beteiligt, nicht am Prozess, nicht am widerwurtigen Defilee der
Sensationslusternen vor der Zelle des Verurteilten. Zur Identifikation der
Haare und Kleider seiner Tochter hatte er das Gericht zu sich nach Hause
bestellt, kurz und gefasst seine Aussage gemacht und gebeten, man muge ihm
die Dinge als Reliquien uberlassen, was auch geschah. Er trug sie in Laures
Kammer, legte das zerschnittene Nachthemd und das Leibchen auf ihr Bett,
breitete die roten Haare ubers Kissen und setzte sich davor und
verließ die Kammer Tag und Nacht nicht mehr, als wolle er durch diese
sinnlose Wache gutmachen, was er in der Nacht von La Napoule versuumt hatte.
Er war so erfullt von Ekel, Ekel vor der Welt und vor sich selbst, dass er
nicht weinen konnte.
Auch vor dem Murder empfand er Ekel. Er wollte ihn nicht mehr als
Menschen sehen, nur noch als Opfer, das geschlachtet wurde. Erst bei der
Hinrichtung wollte er ihn sehen, wenn er auf dem Kreuz lag und die zwulf
Schluge auf ihn niederkrachten, dann wollte er ihn sehen, ganz nah wollte er
ihn dann sehen, er hatte sich einen Platz in vorderster Reihe reservieren
lassen. Und wenn sich das Volk verlaufen hutte, nach ein paar Stunden, dann
wollte er hinaufsteigen zu ihm aufs Blutgerust und sich neben ihn setzen und
Wache halten, nuchtelang, tagelang, wenn es sein musste, und ihm dabei in
die Augen schauen, dem Murder seiner Tochter, und ihm den ganzen Ekel in die
Augen truufeln, der in ihm war, den ganzen Ekel in seinen Todeskampf
hineinschutten wie eine brennende Suure, so lange, bis das Ding verreckt
war...
Danach? Was er danach tun wurde? Er wusste es nicht. Vielleicht wieder
sein gewohntes Leben aufnehmen, vielleicht heiraten, vielleicht einen Sohn
zeugen, vielleicht nichts tun, vielleicht sterben. Es war ihm vullig
gleichgultig. Daruber nachzudenken erschien ihm so sinnlos, als duchte er
daruber nach, was er nach seinem eigenen Tode tun sollte: nichts naturlich.
Nichts, was er jetzt schon wissen kunnte.
49
Die Hinrichtung war auf funf Uhr nachmittags angesetzt. Schon am Morgen
kamen die ersten Schaulustigen und sicherten sich Plutze. Sie brachten
Stuhle und Trittbunkchen mit, Sitzkissen, Verpflegung, Wein und ihre Kinder.
Als gegen Mittag die Landbevulkerung aus allen Himmelsrichtungen in Massen
herbeistrumte, war der Cours schon so dicht besetzt, dass die Neuankummlinge
auf den terrassenfurmig ansteigenden Gurten und Feldern jenseits des Platzes
und auf der Straße nach Grenoble lagern mussten. Die Hundler machten
bereits gute Geschufte, man aß, man trank, es summte und brodelte wie
bei einem Jahrmarkt. Bald waren wohl an die zehntausend Menschen
zusammengekommen, mehr als zum Fest der Jasminkunigin, mehr als zur
grußten Prozession, mehr als jemals zuvor in Grasse. Bis weit die
Hunge hinauf standen sie. Sie hingen in den Buumen, sie hockten auf den
Mauern und Duchern, sie drungten sich zu zehnt, zu zwulft in den
Fensteruffnungen. Nur im Zentrum des Cours, geschutzt vom Barrikadenzaun,
wie herausgestochen aus dem Teig der Menschenmenge, blieb noch ein freier
Platz fur die Tribune und fur das Schafott, das sich plutzlich ganz klein
ausmachte, wie ein Spielzeug oder wie die Buhne eines Puppentheaters. Und
eine Gasse wurde freigehalten, vom Richtplatz zur Porte du Cours und in die
Rue Droite hinein.
Kurz nach drei erschienen Monsieur Papon und seine Gehilfen. Beifall
rauschte auf. Sie trugen das aus Holzbalken gefugte Andreaskreuz zum
Schafott und brachten es auf die geeignete Arbeitshuhe, indem sie es mit
vier schweren Tischlerbucken unterstutzten. Ein Tischlergeselle nagelte es
fest. Jeder Handgriff der Henkersknechte und des Tischlers wurde von der
Menge mit Applaus bedacht. Als dann Papon mit der Eisenstange herbeitrat,
das Kreuz umging, seine Schritte ausmaß, bald von dieser, bald von
jener Seite einen imaginierten Schlag fuhrte, brach regelrechter Jubel aus.
Um vier begann sich die Tribune zu fullen. Es gab viel feine Leute zu
bestaunen, reiche Herren mit Lakaien und guten Manieren, schune Damen,
große Hute, glitzernde Kleider. Der gesamte Adel aus Stadt und Land
war zugegen. Die Herren des Rats erschienen in geschlossenem Zug, angefuhrt
von den beiden Konsuln. Richis trug schwarze Kleider, schwarze Strumpfe,
schwarzen Hut. Hinter dem Rat marschierte der Magistrat ein, unter Leitung
des Gerichtsprusidenten. Als letzter kam der Bischof im offenen Tragstuhl,
in leuchtend violettem Ornat und grunem Hutchen. Wer noch bedeckt war, nahm
sputestens jetzt die Mutze ab. Es wurde feierlich.
Dann geschah etwa zehn Minuten lang nichts. Die Herrschaften hatten
Platz genommen, das Volk harrte reglos, niemand aß mehr, alles
wartete. Papon und seine Knechte standen auf der Buhne des Schafotts wie
angeschraubt. Die Sonne hing groß und gelb uber dem Esterei. Aus dem
Grasser Becken kam ein lauer Wind und trug den Duft der Orangenbluten
herauf. Es war sehr warm und geradezu unwahrscheinlich still.
Endlich, als man schon meinte, die Spannung kunne nicht lunger
andauern, ohne in einen tausendfachen Schrei, einen Tumult, eine Raserei
oder ein sonstiges Massenereignis zu zerplatzen, hurte man in der Stille
Pferdegetrappel und das Knirschen von Rudern.
Die Rue Droite herunter kam ein geschlossener zweispunniger Wagen
gefahren, der Wagen des Polizeilieutenants. Er passierte das Stadttor und
erschien, nun fur jedermann sichtbar, in der schmalen Gasse, die zum
Richtplatz fuhrte. Der Polizeilieutenant hatte auf diese Art der Vorfuhrung
bestanden, da er anders die Sicherheit des Delinquenten nicht garantieren zu
kunnen glaubte. ublich war sie durchaus nicht. Das Gefungnis lag kaum funf
Minuten vom Richtplatz entfernt, und wenn ein Verurteilter diese kurze
Strecke, aus welchem Grunde immer, zu Fuß nicht mehr bewultigte, so
hutte es ein offner Eselskarren auch getan. Dass einer zur eigenen
Hinrichtung in der Karosse vorfuhr, mit Kutscher, livrierten Dienern und
Reiterbegleitung, das hatte man noch nicht erlebt.
Trotzdem kam in der Menge nicht Unruhe oder Unmut auf, im Gegenteil.
Man war zufrieden, dass uberhaupt etwas geschah, hielt die Sache mit der
Kutsche fur einen gelungenen Einfall, uhnlich wie im Theater, wo man es
schutzt, wenn ein bekanntes Stuck auf uberraschend neue Weise prusentiert
wird. Viele fanden sogar, der Auftritt sei angemessen. Einem so
außergewuhnlich abscheulichen Verbrecher gebuhrte eine
außerordentliche Behandlung. Man konnte ihn nicht wie einen ordinuren
Straßenruuber in Ketten auf den Platz zerren und erschlagen. Daran
wure nichts Sensationelles gewesen. Ihn vom Equipagenpolster weg auf das
Andreaskreuz zu fuhren - das war von ungleich einfallsreicherer Grausamkeit.
Die Kutsche hielt zwischen Schafott und Tribune. Die Lakaien sprangen
ab, uffneten den Schlag und klappten das Treppchen herunter. Der
Polizeilieutenant stieg aus, nach ihm ein Offizier der Wache und endlich
Grenouille. Er trug einen blauen Rock, ein weißes Hemd, weiße
Seidenstrumpfe und schwarze Schnallenschuhe. Er war nicht gefesselt. Niemand
fuhrte ihn am Arm. Er entstieg der Kutsche wie ein freier Mann.
Und dann geschah ein Wunder. Oder so etwas uhnliches wie ein Wunder,
numlich etwas dermaßen Unbegreifliches, Unerhurtes und Unglaubliches,
dass alle Zeugen es im nachhinein als Wunder bezeichnet haben wurden, wenn
sie uberhaupt noch jemals darauf zu sprechen gekommen wuren, was nicht der
Fall war, da sie sich sputer allesamt schumten, uberhaupt daran beteiligt
gewesen zu sein.
Es war numlich so, dass die zehntausend Menschen auf dem Cours und auf
den umliegenden Hungen sich von einem Moment zum anderen von dem
unerschutterlichen Glauben durchtrunkt fuhlten, der kleine Mann im blauen
Rock, der soeben aus der Kutsche gestiegen war, kunne unmuglich ein Murder
sein. Nicht dass sie an seiner Identitut zweifelten! Da stand derselbe
Mensch, den sie vor wenigen Tagen auf dem Kirchplatz am Fenster der Pruvotu
gesehen hatten und den sie, wuren sie damals seiner habhaft geworden, in
wutendem Hass gelyncht hutten. Derselbe, der zwei Tage zuvor aufgrund
erdruckender Beweise und eigenen Gestundnisses rechtskruftig verurteilt
worden war. Derselbe, dessen Erschlagung durch den Scharfrichter sie noch
vor einer Minute gierig ersehnt hatten. Er war's, unzweifelhaft! Und doch -
er war es auch nicht, er konnte es nicht sein, er konnte kein Murder sein.
Der Mann, der auf dem Richtplatz stand, war die Unschuld in Person. Das
wussten in diesem Moment alle vom Bischof bis zum Limonadenverkuufer, von
der Marquise bis zur kleinen Wuscherin, vom Prusidenten des Gerichts bis zum
Gassenjungen.
Auch Papon wusste es. Und seine Fuuste, die den Eisenstab umklammert
hielten, zitterten. Ihm war mit einem Mal so schwach in seinen starken
Armen, so weich in den Knien, so bang im Herzen wie einem Kind. Er wurde
diesen Stab nicht heben kunnen, niemals im Leben wurde er die Kraft
aufbringen, ihn gegen den kleinen unschuldigen Mann zu erheben, ach, er
furchtete den Moment, da er heraufgefuhrt wurde, er schlotterte, er musste
sich auf seinen murderischen Stab stutzen, um nicht vor Schwuche in die Knie
zu sinken, der große, starke Papon!
Nicht anders erging es den zehntausend Munnern und Frauen und Kindern
und Greisen, die versammelt waren: Sie wurden schwach wie kleine Mudchen,
die dem Charme ihres Liebhabers erliegen. Es uberkam sie ein muchtiges
Gefuhl von Zuneigung, von Zurtlichkeit, von toller kindischer Verliebtheit,
ja, weiß Gott, von Liebe zu dem kleinen Murdermann, und sie konnten,
sie wollten nichts dagegen tun. Es war wie ein Weinen, gegen das man sich
nicht wehren kann, wie ein lange zuruckgehaltenes Weinen, das aus dem Bauch
aufsteigt und alles Widerstundliche wunderbar zersetzt, alles verflussigt
und ausschwemmt. Nur noch liquide waren die Menschen, innerlich in Geist und
Seele aufgelust, nur noch von amorpher Flussigkeit, und einzig ihr Herz
spurten sie als haltlosen Klumpen in ihrem Innern schwanken und legten es,
eine jede, ein jeder, in die Hand des kleinen Mannes im blauen Rock, auf
Gedeih und Verderb: Sie liebten ihn.
Grenouille stand nun wohl schon mehrere Minuten lang am geuffneten
Schlag der Kutsche und ruhrte sich nicht. Der Lakai neben ihm war in die
Knie gesunken und sank noch immer weiter bis hin zu jener vullig
prostrativen Haltung, wie sie im Orient vor dem Sultan und vor Allah ublich
ist. Und selbst in dieser Haltung zitterte und schwankte er noch und wollte
weitersinken, sich flach auf die Erde legen, in sie hinein, unter sie. Bis
ans andre Ende der Welt wollte er sinken vor lauter Ergebenheit. Der
Offizier der Wache und der Polizeilieutenant, beides trutzige Munner, deren
Aufgabe es gewesen wure, den Verurteilten jetzt aufs Blutgerust zu fuhren
und seinem Henker auszuliefern, konnten keine koordinierten Handlungen mehr
zustande bringen. Sie weinten und nahmen ihre Hute ab, setzten sie wieder
auf, warfen sie zu Boden, fielen sich gegenseitig in die Arme, lusten sich,
fuchtelten unsinnig mit den Armen in der Luft herum, rangen die Hunde,
zuckten und grimassierten wie vom Veitstanz Befallene.
Die weiter entfernt befindlichen Honoratioren gaben sich ihrer
Ergriffenheit auf kaum diskretere Weise hin. Ein jeder ließ dem Drang
seines Herzens freien Lauf. Da waren Damen, die sich beim Anblick
Grenouilles die Fuuste in den Schoß stemmten und seufzten vor Wonne;
und andere, die vor sehnsuchtigem Verlangen nach dem herrlichen Jungling -
denn so erschien er ihnen - sang- und klanglos in Ohnmacht versanken. Da
waren Herren, die in einem fort von ihren Sitzen aufspritzten und sich
wieder niederließen und wieder aufsprangen, muchtig schnaufend und die
Fuuste um die Degengriffe ballend, als wollten sie ziehen, und, indem sie
schon zogen, den Stahl wieder zuruckstießen, dass es in den Scheiden
nur so klapperte und knackte; und andere, die die Augen stumm zum Himmel
richteten und ihre Hunde zum Gebet verkrampften; und Monseigneur, der
Bischof, der, als sei ihm ubel, mit dem Oberkurper vornuberklappte und die
Stirn auf seine Knie schlug, bis ihm das grune Hutchen vom Kopfe kollerte;
und dabei war ihm gar nicht ubel, sondern er schwelgte nur zum ersten Mal in
seinem Leben in religiusem Entzucken, denn ein Wunder war geschehen vor
aller Augen, der Herrgott huchstpersunlich war dem Henker in den Arm
gefallen, indem er den als Engel offenbarte, der vor der Welt ein Murder
schien - o dass dergleichen noch geschah im 18. Jahrhundert. Wie groß
war der Herr! Und wie klein und windig war man selbst, der man einen
Bannfluch gesprochen hatte, ohne daran zu glauben, bloß zur Beruhigung
des Volkes! O welche Anmaßung, o welche Kleingluubigkeit! Und nun tat
der Herr ein Wunder! O welch herrliche Demutigung, welch suße
Erniedrigung, welche Gnade, als Bischof von Gott so gezuchtigt zu werden.
Das Volk jenseits der Barrikade gab sich unterdessen immer schamloser
dem unheimlichen Gefuhlsrausch hin, den Grenouilles Erscheinen ausgelust
hatte. Wer zu Beginn bei seinem Anblick nur Mitgefuhl und Ruhrung verspurt
hatte, der war nun von nackter B