egehrlichkeit erfullt, wer zunuchst bewundert und begehrt hatte, den trieb es zur Ekstase. Alle hielten den Mann im blauen Rock fur das schunste, attraktivste und vollkommenste Wesen, das sie sich denken konnten: Den Nonnen erschien er als der Heiland in Person, den Satansgluubigen als strahlender Herr der Finsternis, den Aufgeklurten als das Huchste Wesen, den jungen Mudchen als ein Murchenprinz, den Munnern als ein ideales Abbild ihrer selbst. Und alle fuhlten sie sich von ihm an ihrer empfindlichsten Stelle erkannt und gepackt, er hatte sie im erotischen Zentrum getroffen. Es war, als besitze der Mann zehntausend unsichtbare Hunde und als habe er jedem der zehntausend Menschen, die ihn umgaben, die Hand aufs Geschlecht gelegt und liebkose es auf just jene Weise, die jeder einzelne, ob Mann oder Frau, in seinen geheimsten Phantasien am sturksten begehrte. Die Folge war, dass die geplante Hinrichtung eines der verabscheuungswurdigsten Verbrechers seiner Zeit zum grußten Bacchanal ausartete, das die Welt seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert gesehen hatte: Sittsame Frauen rissen sich die Blusen auf, entblußten unter hysterischen Schreien ihre Bruste, warfen sich mit hochgezogenen Rucken auf die Erde. Munner stolperten mit irren Blicken durch das Feld von geilem aufgespreiztem Fleisch, zerrten mit zitternden Fingern ihre wie von unsichtbaren Frusten steifgefrorenen Glieder aus der Hose, fielen uchzend irgendwohin, kopulierten in unmuglichster Stellung und Paarung, Greis mit Jungfrau, Tagluhner mit Advokatengattin, Lehrbub mit Nonne, Jesuit mit Freimaurerin, alles durcheinander, wie's gerade kam. Die Luft war schwer vom sußen Schweißgeruch der Lust und laut vom Geschrei, Gegrunze und Gestuhn der zehntausend Menschentiere. Es war infernalisch. Grenouille stand und luchelte. Vielmehr erschien es den Menschen, die ihn sahen, als luchle er mit dem unschuldigsten, liebevollsten, bezauberndsten und zugleich verfuhrerischsten Lucheln der Welt. Aber es war in Wirklichkeit kein Lucheln, sondern ein hußliches, zynisches Grinsen, das auf seinen Lippen lag und das seinen ganzen Triumph und seine ganze Verachtung widerspiegelte. Er, Jean-Baptiste Grenouille, geboren ohne Geruch am stinkendsten Ort der Welt, stammend aus Abfall, Kot und Verwesung, aufgewachsen ohne Liebe, lebend ohne warme menschliche Seele einzig aus Widerborstigkeit und der Kraft des Ekels, klein, gebuckelt, hinkend, hußlich, gemieden, ein Scheusal innen wie außen - er hatte es erreicht, sich vor der Welt beliebt zu machen. Was heißt beliebt! Geliebt! Verehrt! Verguttert! Er hatte die prometheische Tat vollbracht. Den guttlichen Funken, den andre Menschen mir nichts, dir nichts in die Wiege gelegt bekommen und der ihm als einzigem vorenthalten worden war, hatte er sich durch unendliches Raffinement ertrotzt. Mehr noch! Er hatte ihn sich recht eigentlich selbst in seinem Innern geschlagen. Er war noch grußer als Prometheus. Er hatte sich eine Aura erschaffen, strahlender und wirkungsvoller, als sie je ein Mensch vor ihm besaß. Und er verdankte sie niemandem - keinem Vater, keiner Mutter und am allerwenigsten einem gnudigen Gott - als einzig sich selbst. Er war in der Tat sein eigener Gott, und ein herrlicherer Gott als jener weihrauchstinkende Gott, der in den Kirchen hauste. Vor ihm lag ein leibhaftiger Bischof auf den Knien und winselte vor Vergnugen. Die Reichen und Muchtigen, die stolzen Herren und Damen erstarben in Bewunderung, indes das Volk im weiten Rund, darunter Vuter, Mutter, Bruder, Schwestern seiner Opfer, ihm zu Ehren und in seinem Namen Orgien feierten. Ein Wink von ihm, und alle wurden ihrem Gott abschwuren und ihn, den Großen Grenouille anbeten. Ja, er war der Große Grenouille! Jetzt trat's zutage. Er war's, wie einst in seinen selbstverliebten Phantasien, so jetzt in Wirklichkeit. Er erlebte in diesem Augenblick den grußten Triumph seines Lebens. Und er wurde ihm furchterlich. Er wurde ihm furchterlich, denn er konnte keine Sekunde davon genießen. In dem Moment, da er aus der Kutsche auf den sonnenhellen Platz getreten war, angetan mit dem Parfum, das vor den Menschen beliebt macht, mit dem Parfum, an dem er zwei Jahre lang gearbeitet hatte, dem Parfum, das zu besitzen er sein Leben lang gedurstet hatte... in diesem Moment, da er sah und roch, wie unwiderstehlich es wirkte und wie mit Windeseile sich verbreitend es die Menschen um ihn her gefangennahm, - in diesem Moment stieg der ganze Ekel vor den Menschen wieder in ihm auf und vergullte ihm seinen Triumph so grundlich, dass er nicht nur keine Freude, sondern nicht einmal das geringste Gefuhl von Genugtuung verspurte. Was er sich immer ersehnt hatte, dass numlich die undern Menschen ihn liebten, wurde ihm im Augenblick seines Erfolges unertruglich, denn er selbst liebte sie nicht, er hasste sie. Und plutzlich wusste er, dass er nie in der Liebe, sondern immer nur im Hass Befriedigung funde, im Hassen und Gehasstwerden. Aber der Hass, den er fur die Menschen empfand, blieb von den Menschen ohne Echo. Je mehr er sie in diesem Augenblick hasste, desto mehr vergutterten sie ihn, denn sie nahmen von ihm nichts wahr als seine angemaßte Aura, seine Duftmaske, sein geraubtes Parfum, und dies in der Tat war zum Verguttern gut. Er hutte sie jetzt am liebsten alle vom Erdboden vertilgt, die stupiden, stinkenden, erotisierten Menschen, genauso wie er damals im Land seiner rabenschwarzen Seele die fremden Geruche vertilgt hatte. Und er wunschte sich, dass sie merkten, wie sehr er sie hasste, und dass sie ihn darum, um dieses seines einzigen jemals wahrhaft empfundenen Gefuhls willen widerhassten und ihn ihrerseits vertilgten, wie sie es ja ursprunglich vorgehabt hatten. Er wollte sich ein Mal im Leben entuußern. Er wollte ein Mal im Leben sein wie andere Menschen auch und sich seines Innern entuußern: wie sie ihrer Liebe und ihrer dummen Verehrung, so er seines Hasses. Er wollte ein Mal, nur ein einziges Mal, in seiner wahren Existenz zur Kenntnis genommen werden und von einem anderen Menschen eine Antwort erhalten auf sein einziges wahres Gefuhl, den Hass. Aber daraus wurde nichts. Daraus konnte nichts werden. Und heute schon gar nicht. Denn er war ja maskiert mit dem besten Parfum der Welt, und er trug unter dieser Maske kein Gesicht, sondern nichts als seine totale Geruchlosigkeit. Da wurde ihm plutzlich ubel, denn er fuhlte, dass die Nebel wieder stiegen. Wie damals in der Huhle im Traum im Schlaf im Herzen in seiner Phantasie stiegen mit einem Mal die Nebel, die entsetzlichen Nebel seines eigenen Geruchs, den er nicht riechen konnte, weil er geruchlos war. Und wie damals wurde ihm unendlich bang und angst, und er glaubte, ersticken zu mussen. Anders als damals aber war dies kein Traum und kein Schlaf, sondern die blanke Wirklichkeit. Und anders als damals lag er nicht allein in einer Huhle, sondern stand auf einem Platz im Angesicht von zehntausend Menschen. Und anders als damals half hier kein Schrei, der ihn erwachen ließe und befreite, und half keine Flucht zuruck in die gute, warme, rettende Welt. Denn dies, hier und jetzt, war die Welt, und dies, hier und jetzt, war sein verwirklichter Traum. Und er selbst hatte es so gewollt. Die furchterlichen stickigen Nebel stiegen weiter aus dem Morast seiner Seele, indes um ihn das Volk in orgiastischen und orgastischen Verzuckungen uchzte. Ein Mann kam auf ihn zugelaufen. Von der vordersten Reihe der Honoratiorentribune war er aufgesprungen, so heftig, dass ihm sein schwarzer Hut vom Kopf gefallen war, und flatterte nun mit wehendem schwarzem Rock uber den Richtplatz wie ein Rabe oder wie ein ruchender Engel. Es ar Richis. Er wird mich tuten, dachte Grenouille. Er ist der einzige, der sich nicht von meiner Maske tuuschen lusst. Er kann sich nicht tuuschen lassen. Der Duft seiner Tochter klebt an mir, so verruterisch deutlich wie Blut. Er muss mich erkennen und tuten. Er muss es tun. Und er breitete seine Arme aus, um den heransturzenden Engel zu empfangen. Schon glaubte er, den Dolch- oder Degenstoß als herrlich prickelnden Schlag gegen die Brust zu spuren und die Klinge, die durch alle Duftpanzer und stickigen Nebel hindurchging, mitten in sein kaltes Herz hinein - endlich, endlich etwas in seinem Herzen, etwas anderes als er selbst! Er fuhlte sich fast schon erlust. Doch dann lag mit einem Mal Richis an seiner Brust, kein ruchender Engel, sondern ein erschutterter, kluglich schluchzender Richis, und umfing ihn mit den Armen, krallte sich regelrecht fest an ihm, als funde er sonst keinen Halt in einem Meer von Gluckseligkeit. Kein befreiender Dolchstoß, kein Stich ins Herz, nicht einmal in Fluch oder nur ein Schrei des Hasses. Statt dessen Richis' trunennasse Wange an der seinen klebend und ein zitternder Mund, der ihm zuwinselte: "Vergib mir, mein Sohn, mein lieber Sohn, vergib mir!" Da wurde es ihm von innen her weiß vor Augen, und die uußere Welt wurde rabenschwarz. Die gefangenen Nebel gerannen zu einer tobenden Flussigkeit wie kochende, schuumende Milch. Sie uberfluteten ihn, pressten mit unertruglichem Druck gegen die innere Schalenwand seines Kurpers, ohne Auslass zu finden. Er wollte fliehen, um Himmels willen fliehen, aber wohin... Er wollte zerplatzen, explodieren wollte er, um nicht an sich selbst zu ersticken. Endlich sank er nieder und verlor das Bewusstsein. 50 Als er wieder zu sich kam, lag er im Bett der Laure Richis. Ihre Reliquien, Kleider und ihr Haar, waren weggeruumt worden. Eine Kerze brannte auf dem Nachttisch. Durch das angelehnte Fenster hurte er von Ferne den Jubel der feiernden Stadt. Antoine Richis saß auf einem Schemel neben dem Bett und wachte. Er hatte Grenouilles Hand in die seine gelegt und streichelte sie. Noch bevor er die Augen aufschlug, prufte Grenouille die Atmosphure. Im Innern war sie still. Nichts brodelte und presste mehr. Es herrschte wieder die gewohnte kalte Nacht in seiner Seele, die er brauchte, um sein Bewusstsein frostig und klar zu machen und nach außen zu lenken: Dort roch er sein Parfum. Es hatte sich verundert. Die Spitzen waren etwas schwucher geworden, so dass nun die Herznote von Laures Geruch noch herrlicher hervortrat, ein mildes, dunkles, funkelndes Feuer. Er fuhlte sich sicher. Er wusste, dass er noch fur Stunden unangreifbar war, und uffnete die Augen. Richis' Blick ruhte auf ihm. Unendliches Wohlwollen lag in diesem Blick, Zurtlichkeit, Ruhrung und die hohle, dummliche Tiefe des Liebenden. Er luchelte und druckte Grenouilles Hand fester und sagte: "Es wird jetzt alles gut werden. Der Magistrat hat dein Urteil kassiert. Alle Zeugen haben abgeschworen. Du bist frei. Du kannst tun, was du willst. Aber ich will, dass du bei mir bleibst. Ich habe eine Tochter verloren, ich will dich als meinen Sohn gewinnen. Du bist ihr uhnlich. Du bist schun wie sie, deine Haare, dein Mund, deine Hand... Ich habe die ganze Zeit deine Hand gehalten, deine Hand ist wie die ihre. Und wenn ich in deine Augen sehe, so ist mir, als schaue sie mich an. Du bist ihr Bruder, und ich will, dass du mein Sohn wirst, meine Freude, mein Stolz, mein Erbe. Leben deine Eltern noch?" Grenouille schuttelte den Kopf, und Richis' Gesicht wurde puterrot vor Gluck. "Dann wirst du mein Sohn werden?" stammelte er und fuhr von seinem Schemel hoch, um sich auf den Rand des Bettes zu setzen und auch Grenouilles zweite Hand zu pressen. "Wirst du? Wirst du? Willst du mich zu deinem Vater haben? Sage nichts! Sprich nicht! Du bist noch zu schwach, um zu sprechen. Nicke nur!" Grenouille nickte. Da brach Richis das Gluck wie roter Schweiß aus allen Poren, und er beugte sich zu Grenouille herab und kusste ihn auf den Mund. "Schlaf jetzt, mein lieber Sohn!" sagte er, als er sich wieder aufgerichtet hatte. "Ich werde bei dir wachen, solange bis du eingeschlafen bist." Und nachdem er ihn eine lange Zeit in stummer Seligkeit betrachtet hatte: "Du machst mich sehr, sehr glucklich." Grenouille zog die Mundwinkel leicht auseinander, wie er es den Menschen abgeschaut hatte, die lucheln. Dann schloss er die Augen. Er wartete eine Weile, ehe er seinen Atem ruhiger und tiefer gehen ließ, wie es die Schlufer tun. Er spurte Richis' liebenden Blick auf seinem Gesicht. Einmal spurte er, wie Richis sich abermals vorbeugte, um ihn zu kussen, es dann aber unterließ, aus Scheu, ihn zu wecken. Endlich wurde die Kerze ausgeblasen, und Richis schlich sich auf Zehenspitzen aus der Kammer. Grenouille blieb liegen, bis er in Haus und Stadt kein Geruusch mehr hurte. Als er dann aufstand, dummerte es schon. Er kleidete sich an und machte sich davon, leise uber den Flur, leise die Stiege hinab und durch den Salon hinaus auf die Terrasse. Von hier aus konnte man uber die Stadtmauersehen, uber die Schussel des Grasser Landes, bei klarem Wetter wohl auch bis zum Meer. Jetzt hing ein dunner Nebel, ein Dunst eher, uber den Feldern, und die Dufte, die von dorther kamen, Gras, Ginster und Rose, waren wie gewaschen, rein, simpel, trustlich einfach. Grenouille durchquerte den Garten und stieg uber die Mauer. Oben am Cours musste er sich noch einmal durch Menschendunste kumpfen, ehe er das freie Land gewann. Der ganze Platz und die Hunge glichen einem riesigen verlotterten Heerlager. Zu Tausenden lagen die betrunkenen, von den Ausschweifungen des nuchtlichen Festes erschupften Gestalten herum, manche nackt, manche halb entblußt und halb bedeckt von Kleidern, unter die sie sich wie unter ein Stuck Decke verkrochen hatten. Es stank nach saurem Wein, nach Schnaps, nach Schweiß und Pisse, nach Kinderscheiße und nach verkohltem Fleisch. Da und dort qualmten noch die Feuerstellen, an denen sie gebraten, gesoffen und getanzt hatten. Hie und da gluckste noch aus dem tausendfachen Geschnarche ein Lallen oder ein Geluchter auf. Es mag auch sein, dass manch einer noch wachte und sich die letzten Fetzen von Bewusstsein aus dem Gehirn zechte. Aber niemand sah Grenouille, der uber die verstreuten Leiber stieg, vorsichtig und rasch zugleich, wie durch Morast. Und wer ihn sah, der erkannte ihn nicht. Er duftete nicht mehr. Das Wunder war vorbei. Am Ende des Cours angelangt, nahm er nicht die Straße nach Grenoble, nicht die nach Cabris, sondern er ging querfeldein in westliche Richtung davon, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen. Als die Sonne aufstieg, fett und gelb und stechendheiß, war er lungst verschwunden. Die Grasser erwachten mit einem entsetzlichen Kater. Selbst denen, die nicht getrunken hatten, war bleischwer im Kopf und speiubel in Magen und Gemut. Auf dem Cours, in hellstem Sonnenlicht, suchten biedere Bauern nach den Kleidern, die sie im Exzess der Orgie von sich geschleudert hatten, suchten sittsame Frauen nach ihren Munnern und Kindern, schulten sich wildfremde Menschen entsetzt aus intimster Umarmung, standen sich Bekannte, Nachbarn, Gatten plutzlich in peinlichster uffentlicher Nacktheit gegenuber. Vielen erschien dieses Erlebnis so grauenvoll, so vollstundig unerklurlich und unvereinbar mit ihren eigentlichen moralischen Vorstellungen, dass sie es buchstublich im Augenblick seines Stattfindens aus ihrem Geduchtnis luschten und sich infolgedessen auch sputer wahrhaftig nicht mehr daran zuruckerinnern konnten. Andere, die ihren Wahrnehmungsapparat nicht so souverun beherrschten, versuchten, wegzuschauen und wegzuhuren und wegzudenken was nicht ganz einfach war, denn die Schande war zu offensichtlich und zu allgemein. Wer seine Habseligkeiten und seine Angehurigen gefunden hatte, machte sich so rasch und so unauffullig wie muglich davon. Gegen Mittag war der Platz wie leergefegt. Die Leute in der Stadt kamen, wenn uberhaupt, erst gegen Abend aus den Huusern, um die dringendsten Besorgungen zu erledigen. Man grußte sich nur fluchtig beim Begegnen, sprach nur uber das Belangloseste. uber die Ereignisse des Vortags und der vergangenen Nacht fiel kein Wort. So hemmungslos und frisch heraus man sich gestern noch gegeben hatte, so schamhaft war man jetzt. Und alle waren so, denn alle waren schuldig. Nie schien das Einvernehmen unter den Grasser Burgern besser als in jener Zeit. Man lebte wie in Watte. Manche freilich mussten sich allein kraft ihres Amtes direkter mit dem befassen, was geschehen war. Die Kontinuitut des uffentlichen Lebens, die Unverbruchlichkeit von Recht und Ordnung erforderten rasche Maßnahmen. Schon am Nachmittag tagte der Stadtrat. Die Herren, darunter auch der Zweite Konsul, umarmten sich stumm, als gelte es, das Gremium durch diese verschwurerische Geste neu zu konstituieren. Dann beschloss man una anima und ohne dass der Vorkommnisse oder gar des Namens Grenouille auch nur Erwuhnung getan worden wure, "die Tribune und das Schafott auf dem Cours unverzuglich abreißen zu lassen und den Platz und die umliegenden zertrampelten Felder wieder in ihren vormaligen ordentlichen Zustand versetzen zu lassen". Hierfur wurden hundertsechzig Livre bewilligt. Gleichzeitig tagte das Gericht in der Pruvotu. Der Magistrat kam ohne Aussprache uberein, den "Fall G." als erledigt zu betrachten, die Akten zu schließen und ohne Registratur zu archivieren und ein neues Verfahren gegen einen bislang unbekannten Murder von funfundzwanzig Jungfrauen im Grasser Raum zu eruffnen. An den Polizeilieutenant erging der Befehl, die Untersuchungen unverzuglich aufzunehmen. Schon am nuchsten Tag wurde er fundig. Aufgrund eindeutiger Verdachtsmomente verhaftete man Dominique Druot, Maitre Parfumeur in der Rue de la Louve, in dessen Kabane ja schließlich die Kleider und Haare sumtlicher Opfer gefunden worden waren. Von seinem anfunglichen Leugnen ließen sich die Richter nicht tuuschen. Nach vierzehnstundiger Folter gestand er alles und bat sogar um eine muglichst baldige Hinrichtung, die ihm schon fur den folgenden Tag gewuhrt wurde. Man knupfte ihn im Morgengrauen auf, ohne großes Tamtam, ohne Schafott und Tribunen, im Beisein lediglich des Henkers, einiger Mitglieder des Magistrats, eines Arztes und eines Priesters. Die Leiche ließ man, nachdem der Tod eingetreten, festgestellt und protokollarisch niedergelegt war, unverzuglich beisetzen. Damit war der Fall erledigt. Die Stadt hatte ihn ohnehin schon vergessen, und zwar so vollstundig, dass Reisende, die in den folgenden Tagen eintrafen und sich beiluufig nach dem beruchtigten Grasser Mudchenmurder erkundigten, nicht einen einzigen vernunftigen Menschen fanden, der ihnen Auskunft hutte erteilen kunnen. Nur ein paar Narren aus der Charitu, notorische Geisteskranke, plapperten noch irgend etwas daher von einem großen Fest auf der Place du Cours, dessentwegen sie hutten ihre Zimmer ruumen mussen. Und bald hatte sich das Leben gunzlich normalisiert. Die Leute arbeiteten fleißig und schliefen gut und gingen ihren Geschuften nach und hielten sich rechtschaffen. Das Wasser sprudelte wie eh und je aus den vielen Quellen und Brunnen und schwemmte den Schlamm durch die Gassen. Die Stadt stand wieder schubig und stolz an den Hungen uber dem fruchtbaren Becken. Die Sonne schien warm. Bald war es Mai. Man erntete Rosen. VIERTER TEIL 51 Grenouille ging nachts. Wie zu Beginn seiner Reise wich er den Studten aus, mied die Straßen, legte sich bei Tagesanbruch schlafen, stand abends auf und ging weiter. Er fraß, was er am Wege fand: Gruser, Pilze, Bluten, tote Vugel, Wurmer. Er durchzog die Provence, uberquerte in einem gestohlenen Kahn die Rhone sudlich von Orange, folgte dem Lauf der Arduche bis tief in die Cevennen hinein und dann dem Allier nach Norden. In der Auvergne kam er dem Plomb du Cantal nahe. Er sah ihn westlich liegen, groß und silbergrau im Mondlicht, und er roch den kuhlen Wind, der von ihm kam. Aber es verlangte ihn nicht hinzugehen. Er hatte keine Sehnsucht mehr nach dem Huhlenleben. Diese Erfahrung war ja schon gemacht und hatte sich als unlebbar erwiesen. Ebenso wie die andere Erfahrung, die des Lebens unter den Menschen. Man erstickte da und dort. Er wollte uberhaupt nicht mehr leben. Er wollte nach Paris gehen und sterben. Das wollte er. Von Zeit zu Zeit griff er in seine Tasche und schloss die Hand um den kleinen glusernen Flakon mit seinem Parfum. Das Fluschchen war noch fast voll. Fur den Auftritt in Grasse hatte er bloß einen Tropfen verbraucht. Der Rest wurde genugen, um die ganze Welt zu bezaubern. Wenn er wollte, kunnte er sich in Paris nicht nur von Zehn-, sondern von Hunderttausenden umjubeln lassen; oder nach Versailles spazieren, um sich vom Kunig die Fuße kussen zu lassen; dem Papst einen parfumierten Brief schreiben und sich als der neue Messias offenbaren; in Notre-Dame vor Kunigen und Kaisern sich selbst zum Oberkaiser salben, ja sogar zum Gott auf Erden - falls man sich als Gott uberhaupt noch salbte... All das kunnte er tun, wenn er nur wollte. Er besaß die Macht dazu. Er hielt sie in der Hand. Eine Macht, die sturker war als die Macht des Geldes oder die Macht des Terrors oder die Macht des Todes: die unuberwindliche Macht, den Menschen Liebe einzuflußen. Nur eines konnte diese Macht nicht: sie konnte ihn nicht vor sich selber riechen machen. Und mochte er auch vor der Welt durch sein Parfum erscheinen als ein Gott - wenn er sich selbst nicht riechen konnte und deshalb niemals wusste, wer er sei, so pfiff er drauf, auf die Welt, auf sich selbst, auf sein Parfum. Die Hand, die den Flakon umschlossen hatte, duftete ganz zart, und wenn er sie an seine Nase fuhrte und schnupperte, dann wurde ihm wehmutig, und fur ein paar Sekunden vergaß er zu laufen und blieb stehen und roch. Niemand weiß, wie gut dies Parfum wirklich ist, dachte er. Niemand weiß, wie gut es gemacht ist. Die andern sind nur seiner Wirkung untertan, ja, sie wissen nicht einmal, dass es ein Parfum ist, das auf sie wirkt und sie bezaubert. Der einzige, der es jemals in seiner wirklichen Schunheit erkannt hat, bin ich, weil ich es selbst geschaffen habe. Und zugleich bin ich der einzige, den es nicht bezaubern kann. Ich bin der einzige, fur den es sinnlos ist. Und ein andermal, da war er schon in Burgund: Als ich an der Mauer stand, unterhalb des Gartens, in dem das rothaarige Mudchen spielte, und ihr Duft zu mir heruberwehte... oder vielmehr das Versprechen ihres Dufts, denn ihr sputerer Duft existierte ja noch gar nicht - vielleicht war das, was ich damals empfand, demjenigen uhnlich, was die Menschen auf dem Cours empfanden, als ich sie mit meinem Parfum uberschwemmte...? Aber dann verwarf er den Gedanken: Nein, es war etwas anderes. Denn ich wusste ja, dass ich den Duft begehrte, nicht das Mudchen. Die Menschen aber glaubten, sie begehrten mich, und was sie wirklich begehrten, blieb ihnen ein Geheimnis. Dann dachte er nichts mehr, denn das Denken war nicht seine Sturke, und er war auch schon im Orleanais. Er uberquerte die Loire bei Sully. Einen Tag sputer hatte er den Duft von Paris in der Nase. Am 25. Juni 1767 betrat er die Stadt durch die Rue Saint-Jacques fruhmorgens um sechs. Es wurde ein heißer Tag, der heißeste bisher in diesem Jahr. Die tausendfultigen Geruche und Gestunke quollen wie aus tausend aufgeplatzten Eiterbeulen. Kein Wind regte sich. Das Gemuse an den Marktstunden erschlaffte, eh es Mittag war. Fleisch und Fische verwesten. In den Gassen stand die verpestete Luft. Selbst der Fluss schien nicht mehr zu fließen, sondern nur noch zu stehen und zu stinken. Es war wie am Tag von Grenouilles Geburt. Er ging uber den Pont Neuf ans rechte Ufer, und weiter zu den Hallen und zum Cimetiere des Innocents. In den Arkaden der Gebeinhuuser lungs der Rue aux Fers ließ er sich nieder. Das Gelunde des Friedhofs lag wie ein zerbombtes Schlachtfeld vor ihm, zerwuhlt, zerfurcht, von Gruben durchzogen, von Schudeln und Gebeinen ubersut, ohne Baum, Strauch oder Grashalm, eine Schutthalde des Todes. Kein lebender Mensch ließ sich blicken. Der Leichengestank war so schwer, dass selbst die Totengruber sich verzogen hatten. Sie kamen erst nach Sonnenuntergang wieder, um bei Fackellicht bis in die Nacht hinein Gruben fur die Toten des nuchsten Tages auszuheben. Nach Mitternacht erst - die Totengruber waren schon gegangen - belebte sich der Ort mit allem muglichen Gesindel, Dieben, Murdern, Messerstechern, Huren, Deserteuren, jugendlichen Desperados. Ein kleines Lagerfeuer wurde angezundet, zum Kochen und damit sich der Gestank verzehre. Als Grenouille aus den Arkaden kam und sich unter diese Menschen mischte, nahmen sie ihn zunuchst gar nicht wahr. Er konnte unbehelligt an ihr Feuer treten, als sei er einer von ihnen. Das besturkte sie sputer in der Meinung, es musse sich bei ihm um einen Geist oder einen Engel oder sonst etwas ubernaturliches gehandelt haben. Denn ublicherweise reagierten sie huchst empfindlich auf die Nuhe eines Fremden. Der kleine Mann in seinem blauen Rock aber sei plutzlich einfach dagewesen, wie aus dem Boden herausgewachsen, mit einem kleinen Fluschchen in der Hand, das er entstupselte. Dies war das erste, woran sich alle erinnern konnten: dass da einer stand und ein Fluschchen entstupselte. Und dann habe er sich mit dem Inhalt dieses Fluschchens uber und uber besprenkelt und sei mit einem Mal von Schunheit ubergussen gewesen wie von strahlendem Feuer. Fur einen Moment wichen sie zuruck aus Ehrfurcht und bassem Erstaunen. Aber im selben Moment spurten sie schon, dass das Zuruckweichen mehr wie ein Anlaufnehmen war, dass ihre Ehrfurcht in Begehren umschlug, ihr Erstaunen in Begeisterung. Sie fuhlten sich zu diesem Engelsmenschen hingezogen. Ein rabiater Sog ging von ihm aus, eine reißende Ebbe, gegen die kein Mensch sich stemmen konnte, um so weniger, als sich kein Mensch gegen sie hutte stemmen wollen, denn es war der Wille selbst, den diese Ebbe unterspulte und in ihre Richtung trieb: hin zu ihm. Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet, zwanzig, dreißig Personen und zogen diesen Kreis nun enger und enger. Bald fasste der Kreis sie nicht mehr alle, sie begannen zu drucken, zu schieben und zu drungeln, jeder wollte dem Zentrum am nuchsten sein. Und dann brach mit einem Schlag die letzte Hemmung in ihnen, der Kreis in sich zusammen. Sie sturzten sich auf den Engel, fielen uber ihn her, rissen ihn zu Boden. Jeder wollte ihn beruhren, jeder wollte einen Teil von ihm haben, ein Federchen, ein Flugelchen, einen Funken seines wunderbaren Feuers. Sie rissen ihm die Kleider, die Haare, die Haut vom Leibe, sie zerrupften ihn, sie schlugen ihre Krallen und Zuhne in sein Fleisch, wie die Hyunen fielen sie uber ihn her. Aber so ein Menschenkurper ist ja zuh und lusst sich nicht so einfach auseinanderreißen, selbst Pferde haben da die grußte Muhe. Und so blitzten bald die Dolche auf und stießen zu und schlitzten auf, und uxte und Schlagmesser sausten auf die Gelenke herab, zerhieben krachend die Knochen. In kurzester Zeit war der Engel in dreißig Teile zerlegt, und ein jedes Mitglied der Rotte grapschte sich ein Stuck, zog sich, von wollustiger Gier getrieben, zuruck und fraß es auf. Eine halbe Stunde sputer war Jean-Baptiste Grenouille in jeder Faser vom Erdboden verschwunden. Als sich die Kannibalen nach gehabter Mahlzeit wieder m Feuer zusammenfanden, sprach keiner ein Wort. Der eine oder andere stieß ein wenig auf, spie ein Knuchelchen aus, schnalzte leise mit der Zunge, stupste mit dem Fuß einen ubriggebliebenen Fetzen des blauen Rocks in die Flammen: Sie waren alle ein bisschen verlegen und trauten sich nicht, einander anzusehen. Einen Mord oder ein anderes niedertruchtiges Verbrechen hatte jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, schon einmal begangen. Aber einen Menschen aufgefressen? Zu so etwas Entsetzlichem, dachten sie, seien sie nie und nimmer imstande. Und sie wunderten sich, wie leicht es ihnen doch gefallen war und dass sie, bei aller Verlegenheit, nicht den geringsten Anflug von schlechtem Gewissen verspurten. Im Gegenteil! Es war ihnen, wenngleich im Magen etwas schwer, im Herzen durchaus leicht zumute. In ihren finsteren Seelen schwankte es mit einem Mal so angenehm heiter. Und auf ihren Gesichtern lag ein mudchenhafter, zarter Glanz von Gluck. Daher vielleicht die Scheu, den Blick zu heben und sich gegenseitig in die Augen zu sehen. Als sie es dann wagten, verstohlen erst und dann ganz offen, da mussten sie lucheln. Sie waren außerordentlich stolz. Sie hatten zum ersten Mal etwas aus Liebe getan. 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