ïÃÅÎÉÔÅ ÜÔÏÔ ÔÅËÓÔ:


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    (óÔÅÆÁÎ ã×ÅÊÇ. âÕËÉÎÉÓÔ. îÁ ÎÅÍÅÃËÏÍ ÑÚÙËÅ).
     OCR, Spellcheck: éÌØÑ æÒÁÎË, http://frank.deutschesprache.ru
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     Wieder einmal  in Wien und heimkehrend  von einem Besuch in den Äuñeren
Bezirken, geriet ich unvermutet  in einen  Regenguñ, der mit nasser Peitsche
die Menschen hurtig in Haustore und  UnterstÄnde jagte, und auch  ich selbst
suchte schleunig nach einem schØtzenden Obdach. GlØcklicherweise  wartet nun
in  Wien  an  jeder Ecke ein  Kaffeehaus -  so  flØchtete ich in  das gerade
gegenØberliegende, mit schon  tropfendem  Hut und arg durchnÄñten Schultern.
Es erwies sich von innen als VorstadtcafÊ hergebrachter,  fast schematischer
Art,   ohne   die  neumodischen  Attrappen   der   Deutschland  nachgeahmten
innerstÄdtischen Musikdielen,  altwienerisch bØrgerlich  und vollgefØllt mit
kleinen  Leuten,  die mehr  Zeitungen konsumierten als GebÄck. Jetzt  um die
Abendstunde   war  zwar  die  ohnehin  schon  stickige   Luft   mit   blauen
Rauchkringeln  dick marmoriert, dennoch wirkte  dies  Kaffeehaus sauber  mit
seinen sichtlich  neuen  Samtsofas und  seiner aluminiumhellen Zahlkasse: in
der  Eile  hatte ich mir gar  nicht die  MØhe  genommen,  seinen Namen auñen
abzulesen, wozu  auch? Und nun sañ ich warm und blickte ungeduldig durch die
blauØberflossenen Scheiben, wann es dem lÄstigen  Regen belieben wØrde, sich
ein paar Kilometer weiter zu verziehen.
     UnbeschÄftigt  sañ ich also da und begann schon jener trÄgen PassivitÄt
zu verfallen, die  narkotisch jedem wirklichen Wiener  Kaffeehaus unsichtbar
entstrÃmt.  Aus diesem leeren GefØhl  blickte ich mir einzeln  die Leute an,
denen  das  kØnstliche Licht dieses Rauchraums  ein ungesundes Grau  um  die
Augen schattete, schaute dem  FrÄulein an der  Kasse  zu, wie sie mechanisch
Zucker und LÃffel  fØr jede Kaffeetasse  dem Kellner austeilte, las halbwach
und unbewuñt die hÃchst gleichgØltigen Plakate an den WÄnden,  und diese Art
Verdumpfung tat beinahe wohl. Aber plÃtzlich ward ich auf merkwØrdige  Weise
aus meiner  HalbschlÄferei gerissen, eine innere  Bewegung begann unbestimmt
unruhig in mir,  so  wie  ein kleiner Zahnschmerz beginnt,  von dem man noch
nicht weiñ, ob er von links, von rechts, vom untern oder obern Kiefer seinen
Ausgang  nimmt; nur ein  dumpfes Spannen  fØhlte ich,  eine geistige Unruhe.
Denn  plÃtzlich  -  ich hÄtte  es  nicht  sagen kÃnnen, wodurch  - wurde mir
bewuñt, hier muñte ich schon einmal vor  Jahren gewesen und durch irgendeine
Erinnerung  diesen WÄnden, diesen  StØhlen, diesen Tischen,  diesem fremden,
rauchigen Raum verbunden sein.
     Aber je mehr ich den Willen vortrieb, diese Erinnerung zu fassen, desto
boshafter  und  glitschiger  wich  sie  zurØck  -  wie  eine  Qualle ungewiñ
leuchtend  auf dem untersten  Grunde  des  Bewuñtseins  und  doch  nicht  zu
greifen,  nicht zu  packen.  Vergeblich klammerte  ich  den Blick  an  jeden
Gegenstand der Einrichtung; gewiñ,  manches kannte  ich nicht, wie die Kasse
zum Beispiel mit ihrem klirrenden Zahlungsautomaten und nicht diesen braunen
Wandbelag  aus   falschem  Palisanderholz,  alles  das  muñte   erst  spÄter
aufmontiert worden sein. Aber doch, aber  doch, hier war ich  einmal gewesen
vor zwanzig Jahren und lÄnger,  hier  haftete, im Unsichtbaren versteckt wie
der  Nagel  im Holz, etwas  von  meinem eigenen,  lÄngst Øberwachsenen  Ich.
Gewaltsam  streckte  und  stieñ ich  alle  meine Sinne vor  in den Raum  und
gleichzeitig  in mich hinein  -  und  doch,  verdammt! Ich  konnte sie nicht
erreichen, diese verschollene, in mir selbst ertrunkene Erinnerung.
     Ich  Ärgerte mich, wie  man sich immer  Ärgert, wenn irgendein Versagen
einen die UnzulÄnglichkeit und Unvollkommenheit  der geistigen KrÄfte gewahr
werden lÄñt. Aber ich gab die Hoffnung nicht auf, diese Erinnerung doch noch
zu erreichen. Nur einen winzigen Haken, das wuñte ich, muñte ich in die Hand
kriegen,  denn  mein GedÄchtnis  ist sonderbar  geartet,  gut  und  schlecht
zugleich,   einerseits   trotzig   und   eigenwillig,   aber   dann   wieder
unbeschreiblich getreu. Es  schluckt  das Wichtigste sowohl an Geschehnissen
als  auch an Gesichtern, an Gelesenem  wie an  Erlebtem oft vÃllig hinab  in
seine Dunkelheiten und gibt nichts aus dieser Unterwelt ohne Zwang, bloñ auf
den Anruf des Willens heraus. Aber nur den flØchtigsten Halt muñ ich fassen,
eine  Ansichtskarte,  ein  paar  SchriftzØge  auf  einem  Briefkuvert,   ein
verrÄuchertes  Zeitungsblatt,  und sofort  zuckt das  Vergessene wie an  der
Angel  der  Fisch  aus  der  dunkel strÃmenden  FlÄche  vÃllig  leibhaft und
sinnlich wieder hervor. Jede Einzelheit weiñ ich dann eines Menschen, seinen
Mund und  im Mund  wieder die ZahnlØcke links  bei  seinem  Lachen, und  den
brØchigen  Tonfall dieses Lachens  und wie dabei der Schnurrbart ins  Zucken
kommt und  wie ein anderes, neues Antlitz heraustaucht aus  diesem Lachen  -
alles  das sehe ich dann sofort in vÃlliger Vision und weiñ auf Jahre zurØck
jedes Wort, das dieser Mensch mir jemals erzÄhlte. Immer aber bedarf ich, um
Vergangenes sinnlich zu  sehen  und  zu fØhlen, eines  sinnlichen  Anreizes,
eines winzigen  Helfers aus der Wirklichkeit. So schloñ  ich  die Augen,  um
angestrengter  nachdenken zu kÃnnen, um jenen geheimnisvollen  Angelhaken zu
formen  und  zu  fassen.  Aber  nichts!  Abermals  nichts!  VerschØttet  und
vergessen! Und ich erbitterte mich derart Øber den schlechten, eigenwilligen
GedÄchtnisapparat zwischen meinen SchlÄfen, dañ ich mit  den FÄusten mir die
Stirne  hÄtte  schlagen  kÃnnen,  so  wie  man einen  verdorbenen  Automaten
anrØttelt, der widerrechtlich das Geforderte  zurØckbehÄlt. Nein, ich konnte
nicht lÄnger ruhig sitzen bleiben, so erregte mich  dieses  innere Versagen,
und  ich  stand vor lauter Arger auf,  mir Luft zu machen.  Aber sonderbar -
kaum dañ ich die  ersten Schritte durch das Lokal getan, da begann es schon,
flirrend  und  funkelnd,  dieses  erste phosphoreszierende DÄmmern  in  mir.
Rechts von der Zahlkasse, erinnerte ich mich, muñte es hinØbergehen in einen
fensterlosen  und nur von kØnstlichem Licht erhellten Raum. Und tatsÄchlich:
es stimmte. Da war es,  anders tapeziert als damals, aber doch  genau in den
Proportionen,   dies   in   seinen   Konturen   verschwimmende   rechteckige
Hinterzimmer, das Spielzimmer. Instinktiv sah ich mich um nach den einzelnen
GegenstÄnden, mit  schon freudig vibrierenden Nerven (gleich wØrde ich alles
wissen,  fØhlte   ich).   Zwei   Billarde   lungerten  als   grØne  lautlose
Schlammteiche darin, in den  Ecken hockten Spieltische, an deren einem  zwei
HofrÄte oder  Professoren  Schach  spielten.  Und in der  Ecke,  knapp  beim
eisernen  Ofen, dort,  wo man  zur  Telefonzelle  ging,  stand  ein  kleiner
viereckiger  Tisch.  Und da  blitzte es mich plÃtzlich durch und durch.  Ich
wuñte sofort, sofort, mit  einem  einzigen  heiñen,  beglØckt  erschØtterten
Ruck: mein Gott, das  war ja  Mendels Platz, Jakob Mendels, Buchmendels, und
ich war nach zwanzig Jahren  wieder in sein Hauptquartier, in das CafÊ Gluck
in  der  oberen  Alserstrañe,  geraten. Jakob  Mendel,  wie  hatte  ich  ihn
vergessen kÃnnen, so unbegreiflich lange, diesen  sonderbarsten Menschen und
sagenhaften  Mann,  dieses abseitige  Weltwunder, berØhmt an der UniversitÄt
und  in  einem  engen, ehrfØrchtigen Kreis  -  wie ihn  aus  der  Erinnerung
verlieren, ihn, den Magier und Makler der BØcher, der hier tÄglich unentwegt
sañ von morgens bis abends,  ein Wahrzeichen des Wissens, Ruhm  und Ehre des
CafÊ Gluck!
     Und nur diese  eine Sekunde lang muñte ich  den Blick nach innen wenden
hinter die  Lider, und  aufstieg  schon  aus dem bildnerisch  erhellten Blut
seine unverkennbare, plastische Gestalt. Ich  sah ihn sofort leibhaftig, wie
er  dort  immer sañ  an  dem viereckigen  Tischchen mit  der grauschmutzigen
Marmorplatte, der allzeit mit BØchern und Schriften ØberhÄuften. Wie er dort
unentwegt und unerschØtterlich sañ, den  bebrillten  Blick hypnotisch  starr
auf  ein Buch geheftet, wie er  dort  sañ und im Lesen summend  und brummend
seinen  KÃrper  und  die  schlecht  polierte,   fleckige  Glatze   vor-  und
zurØckschaukelte, eine Gewohnheit, mitgebracht aus dem Cheder, der jØdischen
Kleinkinderschule des Ostens.  Hier  an diesem Tisch  und  nur an ihm las er
seine Kataloge  und BØcher, so  wie man ihn  das  Lesen  in der Talmudschule
gelehrt, leise  singend  und  sich schwingend,  eine  schwarze,  schaukelnde
Wiege. Denn wie ein Kind in Schlaf fÄllt und  der Welt entsinkt durch dieses
rhythmisch  hypnotische  Auf  und  Nieder,  so geht nach der  Meinung  jener
Frommen auch der Geist leichter ein in die Gnade .der Versenkung dank diesem
Sichwiegen und Sichschwingen  des  mØñigen  Leibes.  Und tatsÄchlich, dieser
Jakob Mendel sah und hÃrte nichts von allem um sich  her.  Neben ihm lÄrmten
und krakeelten die Billardspieler, liefen die MarkÃre, rasselte das Telefon;
man scheuerte den Boden, man heizte den Ofen, er merkte nichts davon. Einmal
war eine glØhende Kohle aus dem Ofen  gefallen, schon brenzelte  und qualmte
zwei  Schritt  von  ihm  das  Parkett,  da erst, am  infernalischen Gestank,
bemerkte  ein Gast die Gefahr und stØrzt zu, hastig das Qualmen zu  lÃschen:
er selbst aber,  Jakob  Mendel, nur zwei Zoll weit und  schon  angebeizt vom
Rauch, er  hatte nichts wahrgenommen.  Denn  er las,  wie  andere beten, wie
Spieler spielen und Trunkene betÄubt ins Leere  starren, er las mit einer so
rØhrenden  Versunkenheit,  dañ alles  Lesen  von andern Menschen mir seither
immer  profan  erschien. In  diesem kleinen  galizischen BØchertrÃdler Jakob
Mendel  hatte  ich zum erstenmal als junger Mensch das groñe  Geheimnis  der
restlosen Konzentration gesehen, das den KØnstler macht  wie den  Gelehrten,
den wahrhaft Weisen wie den  vollkommen  Irrwitzigen, dieses tragische GlØck
und UnglØck vollkommener Besessenheit.
     HingefØhrt zu ihm  hatte mich ein  Älterer Kollege von der UniversitÄt.
Ich forschte damals dem selbst heute noch nur wenig erkannten paracelsischen
Arzt  und Magnetiseur  Mesmer nach,  allerdings mit wenig  GlØck;  denn  die
einschlÄgigen  Werke erwiesen  sich als unzulÄnglich, und der  Bibliothekar,
den  ich argloser Neuling um Auskunft gebeten, murrte  mich unfreundlich an,
Literaturnachweise seien meine Sache, nicht die seine. Damals nannte mir nun
jener  Kollege  zum erstenmal  seinen Namen. "Ich  geh mit  dir zu  Mendel",
versprach  er mir, "der  weiñ  alles und verschafft alles, der holt dir  das
entlegenste  Buch  aus dem  vergessensten deutschen Antiquariat  heran.  Der
tØchtigste Mann in Wien und Øberdies noch ein  Original,  ein  vorweltlicher
BØcher-Saurier aussterbender Rasse."
     So  gingen  wir  zu  zweit  ins  CafÊ Gluck,  und  siehe,  da  sañ  er,
Buchmendel,  bebrillt,  bartumschludert, schwarz angetan,  und  wiegte  sich
lesend wie  ein dunkler Busch im Wind. Wir traten heran, er merkte es nicht.
Er sañ nur und las und wiegte den OberkÃrper pagodenhaft hin und zurØck Øber
den  Tisch,  und hinter ihm  pendelte  am  Haken  sein  brØchiger  schwarzer
Paletot,  gleichfalls breit  angestopft mit Zeitschriften und Zettelwerk. Um
uns anzukØndigen, hustete mein Freund krÄftig. Aber Mendel, die dicke Brille
hart ans Buch  gedrØckt, merkte noch nichts. Endlich klopfte mein Freund auf
die Tischplatte, genau so  laut und krÄftig, wie man an eine TØre pocht - da
starrte  Mendel  endlich  auf,  schob  die ungefØge  stahlgerÄnderte  Brille
mechanisch  rasch die Stirn empor,  und  unter den weggestrÄubten aschgrauen
Brauen stachen uns zwei merkwØrdige  Augen entgegen, kleine, schwarze, wache
Augen,  flink,  spitz und  flippend  wie eine  Schlangenzunge.  Mein  Freund
prÄsentierte  mich, und  ich erlÄuterte mein Anliegen, wobei  ich  zuerst  -
diese List hatte mein Freund ausdrØcklich anempfohlen mich scheinzornig Øber
den Bibliothekar beklagte, der mir keine Auskunft hatte geben wollen. Mendel
lehnte sich  zurØck und spuckte sorgfÄltig  aus. Dann lachte er nur kurz mit
stark Ãstlichem Jargon: "Nicht gewollt hat er? Nein - nicht gekonnt  hat er!
Ein  Parch is  er, ein geschlagener Esel mit graue  Haar. Ich kenn ihn, Gott
sei's geklagt, zu gutem schon zwanzig Jahr, aber gelernt hat er seitdem noch
immer  nix.  Gehalt  einstecken,  dos  is  das  einzige,  was  die   kÃnnen!
Ziegelsteine sollten sie lieber schupfen, diese Herrn Doktors, statt bei die
BØcher sitzen."
     Mit dieser  krÄftigen Herzentladung  war  das Eis  gebrochen, und  eine
gutmØtige  Handbewegung  lud mich  zum  erstenmal  an  den viereckigen,  mit
Notizen  Øberschmierten  Marmortisch,  diesen  mir  noch  unbekannten  Altar
bibliophiler  Offenbarungen.  Ich  erklÄrte   rasch   meine   WØnsche:   die
zeitgenÃssischen  Werke  Øber  Magnetismus  sowie  alle  spÄteren BØcher und
Polemiken fØr und gegen Mesmer;  sobald  ich  fertig war,  kniff Mendel eine
Sekunde das linke Auge zusammen, genau wie ein SchØtze vor  dem  Schuñ. Aber
wahrhaftig,   nur   eine   Sekunde   dauerte  diese   Geste   konzentrierter
Aufmerksamkeit,  dann  zÄhlte  er sofort, wie aus einem unsichtbaren Katalog
lesend, zwei oder drei Dutzend BØcher  flieñend auf,  jedes mit  Verlagsort,
Jahreszahl und ungefÄhrem Preis. Ich war verblØfft. Obwohl vorbereitet, dies
hatte ich nicht erwartet. Aber meine Verdutztheit schien ihm wohlzutun; denn
sofort  spielte er auf der Klaviatur  seines GedÄchtnisses die wunderbarsten
bibliothekarischen  Paraphrasen  meines Themas weiter. Ob  ich auch Øber die
Somnambulisten etwas wissen wolle  und Øber die ersten Versuche  mit Hypnose
und Øber Gañner, die TeufelsbeschwÃrungen und die Christian  Science und die
Blavatsky? Wieder prasselten die Namen, die Titel, die Beschreibungen; jetzt
erst begriff  ich, an  ein wie  einzigartiges Wunder von GedÄchtnis  ich bei
Jakob  Mendel  geraten   war,   tatsÄchlich  an   ein  Lexikon,   an   einen
Universalkatalog  auf   zwei  Beinen.  Ganz   benommen  starrte  ich  dieses
bibliographische PhÄnomen an, eingespult  in die  unansehnliche, sogar etwas
schmierige HØlle eines galizischen kleinen BuchtrÃdlers, der, nachdem er mir
etwa achtzig  Namen  heruntergerasselt,  scheinbar achtlos,  aber  innerlich
wohlgefÄllig Øber seinen ausgespielten Trumpf, sich  die  Brille  mit  einem
vormals vielleicht weiñ gewesenen Taschentuch  putzte. Um  mein Staunen  ein
wenig zu bemÄnteln, fragte ich  zaghaft,  welche von diesen  BØchern er  mir
allenfalls besorgen kÃnne. "Nu, man  wird  ja sehen, was  sich machen lÄñt",
brummte  er.  "Kommen Sie  nur  morgen wieder  her, der  Mendel  wird  Ihnen
inzwischen  schon  eppes auftreiben, und  was  sich  nicht findet, werd sich
anderswo  finden.  Wenn  einer  Sechel hat, hat er  auch GlØck."  Ich dankte
hÃflich und stolperte aus lauter HÃflichkeit sofort in  eine  dicke Dummheit
hinein,  indem  ich  vorschlug,  ihm meine gewØnschten  Buchtitel  auf einen
Zettel zu notieren. Im gleichen  Augenblick spØrte ich schon einen warnenden
Ellbogenstoñ  meines Freundes.  Aber zu spÄt!  Schon  hatte mir Mendel einen
Blick zugeworfen  - welch einen Blick! -, einen gleichzeitig triumphierenden
und   beleidigten,  einen  hÃhnischen   und   Øberlegenen,   einen  geradezu
kÃniglichen  Blick, den shakespearischen  Blick Macbeths,  wenn  Macduff dem
unbesiegbaren  Helden  zumutet,  sich  kampflos  zu ergeben.  Dann lachte er
abermals kurz,  der groñe Adamsapfel an seiner Kehle kollerte merkwØrdig hin
und her, anscheinend  hatte  er ein  grobes Wort  mØhsam verschluckt. Und er
wÄre  im  Recht  gewesen mit  jeder erdenklichen  Grobheit, der  gute, brave
Buchmendel;  denn nur ein Fremder, ein Ahnungsloser (ein "Amhorez",  wie  er
sagte) konnte eine derart beleidigende Zumutung stellen,  ihm, Jakob Mendel,
einen   Buchtitel  aufzunotieren   wie  einem   Buchhandlungslehrling   oder
Bibliotheksdiener,   als  ob  dieses  unvergleichliche,   dieses  diamantene
Buchgehirn  solch grober  Hilfsmittel  jemals  bedurft  hÄtte.  Erst  spÄter
begriff ich, wie sehr ich sein abseitiges Genie mit diesem hÃflichen Angebot
gekrÄnkt  haben  muñte; denn dieser kleine,  zerdrØckte, ganz in seinen Bart
eingewickelte  und Øberdies  bucklige galizische Jude Jakob  Mendel  war ein
Titan des GedÄchtnisses.  Hinter dieser  kalkigen, schmutzigen,  von  grauem
Moos Øberwucherten Stirn stand in der unsichtbaren Geisterschrift jeder Name
und Titel wie mit Stahlguñ  eingestanzt,  der je auf einem  Titelblatt eines
Buches gedruckt war. Er wuñte  von jedem Werk,  dem gestern erschienenen wie
von  einem  zweihundert  Jahre   alten,  auf   den  ersten  Hieb  genau  den
Erscheinungsort,  den  Verfasser,  den  Preis,  neu  und  antiquarisch,  und
erinnerte sich  bei jedem Buch mit fehlloser Vision zugleich  an Einband und
Illustrationen  und Faksimilebeigaben, er sah jedes Werk, ob er es selbst in
den HÄnden gehabt  oder nur von fern in einer Auslage oder Bibliothek einmal
erspÄht  hatte,  mit  der gleichen optischen Deutlichkeit wie der schaffende
KØnstler sein  inneres und der  andern  Welt noch unsichtbares  Gebilde.  Er
erinnerte   sich,   wenn  etwa   ein  Buch  im  Katalog  eines  Regensburger
Antiquariats  um sechs  Mark  angeboten wurde, sofort,  dañ ebendasselbe  in
einem anderen  Exemplar  vor zwei Jahren  in  einer Wiener Auktion  um  vier
Kronen zu haben gewesen war,  und zugleich auch  des Erstehers;  nein: Jakob
Mendel  vergañ nie einen  Titel,  eine Zahl,  er kannte jede  Pflanze, jedes
Infusorium, jeden  Stern in dem ewig  schwingenden und stÄndig umgerØttelten
Kosmos des BØcherweltalls. Er wuñte in jedem Fach mehr als die Fachleute, er
beherrschte die Bibliotheken  besser als die  Bibliothekare,  er  kannte die
Lager der  meisten  Firmen auswendig besser als ihre  Besitzer,  trotz ihren
Zetteln  und  Kartotheken,  indes ihm nichts  zu Gebote stand als Magie  des
Erinnerns,  als  dies  unvergleichliche,  dies  nur   an  hundert  einzelnen
Beispielen wahrhaft zu explizierende GedÄchtnis. Freilich, dieses GedÄchtnis
hatte nur so dÄmonisch unfehlbar sich schulen und gestalten kÃnnen durch das
ewige Geheimnis jeder Vollendung: durch Konzentration. Auñerhalb der  BØcher
wuñte dieser merkwØrdige Mensch nichts von der Welt; denn alle PhÄnomene des
Daseins begannen fØr ihn  erst wirklich zu werden, wenn sie in Lettern  sich
umgossen,  wenn sie in einem Buche sich gesammelt und gleichsam sterilisiert
hatten. Aber auch diese BØcher selbst las er nicht auf ihren Sinn, auf ihren
geistigen  und  erzÄhlerischen   Gehalt:  nur  ihr  Name,  ihr  Preis,  ihre
Erscheinungsform,  ihr   erstes   Titelblatt  zog  seine   Leidenschaft  an.
Unproduktiv  und unschÃpferisch im letzten, bloñ ein hunderttausendstelliges
Verzeichnis   von  Titeln   und  Namen,  in  die  weiche  Gehirnrinde  eines
SÄugetieres eingestempelt statt wie sonst in  einen Buchkatalog geschrieben,
war  dies spezifisch antiquarische GedÄchtnis Jakob Mendels jedoch in seiner
einmaligen  Vollendung als PhÄnomen nicht geringer  als jenes  Napoleons fØr
Physiognomien, Mezzofantis  fØr  Sprachen,  eines  Lasker fØr SchachanfÄnge,
eines Busoni fØr  Musik.  Eingesetzt  in ein  Seminar,  an  eine Ãffentliche
Stelle,  hÄtte  das  Gehirn  Tausende,  Hunderttausende  von  Studenten  und
Gelehrte  belehrt  und  erstaunt,  fruchtbar  fØr  die  Wissenschaften,  ein
unvergleichlicher  Gewinn  fØr  jene  Ãffentlichen  Schatzkammern,  die  wir
Bibliotheken  nennen.  Aber  diese  obere  Welt   war   ihm,   dem  kleinen,
ungebildeten  galizischen  BuchtrÃdler,   der  nicht  viel  mehr  als  seine
Talmudschule  bewÄltigt,  fØr  ewig   verschlossen;   so  vermochten   diese
phantastischen FÄhigkeiten  sich  nur als Geheimwissenschaft auszuwirken  an
jenem Marmortische des CafÊ  Gluck. Doch  wenn  einmal  der groñe Psychologe
kommt (dies Werk fehlt noch immer unserer geistigen Welt), der so beharrlich
und  geduldig,  wie Buffon  die  Abarten  der Tiere ordnete und  klassierte,
seinerseits alle Spielarten,  Spezies  und Urformen der magischen Macht, die
wir GedÄchtnis nennen, vereinzelt schildert und in  ihren Varianten darlegt,
dann mØñte  er Jakob Mendels gedenken, dieses Genies der Preise  und  Titel,
dieses namenlosen Meisters der antiquarischen Wissenschaft.
     Dem Berufe nach und fØr die Unwissenden  galt Jakob Mendel freilich nur
als  kleiner  Buchschacherer. Allsonntags  erschienen in der  "Neuen  Freien
Presse"  und  im "Neuen  Wiener  Tagblatt" dieselben  stereotypen  Anzeigen:
"Kaufe  alte  BØcher,  zahle  beste  Preise,  komme  sofort,  Mendel,  obere
Alserstrañe", und dann eine Telefonnummer, die in Wirklichkeit jene des CafÊ
Gluck war. Er stÃberte Lager durch, schleppte mit einem alten kaiserbÄrtigen
Dienstmann  allwÃchentlich  neue Beute  in sein Hauptquartier  und von  dort
wieder  weg,  denn  fØr  einen  ordnungsmÄñigen  Buchhandel  fehlte ihm  die
Konzession. So blieb es beim kleinen Schacher, bei einer wenig eintrÄglichen
TÄtigkeit.  Studenten  verkauften ihm ihre  LehrbØcher,  durch  seine  HÄnde
wanderten sie vom Älteren Jahrgang zum jeweils jØngeren, auñerdem vermittele
und besorgte er jedes gesuchte Werk mit geringem Zuschlag. Bei ihm war guter
Rat  billig. Aber das Geld hatte keinen Raum innerhalb seiner Welt; denn nie
hatte man  ihn  anders  gesehen als  im  gleichen  abgeschabten Rock,  frØh,
nachmittags und  abends seine Milch verzehrend und  zwei Brote, mittags eine
Kleinigkeit  essend,  die  man  ihm vorn Gasthaus  herØberholte. Er  rauchte
nicht, er spielte nicht, ja man darf sagen, er  lebte nicht, nur  die beiden
Augen lebten hinter der Brille und fØtterten jenes rÄtselhafte Wesen  Gehirn
unablÄssig mit Worten, Titeln und Namen.  Und die  weiche, fruchtbare  Masse
sog  diese  FØlle  gierig  in sich ein  wie eine Wiese die tausend und  aber
tausend Tropfen eines Regens. Die Menschen interessierten ihn nicht, und von
allen  menschlichen  Leidenschaften  kannte  er  vielleicht  nur  die  eine,
freilich allermenschlichste,  der  Eitelkeit.  Wenn  jemand zu ihm  um  eine
Auskunft  kam,  an hundert andern Stellen schon mØde gesucht, und er  konnte
auf  den  ersten  Hieb ihm  Bescheid  geben, dies allein wirkte auf  ihn als
Genugtuung, als Lust, und vielleicht noch dies, dañ in Wien und auswÄrts ein
paar Dutzend Menschen  lebten, die seine Kenntnisse ehrten und brauchten. In
jedem dieser ungefØgen Millionenkonglomerate, die wir Groñstadt nennen, sind
immer an wenigen  Punkten einige kleine Facetten  eingesprengt, die ein  und
dasselbe Weltall  auf  kleinwinziger  FlÄche spiegeln,  unsichtbar  fØr  die
meisten, kostbar bloñ dem Kenner, dem Bruder  in der Leidenschaft. Und diese
Kenner der BØcher kannten alle Jakob Mendel. So wie man, wenn man  Øber  ein
Musikblatt  Rat holen wollte,  zu Eusebius  Mandyczewski in die Gesellschaft
der Musikfreunde  ging,  der dort mit  grauem  KÄppchen  freundlich inmitten
seiner Akten  und  Noten sañ und  mit  dem ersten  aufschauenden  Blick  die
schwierigsten Probleme lÄchelnd lÃste, so  wie  heute noch jeder,  der  Øber
Altwiener  Theater  und  Kultur  Aufschluñ braucht,  unfehlbar  sich  an den
allwissenden Vater Glossy wendet, so pilgerten mit der gleichen vertrauenden
SelbstverstÄndlichkeit die  paar strengglÄubigen Wiener Bibliophilen, sobald
es  eine besonders harte Nuñ zu knacken gab, ins CafÊ Gluck zu Jakob Mendel.
Bei  einer  solchen  Konsultation  Mendel  zuzusehen  bereitete  mir  jungem
neugierigem Menschen eine Wollust besonderer Art. WÄhrend er sonst, wenn man
ihm ein  minderes  Buch vorlegte,  den Deckel verÄchtlich  zuklappte und nur
murrte: "Zwei Kronen", rØckte er vor  irgendeiner  RaritÄt oder einem Unikum
respektvoll zurØck,  legte  ein Papierblatt  unter, und man sah, dañ er sich
auf  einmal seiner schmutzigen, tintigen, schwarznÄgeligen  Finger  schÄmte.
Dann  begann  er zÄrtlich-vorsichtig, mit einer ungeheuren  Hochachtung  das
Rarum anzublÄttern,  Seite  fØr Seite.  Niemand konnte ihn  in einer solchen
Sekunde  stÃren,  so  wenig  wie  einen  wirklich  GlÄubigen im  Gebet,  und
tatsÄchlich hatte  dies Anschauen,  BerØhren,  Beriechen und  AbwÄgen, hatte
jede dieser Einzelhandlungen etwas  von  dem  Zeremoniell,  von der kultisch
geregelten  Aufeinanderfolge eines religiÃsen Aktes. Der krumme RØcken schob
sich hin und her, dabei murrte  und knurrte  er, kratzte sich im Haar, stieñ
merkwØrdige vokalische Urlaute  aus,  ein gedehntes, fast erschrockenes "Ah"
und  "Oh" hingerissener  Bewunderung und dann wieder ein  rapid erschrecktes
"Oi" oder "Oiweh", wenn sich eine Seite als fehlend oder  ein Blatt  als vom
Holzwurm zerfressen erwies. Schlieñlich  wog er die Schwarte respektvoll auf
der   Hand,   beschnØffelte   und   beroch   das  ungefØgige   Quadrat   mit
halbgeschlossenen  Augen  nicht minder  ergriffen  als ein sentimentalisches
MÄdchen eine  Tuberose. WÄhrend dieser etwas  umstÄndlichen  Prozedur  muñte
selbstredend der Besitzer seine Geduld zusammenhalten. Nach beendetem Examen
aber  gab Mendel bereitwillig, ja geradezu begeistert, jede Auskunft, an die
sich unfehlbar  weitspurige  Anekdoten  und  dramatische  Preisberichte  von
Ähnlichen Exemplaren anschlossen. Er  schien  heller, jØnger,  lebendiger zu
werden in solchen  Sekunden, und nur eines konnte ihn mañlos erbittern: wenn
etwa  ein Neuling ihm fØr diese SchÄtzung Geld anbieten wollte. Dann wich er
gekrÄnkt   zurØck  wie  etwa  ein  Galeriehofrat,   dem  ein  durchreisender
Amerikaner  fØr seine ErklÄrung ein Trinkgeld in die Hand drØcken will; denn
ein kostbares Buch in der Hand haben zu dØrfen bedeutete fØr Mendel, was fØr
einen  andern  die Begegnung mit  einer Frau. Diese  Augenblicke waren seine
platonischen LiebesnÄchte. Nur das Buch, niemals Geld hatte Øber ihn  Macht.
Vergebens  versuchten darum groñe  Sammler, darunter  auch  der  GrØnder der
UniversitÄt in Princeton, ihn fØr ihre  Bibliothek als Berater und EinkÄufer
zu gewinnen - Jakob Mendel lehnte ab; er war  nicht anders zu  denken als im
CafÊ Gluck. Vor  dreiunddreiñig  Jahren, mit  noch weichem, schwarzflaumigem
Bart und geringelten Stirnlocken, war er,  ein  kleines schiefes JØngel, aus
dem Osten  nach Wien gekommen, um Rabbinat zu studieren; aber bald hatte  er
den  harten  Eingott  Jehovah   verlassen,   um  sich  der  funkelnden   und
tausendfÄltigen VielgÃtterei der BØcher  zu  ergeben. Damals hatte er zuerst
ins  CafÊ Gluck  gefunden,  und allmÄhlich  wurde es  seine Werkstatt,  sein
Hauptquartier, sein. Postamt, seine Welt. Wie ein Astronom einsam auf seiner
Sternwarte  durch  den winzigen  Rundspalt  des Teleskops  allnÄchtlich  die
Myriaden  Sterne  betrachtet,  ihre geheimnisvollen  GÄnge,  ihr  wandelndes
Durcheinander, ihr  VerlÃschen  und  SichwiederentzØnden,  so  blickte Jakob
Mendel durch  seine  Brille  von diesem  viereckigen  Tisch  in  das  andere
Universum der BØcher, das gleichfalls  ewig kreisende  und sich umgebÄrende,
in diese Welt Øber unserer Welt.
     SelbstverstÄndlich  war er  hoch angesehen im  CafÊ  Gluck, dessen Ruhm
sich  fØr  uns  mehr  an  sein  unsichtbares  Katheder knØpfte  als  an  die
Patenschaft  des  hohen  Musikers,  des  SchÃpfers  der  "Alceste"  und  der
"Iphigenia": Christoph Willibald Gluck.  Er gehÃrte dort ebenso zum Inventar
wie die alte Kirschholzkasse,  wie  die beiden arg geflickten Billarde,  der
kupferne Kaffeekessel, und sein Tisch wurde  gehØtet wie ein Heiligtum. Denn
seine  zahlreichen Kundschaften  und Auskundschafter wurden von dem Personal
jedesmal freundlich  zu irgendeiner  Bestellung gedrÄngt, so dañ der grÃñere
Gewinnteil  seiner  Wissenschaft eigentlich  dem Oberkellner Deubler  in die
breite,  hØftwÄrts  getragene  Ledertasche  floñ.  DafØr  genoñ   Buchmendel
vielfache Privilegien. Das Telephon stand ihm frei, man hob ihm seine Briefe
auf und besorgte alle Bestellungen;  die alte, brave Toilettenfrau  bØrstete
ihm den Mantel, nÄhte KnÃpfe an und trug  ihm jede Woche ein  kleines BØndel
zur  WÄsche.   Ihm  allein  durfte  aus  dem   nachbarlichen  Gasthaus  eine
Mittagsmahlzeit geholt werden, und jeden Morgen kam  der Herr  Standhartner,
der Besitzer, in  persona an seinen  Tisch und begrØñte ihn (freilich meist,
ohne  dañ Jakob Mendel, in  seine  BØcher vertieft,  diesen Gruñ  bemerkte).
Punkt halb acht Uhr  morgens  trat  er ein,  und erst  wenn man die  Lichter
auslÃschte, verlieñ er das Lokal. Zu den andern GÄsten sprach er nie, er las
keine Zeitung, bemerkte keine VerÄnderung, und als der Herr Standhartner ihn
einmal hÃflich  fragte,  ob er bei  dem elektrischen Licht nicht besser lese
als frØher  bei dem  fahlen,  zuckenden  Schein der  Auerlampen, starrte  er
verwundert zu den  GlØhbirnen auf: diese VerÄnderung war  trotz dem LÄrm und
GehÄmmer  einer  mehrtÄgigen Installation  vollkommen an ihm vorbeigegangen.
Nur durch die zwei runden LÃcher der Brille,  durch diese  beiden blitzenden
und saugenden Linsen filterten sich die  Milliarden schwarzer Infusorien der
Lettern in sein  Gehirn, alles  andere Geschehen strÃmte als  leerer LÄrm an
ihm  vorbei.  Eigentlich hatte  er mehr als  dreiñig Jahre,  also den ganzen
wachen  Teil seines  Lebens, einzig hier an diesem viereckigen Tisch lesend,
vergleichend, kalkulierend verbracht, in einem unablÄssig fortgesetzten, nur
vom Schlaf unterbrochenen Dauertraum.
     Deshalb Øberkam mich  eine Art Schrecken,  als ich den orakelspendenden
Marmortisch Jakob Mendels leer wie eine Grabplatte  in  diesem  Raum dÄmmern
sah.  Jetzt  erst, Älter geworden, verstand ich,  wieviel  mit jedem solchen
Menschen  verschwindet,  erstlich  weil  alles  Einmalige  von  Tag  zu  Tag
kostbarer wird in unserer rettungslos einfÃrmiger  werdenden Welt. Und dann:
der junge,  unerfahrene Mensch in mir  hatte aus  einer tiefen Ahnung diesen
Jakob  Mendel  sehr lieb gehabt.  Und  doch,  ich  hatte vergessen kÃnnen  -
allerdings in  den  Jahren des Krieges  und  in  einer der seinen  Ähnlichen
Hingabe an das eigene Werk. Jetzt aber, vor diesem leeren Tische, fØhlte ich
eine Art Scham vor ihm und eine erneuerte Neugier zugleich.
     Denn wo war er hin, was war mit ihm geschehen? Ich rief den Kellner und
fragte.  Nein, einen  Herrn Mendel,  bedaure, den kenne  er nicht, ein  Herr
dieses Namens verkehre nicht im CafÊ. Aber  vielleicht wisse der Oberkellner
Bescheid. Dieser schob seinen Spitzbauch schwerfÄllig heran, zÃgerte, dachte
nach,  nein,  auch ihm  sei ein Herr  Mendel  nicht  bekannt.  Aber  ob  ich
vielleicht den Herrn  Mandl meine, den Herrn Mandl vom  KurzwarengeschÄft in
der Florianigasse? Ein bitterer Geschmack kam mir auf die  Lippen, Geschmack
von VergÄnglichkeit: wozu lebt man, wenn der Wind  hinter unserm Schuh schon
die  letzte Spur  von uns wegtrÄgt? Dreiñig Jahre, vierzig vielleicht, hatte
ein Mensch  in diesen  paar  Quadratmetern  Raum geatmet,  gelesen, gedacht,
gesprochen,  und bloñ  drei Jahre,  vier  Jahre  muñten hingehen,  ein neuer
Pharao kommen, und man wuñte nichts mehr von Joseph, man wuñte im CafÊ Gluck
nichts mehr von Jakob Mendel, dem Buchmendel! Beinahe zornig fragte  ich den
Oberkellner, ob ich nicht Herrn  Standhartner sprechen kÃnne,  oder ob nicht
sonst wer im Hause sei vom alten Personal? Oh, der Herr Standhartner, o mein
Gott, der  habe lÄngst das CafÊ  verkauft, der sei gestorben, und  der  alte
Oberkellner, der lebe  jetzt  auf seinem GØtel bei Krems. Nein,  niemand sei
mehr  da . . .  oder doch!  Ja doch - die Frau Sporschil  sei  noch  da, die
Toilettenfrau  (vulgo Schokoladefrau).  Aber die kÃnne sich gewiñ nicht mehr
an die einzelnen  GÄste  erinnern. Ich  dachte  gleich:  einen Jakob  Mendel
vergiñt man nicht, und lieñ sie mir kommen.
     Sie  kam,  die Frau Sporschil,  weiñhaarig,  zerrauft,  mit  ein  wenig
wassersØchtigen Schritten aus ihren  hintergrØndigen GemÄchern und rieb sich
noch  hastig die roten HÄnde mit einem  Tuch: offenbar hatte sie  gerade ihr
trØbes Gelañ gefegt oder Fenster geputzt. An ihrer unsicheren Art merkte ich
sofort:  ihr  war's  unbehaglich, so plÃtzlich nach vorn  unter  die  groñen
GlØhbirnen  in den noblen Teil des  CafÊs gerufen zu werden. So sah sie mich
zunÄchst  miñtrauisch an,  mit einem  Blick von  unten  herauf,  einem  sehr
vorsichtig  geduckten Blick. Was konnte ich Gutes von ihr wollen?  Aber kaum
dañ ich  nach  Jakob Mendel  fragte, starrte sie  mich  mit vollen, geradezu
strÃmenden Augen an, die  Schultern fuhren ihr ruckhaft auf. "Mein Gott, der
arme Herr Mendel, dañ an den noch  jemand denkt! Ja, der arme Herr Mendel" -
fast  weinte sie, so gerØhrt war sie, wie alte Leute es  immer werden,  wenn
man  sie  an  ihre  Jugend,  an  irgendeine  gute  vergessene  Gemeinsamkeit
erinnert.  Ich fragte, ob er noch lebe. "O mein Gott,  der arme Herr Mendel,
fØnf oder  sechs Jahre, nein, sieben  Jahre  muñ der  schon  tot sein. So  a
lieber, guter Mensch, und wenn ich  denk, wie lang ich ihn  kennt hab,  mehr
als fØnfundzwanzig Jahr, er  war  doch schon da, wie ich eintreten  bin. Und
eine  Schand  war's,  wie  man ihn hat  sterben  lassen."  Sie  wurde  immer
aufgeregter, fragte, ob ich ein Verwandter sei. Es hÄtte sich ja  nie jemand
um ihn gekØmmert,  nie  jemand nach ihm erkundigt - und  ob ich  denn  nicht
wisse, was mit ihm passiert sei?
     Nein, ich wØñte  nichts, versicherte ich; sie solle mir erzÄhlen, alles
erzÄhlen. Die gute Person tat scheu und geniert und wischte immer  wieder an
ihren nassen HÄnden. Ich begriff: ihr war es peinlich, als Toilettenfrau mit
ihrer schmutzigen SchØrze und ihren zerstrubbelten weiñen Haaren hier mitten
im  Kaffeehausraum zu stehen,  auñerdem  blickte  sie immer  Ängstlich  nach
rechts und links, ob nicht einer der Kellner zuhÃre.  So schlug ich ihr vor,
wir  wollten hinein in das Spielzimmer,  an Mendels alten Platz: dort  solle
sie mir  alles belichten. GerØhrt nickte sie  mir zu,  dankbar, dañ ich  sie
verstand, und King voraus, die alte, schon ein wenig  schwankende Frau,  und
ich hinter  ihr. Die beiden Kellner staunten  uns nach, sie spØrten da einen
Zusammenhang, und auch einige  GÄste verwunderten  sich  Øber uns ungleiches
Paar. Und  drØben  an  seinem  Tisch  erzÄhlte  sie  mir (manche  Einzelheit
ergÄnzte mir spÄter anderer  Bericht) von  Jakob  Mendels,  von  Buchmendels
Untergang.
     Ja also,  er sei, so  erzÄhlte  sie, auch nachher noch, als  der  Krieg
schon begonnen,  immer noch gekommen, Tag  um Tag um halb acht Uhr frØh, und
genau  so sei er gesessen und habe er den ganzen Tag studiert wie immer, ja,
sie  hÄtten  alle das  GefØhl gehabt  und oft darØber geredet, ihm sei's gar
nicht zum  Bewuñtsein  gekommen,  dañ  Krieg sei.  Ich wisse doch,  in  eine
Zeitung  habe er nie geschaut und nie mit  wem andern gesprochen;  aber auch
wenn  die Ausrufer ihren  MordslÄrm mit  den ExtrablÄttern  machten und alle
andern zusammenliefen,  nie sei er da  aufgestanden oder hÄtte zugehÃrt.  Er
habe auch  gar nicht  gemerkt,  dañ  der Franz fehle, der  Kellner  (der bei
Gorlice  gefallen  sei),  und nicht gewuñt,  dañ  sie  den  Sohn  vom  Herrn
Standhartner bei Przemysl gefangen hatten, und nie kein Wort habe er gesagt,
wie das Brot immer miserabler geworden ist und man ihm statt  der  Milch das
elende  Feigenkaffeegschlader hat  geben  mØssen. Nur einmal  habe  er  sich
gewundert, dañ jetzt so wenig Studenten kÄmen, das  war alles. - "Mein Gott,
der  arme  Mensch,  den  hat  doch nichts  gefreut  und gekØmmert  als seine
BØcher."
     Aber dann  eines  Tags,  da  sei  das  UnglØck  geschehen. Um  elf  Uhr
vormittags,  am  hellichten   Tag,  sei  ein  Wachmann  gekommen  mit  einem
Geheimpolizisten, der hÄtte die Rosette gezeigt im Knopfloch und gefragt, ob
hier ein Jakob Mendel verkehre. Dann wÄren sie gleich an  den Tisch gegangen
zum  Mendel, und  der  hÄtte ahnungslos  noch geglaubt,  sie wollten  BØcher
verkaufen oder  ihn  was  fragen. Aber  gleich hÄtten  sie ihn aufgefordert,
mitzukommen,  und  ihn  weggefØhrt.  Eine  rechte  Schande  sei  es fØr  das
Kaffeehaus gewesen, alle Leute hÄtten sich  herumgestellt um den armen Herrn
Mendel, wie er dagestanden ist zwischen den beiden, die  Brille unterm Haar,
und  hin und her geschaut hat von einem zum andern  und  nicht recht gewuñt,
was sie  eigentlich von ihm wollten. Sie aber habe stante pede dem Gendarmen
gesagt, das mØsse  ein Irrtum  sein, ein Mann wie  Herr  Mendel kÃnne keiner
Fliege was tun; aber da habe  der Geheimpolizist sie gleich angeschrien, sie
solle  sich  nicht in  Amtshandlungen  einmischen. Und dann  hÄtten  sie ihn
weggefØhrt,  und er sei lange  nicht mehr gekommen, zwei  Jahre  lang.  Noch
heute  wisse sie nicht recht, was die damals von  ihm gewollt hÄtten.  "Aber
ich leist ein Jurament", sagte sie erregt, die  alte  Frau, "der Herr Mendel
kann nichts Unrechtes getan haben. Die haben sich  geirrt, da leg  ich meine
Hand ins Feuer.  Es war ein Verbrechen an dem  armen, unschuldigen Menschen,
ein Verbrechen!"
     Und sie hatte  recht, die gute, rØhrende  Frau  Sporschil. Unser Freund
Jakob Mendel hatte wahrhaftig  nichts Unrechtes begangen,  sondern nur (erst
spÄter  erfuhr  ich  alle  Einzelheiten) eine  rasende, eine rØhrende,  eine
selbst  in  jenen  irrwitzigen  Zeiten  ganz   unwahrscheinliche   Dummheit,
erklÄrbar  bloñ  aus  der  vollkommenen  Versunkenheit, aus der Mondfernheit
seiner einmaligen  Erscheinung.  Folgendes  hatte  sich  ereignet:  auf  dem
militÄrischen  Zensuramt, das verpflichtet war,  jede  Korrespondenz mit dem
Ausland  zu  Øberwachen,  war eines Tages eine Postkarte  abgefangen worden,
geschrieben   und   unterschrieben  von   einem   gewissen   Jakob   Mendel,
ordnungsgemÄñ nach dem Ausland frankiert, aber - unglaublicher Fall - in das
feindliche  Ausland  gerichtet,   eine   Postkarte   an  Jean   Labourdaire,
BuchhÄndler, Paris, Quai de Grenelle, adressiert, in der ein  gewisser Jakob
Mendel sich beschwerte, die letzten acht Nummern des  monatlichen  "Bulletin
bibliographique  de la France"  trotz vorausbezahltem Jahresabonnement nicht
erhalten    zu   haben.   Der   eingestellte   untere    Zensurbeamte,   ein
Gymnasialprofessor,   in   Privatneigung  Romanist,  dem  man  einen  blauen
Landsturmrock  umgestØlpt hatte, staunte, als ihm dieses SchriftstØck in die
HÄnde kam. Ein dummer Spañ, dachte er. Unter den zweitausend Briefen, die er
allwÃchentlich auf dubiose  Mitteilungen  und  spionageverdÄchtige Wendungen
durchstÃberte und durchleuchtete, war ihm ein so  absurdes  Faktum  noch nie
unter  die  Finger gekommen,  dañ  jemand  aus  ãsterreich einen Brief  nach
Frankreich ganz sorglos adressierte, also ganz gemØtlich  eine Karte in  das
kriegfØhrende  Ausland so  einfach  in den  Postkasten  warf,  als ob  diese
Grenzen seit 1914 nicht umnÄht wÄren mit Stacheldraht und  an jedem von Gott
geschaffenen Tage  Frankreich,  Deutschland,  ãsterreich  und  Ruñland  ihre
mÄnnliche  Einwohnerzahl gegenseitig um  ein paar tausend  Menschen kØrzten.
ZunÄchst   legte  er  deshalb   die  Postkarte   als   Kuriosum   in   seine
Schreibtischlade,  ohne von dieser  AbsurditÄt weitere Meldung zu erstatten.
Aber nach einigen Wochen kam abermals  eine  Karte desselben Jakob Mendel an
einen Bookseller John  Aldridge, London, Holborn Square, ob er ihm nicht die
letzten Nummern  des "Antiquarian"  besorgen kÃnnte,  und abermals  war  sie
unterfertigt von ebendemselben merkwØrdigen Individuum,  Jakob  Mendel,  das
mit rØhrender NaivitÄt  seine volle  Adresse beischrieb. Nun wurde es dem in
die Uniform  eingenÄhten Gymnasialprofessor  doch  ein  wenig eng unter  dem
Rock. Steckte am Ende irgendein rÄtselhafter chiffrierter Sinn hinter diesem
vertÃlpelten Spañ? Jedenfalls, er stand auf, klappte die Hacken zusammen und
legte  dem Major  die beiden Karten auf den Tisch.  Der  zog beide Schultern
hoch:  sonderbarer  Fall!  ZunÄchst  avisierte  er  die Polizei,  sie  solle
ausforschen,  ob es  diesen Jakob Mendel  tatsÄchlich gÄbe, und  eine Stunde
spÄter war  Jakob  Mendel bereits  dingfest  gemacht und  wurde,  noch  ganz
taumelig von der øberraschung,  vor  den  Major gefØhrt. Der legte  ihm  die
mysteriÃsen Postkarten vor, ob er sich als  Absender erkenne.  Erregt  durch
den strengen Ton und vor allem, weil man ihn bei der LektØre eines wichtigen
Katalogs aufgestÃbert hatte, polterte Mendel beinahe grob, natØrlich habe er
diese Karten geschrieben. Man habe wohl  noch das Recht,  ein Abonnement fØr
sein gezahltes Geld zu  reklamieren.  Der Major drehte sich im Sessel schief
hinØber  zu   dem  Leutnant  am  Nebentisch.   Die  beiden  blinzelten  sich
einverstÄndlich an: ein gebrannter Narr! Dann Øberlegte der Major, ob er den
Einfaltspinsel nur scharf  anbrummen und wegjagen sollte oder den Fall ernst
aufziehen. In  solchen unschlØssigen Verlegenheiten entschlieñt man sich bei
jedem Amt fast immer, zunÄchst ein Protokoll  aufzunehmen. Ein Protokoll ist
immer  gut. NØtzt  es nichts, so schadet es nichts, und  nur  ein  sinnloser
Papierbogen mehr unter Millionen ist vollgeschrieben.
     In diesem  Falle  aber schadete  es  leider einem  armen,  ahnungslosen
Menschen, denn schon bei  der dritten Frage kam etwas sehr  VerhÄngnisvolles
zutage.  Man  forderte  zuerst  seinen Namen: Jakob, recte Jainkeff  Mendel.
Beruf:  Hausierer  (er  besañ nÄmlich  keine  BuchhÄndlerlizenz,  nur  einen
Hausierschein).  Die  dritte Frage wurde  zur  Katastrophe:  der Geburtsort.
Jakob Mendel nannte einen kleinen Ort bei Petrikau. Der Major zog die Brauen
hoch.  Petrikau,   lag  das  nicht  in  Russisch-Polen,  nahe  der   Grenze?
VerdÄchtig! Sehr verdÄchtig! So inquirierte er  nun strenger,  wann  er  die
Ãsterreichische StaatsbØrgerschaft erworben habe. Mendels Brille starrte ihn
dunkel und verwundert an: er verstand nicht recht. Zum Teufel,  ob und wo er
seine  Papiere  habe,  seine   Dokumente?  Er  habe  keine  andern  als  den
Hausierschein. Der Major schob die Stirnfalten immer  hÃher. Also wie es mit
seiner StaatsbØrgerschaft stehe, solle er endlich einmal erklÄren. Was  sein
Vater gewesen  sei,  ob ãsterreicher oder Russe? Seelenruhig erwiderte Jakob
Mendel:  natØrlich  Russe. Und er  selbst?  Ach,  er  hÄtte sich  schon  vor
dreiunddreiñig Jahren Øber die russische Grenze  geschmuggelt, seither  lebe
er  in  Wien.  Der   Major  wurde  immer   unruhiger.  Wann  er   hier   das
Ãsterreichische  StaatsbØrgerrecht  erworben habe?  Wozu? fragte  Mendel. Er
habe  sich um solche Sachen nie  gekØmmert. So sei  er also  noch russischer
StaatsbØrger?  Und  Mendel,   den  diese  Ãde   Fragerei   innerlich  lÄngst
langweilte, antwortete gleichgØltig: "Eigentlich ja."
     Der  Major  warf  sich so  brØsk  erschrocken zurØck,  dañ  der  Sessel
knackte. Das gab  es  also! In  Wien, in  der  Hauptstadt ãsterreichs,  ging
mitten im Kriege, Ende 1915, nach Tarnow und der groñen Offensive, ein Russe
unbehelligt spazieren,  schrieb Briefe nach Frankreich und  England, und die
Polizei kØmmerte sich um  nichts. Und da wundern sich die  DummkÃpfe in  den
Zeitungen,  dañ   Conrad  von   HÃtzendorf  nicht   gleich   nach   Warschau
vorwÄrtsgekommen   ist,   da   staunen   sie  im   Generalstab,   wenn  jede
Truppenbewegung durch Spione nach  Ruñland  weitergemeldet  wird.  Auch  der
Leutnant  war  aufgestanden und  stellte  sich  an den Tisch:  das  GesprÄch
schaltete  sich scharf um zum VerhÃr.  Warum er sich nicht  sofort  gemeldet
habe  als  AuslÄnder?  Mendel,  noch  immer  arglos,  antwortete  in  seinem
singenden jØdischen Jargon:  "Wozu hÄtt ich mich melden  sollen auf einmal?"
In  dieser  umgedrehten Frage erblickte  der  Major eine Herausforderung und
fragte drohend, ob er nicht die AnkØndigungen gelesen habe? Nein! Ob er etwa
auch keine Zeitungen lese? Nein!
     Die  beiden  starrten  den  vor Unsicherheit  schon leicht schwitzenden
Jakob  Mendel an, als  sei der Mond mitten in ihr BØrozimmer  gefallen. Dann
rasselte das Telefon, knackten die Schreibmaschinen, liefen die Ordonnanzen,
und  Jakob  Mendel  wurde  dem GarnisonsgefÄngnis  Øberantwortet, um mit dem
nÄchsten Schub  in ein Konzentrationslager abgefØhrt  zu werden. Als man ihm
bedeutete, den beiden Soldaten zu folgen, starrte  er  ungewiñ. Er  verstand
nicht, was man von ihm wollte, aber eigentlich hatte er keinerlei Sorge. Was
konnte  der  Mann mit dem  goldenen Kragen und der groben Stimme schlieñlich
BÃses mit ihm vorhaben? In seiner obern Welt der BØcher gab es keinen Krieg,
kein Nichtverstehen, sondern  nur  das ewige Wissen und Nochmehrwissenwollen
von Zahlen und Worten, von Titeln und Namen. So trollte er gutmØtig zwischen
den beiden  Soldaten die Treppe hinunter. Erst als  man ihm auf der  Polizei
alle BØcher  aus den  Manteltaschen nahm und die Brieftasche abforderte,  in
der  er hundert wichtige Zettel  und Kundenadressen  stecken  hatte, da erst
begann  er wØtend  um  sich zu schlagen. Man muñte ihn bÄndigen. Aber  dabei
klirrte  leider seine Brille zu Boden,  und dies  sein magisches Teleskop in
die geistige Welt brach in  mehrere StØcke.  Zwei Tage spÄter expedierte man
ihn   im   dØnnen   Sommerrock   in   ein   Konzentrationslager   russischer
Zivilgefangener bei Komorn.
     Was   Jakob  Mendel   in  diesen  zwei  Jahren  Konzentrationslager  an
seelischer  Schrecknis erfahren, ohne BØcher, seine geliebten  BØcher,  ohne
Geld, inmitten der gleichgØltigen, groben, meist analphabetischen  GefÄhrten
dieses  riesigen  Menschenkotters, was  er dort  leidend erlebte, von seiner
obern und  einzigen BØcherwelt  abgetrennt wie ein Adler mit  zerschnittenen
Schwingen von seinem Ätherischen Element - hierØber fehlt jede Zeugenschaft.
Aber allmÄhlich weiñ schon die von ihrer  Tollheit ernØchterte Welt, dañ von
allen  Grausamkeiten  und verbrecherischen øbergriffen dieses Krieges  keine
sinnloser,  ØberflØssiger und  darum moralisch unentschuldbarer gewesen  als
das  Zusammenfangen  und  EinhØrden  hinter Stacheldraht  von  ahnungslosen,
lÄngst dem Dienstalter entwachsenen Zivilpersonen, die  viele  Jahre  in dem
fremden Lande als in einer  Heimat gewohnt und aus  TreuglÄubigkeit  an  das
selbst bei  Tungusen und Araukanern  geheiligte  Gastrecht versÄumt  hatten,
rechtzeitig zu fliehen - ein Verbrechen an der Zivilisation, gleich  sinnlos
begangen in Frankreich, Deutschland und England,  auf jeder Scholle  unseres
irrwitzig gewordenen Europa. Und  vielleicht  wÄre Jakob  Mendel wie hundert
andere Unschuldige in dieser HØrde dem  Wahnsinn verfallen oder an  Ruhr, an
EntkrÄftung, an  seelischer  ZerrØttung erbÄrmlich  zugrunde gegangen, hÄtte
nicht  knapp rechtzeitig ein Zufall,  ein echt  Ãsterreichischer,  ihn  noch
einmal  in seine Welt  zurØckgeholt. Es  waren  nÄmlich mehrmals nach seinem
Verschwinden an seine Adresse Briefe von vornehmen Kunden gekommen; der Graf
SchÃnberg,  der ehemalige  Statthalter  von Steiermark, fanatischer  Sammler
heraldischer Werke, der frØhere Dekan der theologischen FakultÄt Siegenfeld,
der  an  einem  Kommentar  des  Augustinus  arbeitete,   der  achtzigjÄhrige
pensionierte  Flottenadmiral Edler  von  Pisek, der  noch  immer  an  seinen
Erinnerungen  herumbesserte  -  sie  alle,  seine  treuen  Klienten,  hatten
wiederholt  an  Jakob Mendel  ins CafÊ  Gluck geschrieben,  und  von  diesen
Briefen   wurden  dem  Verschollenen   einige  in   das  Konzentrationslager
nachgeschickt. Dort  fielen  sie dem zufÄllig  gutgesinnten Hauptmann in die
HÄnde, und  der erstaunte,  was fØr vornehme  Bekanntschaften dieser  kleine
halbblinde, schmutzige Jude habe, der, seit man ihm seine Brille zerschlagen
(er hatte kein Geld, sich eine neue zu verschaffen), wie ein Maulwurf, grau,
augenlos  und  stumm in einer  Ecke hockte.  Wer solche Freunde besañ, muñte
immerhin etwas  Besonderes  sein.  So erlaubte er  Mendel, diese  Briefe  zu
beantworten und seine GÃnner  um  FØrsprache zu bitten. Die blieb nicht aus.
Mit der leidenschaftlichen SolidaritÄt aller Sammler kurbelten die Exzellenz
sowie der Dekan ihre Verbindungen krÄftig  an, und ihre  vereinte BØrgschaft
erreichte,  dañ  Buchmendel  im   Jahre  1917  nach  mehr  als  zweijÄhriger
Konfinierung wieder nach Wien zurØckdurfte,  freilich  unter der  Bedingung,
sich  tÄglich bei der Polizei zu  melden. Aber doch, er durfte wieder in die
freie Welt, in seinen alten, kleinen, engen Mansardenraum, er  konnte wieder
an seinen geliebten BØcherauslagen vorbei und vor allem zurØck in  sein CafÊ
Gluck.
     Diese RØckkehr Mendels aus  seiner  hÃllischen  Unterwelt in  das  CafÊ
Gluck  konnte mir die brave Frau Sporschil aus eigener  Erfahrung schildern.
"Eines Tages - Jessas, Marand Joseph, ich glaub,  ich trau meine Augen nicht
- da schiebt sich die TØr auf, Sie wissen ja, in der  gewissen schiefen Art,
nur grad  einen  Spalt  weit,  wie  er immer  hereingekommen ist, und  schon
stolpert   er   ins  CafÊ,  der  arme  Herr   Mendel.  Einen   zerschundenen
MilitÄrmantel  voller Stopfen  hat  er angehabt und  irgendwas am  Kopf, was
vielleicht  einmal ein  Hut war, ein  weggeworfener.  Keinen  Kragen hat  er
angehabt, und wie der Tod hat er ausgeschaut, grau  im  Gesicht und grau das
Haar und so  mager, dañ es  einen  derbarmt hat. Aber er kommt herein, grad,
als ob nix gwesen war, er fragt  nix, er sagt nix, geht hin  zu dem Tisch da
und zieht den Mantel aus, aber nicht  wie frØher  so fix und leicht, sondern
schwer schnaufen mØssen  hat er  dabei. Und  kein  Buch hat er  mitghabt wie
sonst -- er setzt sich nur hin und sagt nix, und tut nur hinstarren vor sich
mit ganz leere, ausgelaufene Augen. Erst nach und nach, wie wir ihm dann den
ganzen Pack bracht haben von die Schriften, die was fØr ihn kommen waren aus
Deutschland,  da  hat  er  wieder  angfangen zu  lesen.  Aber er  war  nicht
derselbige mehr."
     Nein,  er  war nicht  derselbe,  nicht das  Miraculum  mundi  mehr, die
magische Registratur aller  BØcher:  alle, die ihn damals sahen,  haben  mir
wehmØtig das gleiche berichtet. Irgend etwas schien rettungslos  zerstÃrt in
seinem  sonst   stillen,  nur   wie  schlafend  lesenden  Blick;  etwas  war
zertrØmmert:  der  grauenhafte  Blutkomet  muñte  in  seinem  rasenden  Lauf
schmetternd hineingeschlagen haben auch  in  den abseitigen, friedlichen, in
diesen alkyonischen  Stern seiner  BØcherwelt.  Seine Augen,  jahrzehntelang
gewÃhnt  an die zarten, lautlosen, insektenfØñigen Lettern  der Schrift, sie
muñten   Furchtbares   gesehen   haben   in   jener   stacheldrahtumspannten
MenschenhØrde, denn  die  Lider schatteten schwer  Øber den einst so flinken
und  ironisch  funkelnden  Pupillen,  schlÄfrig und  rotrandig dÄmmerten die
vordem  so  lebhaften Blicke  unter  der reparierten,  mit  dØnnem Bindfaden
mØhsam   zusammengebundenen   Brille.   Und   furchtbarer   noch:   in   dem
phantastischen   Kunstbau  seines  GedÄchtnisses   muñte  irgendein  Pfeiler
eingestØrzt und das ganze GefØge in Unordnung geraten sein; denn so zart ist
ja unser Gehirn, dies  aus subtilster Substanz gestaltete  Schaltwerk,  dies
feinmechanische  PrÄzisionsinstrument  unseres Wissens zusammengestimmt, dañ
ein gestautes Aderchen, ein erschØtterter Nerv, eine ermØdete Zelle, dañ ein
solches verschobenes MolekØl schon zureicht, um  die herrlich  umfassendste,
die  sphÄrische Harmonie eines Geistes  zum  Verstummen zu  bringen. Und  in
Mendels  GedÄchtnis,  dieser einzigen  Klaviatur des Wissens,  stockten  bei
seiner RØckkunft die  Tasten. Wenn ab und zu jemand um Auskunft kam, starrte
er  ihn erschÃpft  an und  verstand nicht mehr genau, er  verhÃrte  sich und
vergañ, was man ihm sagte - Mendel war nicht mehr Mendel, wie die Welt nicht
mehr  die Welt war.  Nicht mehr wiegte  ihn vÃllige Versunkenheit beim Lesen
auf und nieder, sondern meist sañ er starr, die Brille nur  mechanisch gegen
das Buch  gewandt, ohne  dañ man  wuñte, ob er  las  oder nur vor  sich  hin
dÄmmerte. Mehrmals fiel ihm, so crzÄhltedieSporschil, der Kopf schwer nieder
auf das  Buch, und  er schlief ein am  hellichten  Tag, manchmal starrte  er
wieder  stundenlang in das fremde stinkende Licht der Azetylenlampe, die man
ihm  in jener Zeit  der Kohlennot auf den  Tisch  gestellt. Nein, Mendel war
nicht mehr Mendel, nicht mehr ein Wunder der Welt, sondern ein mØd atmender,
nutzloser Pack Bart und  Kleider,  sinnlos  auf  dem einst pythischen Sessel
hingelastet, nicht mehr der  Ruhm des  CafÊ Gluck, sondern eine Schande, ein
Schmierfleck,  Øbelriechend, widrig  anzusehen,  ein  unbequemer,  unnÃtiger
Schmarotzer.
     So empfand ihn auch der neue Besitzer, namens Florian Gurtner aus Retz,
der, an Mehl- und Butterschiebungen  im Hungerjahr 1919  reich geworden, dem
biedern Standhartner fØr achtzigtausend rasch zerblÄtterte  Papierkronen das
CafÊ  Gluck  abgeschwatzt  hatte. Er  griff mit seinen  festen  BauernhÄnden
scharf  zu,  krempelte das  altehrwØrdige  Kaffeehaus  hastig auf  nobel um,
kaufte  fØr schlechte  Zettel  rechtzeitig neue Fauteuils, installierte  ein
Marmorportal  und  verhandelte  bereits wegen  des  Nachbarlokals,  um  eine
Musikdiele anzubauen. Bei dieser hastigen VerschÃnerung stÃrte ihn natØrlich
sehr dieser galizische Schmarotzer, der tagsØber von frØh bis nachts  allein
einen Tisch besetzt hielt und dabei im ganzen  nur zwei Schalen Kaffee trank
und  fØnf Brote verzehrte. Zwar  hatte Standhartner  ihm  seinen  alten Gast
besonders ans Herz gelegt und zu erklÄren versucht,  was fØr ein bedeutender
und wichtiger Mann  dieser Jakob Mendel  sei, er hatte ihn sozusagen bei der
øbergabe  mit  dem Inventar als ein  auf  dem Unternehmen lastendes Servitut
mitØbergeben. Aber Florian  Gurtner hatte  sich mit den neuen MÃbeln und der
blanken Aluminiumzahlkasse  auch  das  massive  Gewissen  der  Verdienerzeit
zugelegt und wartete nur auf einen Vorwand, um .diesen letzten lÄstigen Rest
vorstÄdtischer   SchÄbigkeit   aus    seinem    vornehm   gewordenen   Lokal
hinauszukehren. Ein  guter Anlañ schien sich bald einzustellen; denn es ging
Jakob Mendel schlecht. Seine letzten gesparten Banknoten waren zerpulvert in
der  PapiermØhle der Inflation,  seine  Kunden  hatten  sich verlaufen.  Und
wieder  als  kleiner  BuchtrÃdler  Treppen  zu  steigen,  BØcher  hausierend
zusammenzuraffen, dazu  fehlte  dem  MØdgewordenen  die  Kraft. Es ging  ihm
elend, man merkte das  an  hundert kleinen Zeichen. Selten lieñ er sich mehr
vom Gasthaus etwas herØberholen,  und auch  das kleinste Entgelt  fØr Kaffee
und Brot blieb er  immer lÄnger  schuldig, einmal sogar  drei  Wochen  lang.
Schon damals  wollte  ihn der Oberkellner auf die Strañe setzen. Da erbarmte
sich die brave Frau Sporschil, die Toilettenfrau, und bØrgte fØr ihn.
     Aber  im  nÄchsten  Monat  ereignete  sich dann  das  UnglØck.  Bereits
mehrmals hatte der neue Oberkellner  bemerkt, dañ  es bei der Abrechnung nie
recht  mit dem  GebÄck stimmen wollte.  Immer  mehr Brote  erwiesen sich als
fehlend,  als  angesagt  und   bezahlt  waren.  Sein  Verdacht  lenkte  sich
selbstverstÄndlich  gleich  auf Mendel;  denn  mehrmals war schon  der  alte
wacklige  Dienstmann gekommen,  um sich zu  beschweren, Mendel sei ihm  seit
einem  halben  Jahre die  Bezahlung  schuldig,  und er kÃnne  keinen  Heller
herauskriegen. So pañte  der Oberkellner jetzt besonders auf, und schon zwei
Tage spÄter gelang es ihm, hinter dem Ofenschirm  versteckt, Jakob Mendel zu
ertappen, wie er heimlich von seinem Tische aufstand, in das  andere vordere
Zimmer hinØberging,  rasch  aus  einem Brotkorb zwei  Semmeln  nahm und  sie
gierig in  sich  hineinstopfte. Bei  der  Abrechnung  behauptete  er,  keine
gegessen zu  haben.  Nun war das Verschwinden geklÄrt. Der  Kellner  meldete
sofort  den  Vorfall Herrn  Gurtner,  und  dieser,  froh  des  langgesuchten
Vorwands,  brØllte  Mendel  vor  allen  Leuten   an,  beschuldigte  ihn  des
Diebstahls  und tat sogar  noch dick, dañ er nicht sofort die  Polizei rufe.
Aber er befahl ihm, sogleich und fØr immer sich zum Teufel zu scheren. Jakob
Mendel zitterte nur, sagte nichts, stolperte auf von seinem Sitz und ging.
     "Ein  Jammer  war's",  schilderte  die  Frau  Sporschil  diesen  seinen
Abschied.  "Nie werd  ich's  vergessen, wie er aufgestanden ist, die  Brille
hinaufgeschoben in die Stirn, weiñ wie ein  Handtuch. Nicht Zeit hat er sich
genommen, den Mantel anzuziehen, obwohl's Januar war, Sie  wissen ja, damals
im  kalten  Jahr. Und sein Buch hat er liegen lassen auf dem Tisch in seinem
Schreck, ich hab's erst spÄter bemerkt und wollt's ihm noch nachtragen. Aber
da war er schon hinabgestolpert zur TØr. Und weiter auf die Strañen hatt ich
mich nicht traut; denn an die TØr hat sich der Herr  Gurtner hingstellt  und
ihm nachgschrien, dañ die  Leut stehenblieben und zusammengelaufen sind. Ja,
eine Schand war's, gschÄmt hab ich mich bis in die unterste Seel! So was hat
nicht  passieren  kÃnnen  bei dem alten Herrn  Standhartner,  dañ man  einen
ausjagt nur wegen ein  paar  Semmeln,  bei dem hÄtt  er umsonst essen kÃnnen
noch sein Leben lang. Aber die Leute von heut, die haben ja kein Herz. Einen
wegzutreiben, der Øber dreiñig Jahre wo gsessen ist Tag fØr Tag -  wirklich,
eine  Schand war's,  und  ich mÃcht's  nicht zu  verantworten haben  vor dem
lieben Gott - ich nicht."
     Ganz  aufgeregt  war  sie   geworden,  die  gute  Frau,  und  mit   der
leidenschaftlichen GeschwÄtzigkeit  des Alters wiederholte sie immer  wieder
das von  der Schand und vom Herrn Standhartner, der zu so was nicht imstande
gewesen  wÄre. So  muñte  ich  sie schlieñlich fragen,  was  denn aus unserm
Mendel  geworden  sei und  ob sie  ihn wiedergesehen. Da  rappelte sie  sich
zusammen und wurde noch erregter. "Jeden  Tag, wenn  ich vorØbergegangen hin
an seinem Tisch, jedesmal, das  kÃnnen S'  mir glauben, hat's mir einen Stoñ
geben.  Immer hab ich  denken mØssen, wo  mag er  jetzt sein,  der arme Herr
Mendel, und wenn ich gwuñt hÄtt, wo  er wohnt, ich  war hin, ihm  was Warmes
bringen; denn wo hÄtt er denn  das Geld hernehmen sollen zum heizen und  zum
Essen? Und Verwandte hat er auf der Welt, soviel ich weiñ, niemanden gehabt.
Aber schlieñlich, wie  ich  immer  und  immer nix gehÃrt hab, da hab ich mir
schon denkt, es muñ vorbei mit ihm sein, und ich  wØrd ihn nimmer sehen. Und
schon hab ich Øberlegt, ob ich nicht sollt eine Messe fØr  ihn lesen lassen;
denn  ein  guter Mensch war er, und man  hat  sich  doch  gekannt, mehr  als
fØnfundzwanzig Jahr.
     Aber einmal in der FrØh, um halb acht Uhr im Februar, ich putz grad das
Messing  an  die  Fensterstangen,  auf  einmal  (ich  mein, mich trifft  der
Schlag),  auf einmal tut sich die TØr auf,  und herein kommt der Mendel. Sie
wissen ja: immer ist er so schief  und verwirrt hereingschoben, aber diesmal
war's noch irgendwie  anders. Ich merk gleich, den reiñt's hin und her, ganz
glanzige Augen hat er gehabt und, mein Gott, wie er ausgschaut hat, nur Bein
und Bart! Sofort kommt's mir entrisch vor, wie ich ihn so seh: ich denk  mir
gleich, der weiñ  von nichts, der geht am hellichten Tag  umeinand  als  ein
Schlafeter, der  hat alles vergessen, das von  die Semmeln und das vom Herrn
Gurtner und wie schandbar  sie  ihn hinausgschmissen  haben, der weiñ nichts
von sich selber. Gott sei Dank! der Herr Gurtner war noch  nicht da, und der
Oberkellner hat grad  seinen Kaffee trunken. Da spring ich rasch  hin, damit
ich  ihm  klarmach,  er  solle  nicht  dableiben,  sich  nicht  noch  einmal
hinauswerfen lassen von dem rohen Kerl" (und dabei sah sie sich scheu um und
korrigierte rasch) "ich mein, vom Herrn Gurtner. Also, Herr Mendel', ruf ich
ihn an. Er starrt auf. Und da, in dem Augenblick, mein Gott, schrecklich war
das, in dem Augenblick muñ er sich an  alles  erinnert haben; denn er  fahrt
sofort  zusammen und  fangt  an zu zittern, aber  nicht bloñ mit die  Finger
zittert  er, nein, als  ein Ganzer  hat er gescheppert, dañ man's bis an die
Schultern kennt hat, und schon stolpert er wieder rasch auf die TØr zu. Dort
ist  er  dann zusammgfallen. Wir haben gleich  um  die  Rettungsgesellschaft
telephoniert, und  die hat ihn weggefØhrt, fiebrig, wie er war. Am Abend ist
er gestorben,  LungenentzØndung, hochgradige,  hat  der  Doktor  gesagt, und
auch, dañ er schon damals  nicht mehr recht gewuñt hat von sich, wie er noch
einmal  zu  uns  kommen ist. Es hat ihn halt nur so hergetrieben,  als einen
Schlafeten. Mein Gott,  wenn man sechsunddreiñig Jahr einmal so gesessen ist
jeden Tag, dann ist eben so ein Tisch einem sein Zuhaus."
     Wir  sprachen  noch  lange  von ihm,  die  beiden letzten,  die  diesen
sonderbaren  Menschen  gekannt,  ich,  dem  er als  jungem Mann trotz seiner
mikrobenhaft   winzigen  Existenz   die   erste  Ahnung   eines   vollkommen
umschlossenen  Lebens  im  Geiste  gegeben  sie,  die   arme,  abgeschundene
Toilettenfrau, die nie ein Buch  gelesen, die diesem Kameraden  ihrer untern
armen Weit  nur verbunden war, weil sie  ihm durch  fØnfundzwanzig Jahre den
Mantel  gebØrstet und  die  KnÃpfe angenÄht hatte.  Und doch, wir verstanden
einander  wunderbar  gut   an  seinem   alten,  verlassenen  Tisch  in   der
Gemeinschaft  des  vereint  heraufbeschworenen  Schattens;  denn  Erinnerung
verbindet immer, und  zwiefach jede Erinnerung in Liebe PlÃtzlich, mitten im
Schwatzen, besann  sie sich: "Jessas, wie  ich vergessig  bin das - Buch hab
ich ja noch, das was er damals am Tisch liegen lassen hat. Wo hÄtt ich's ihm
denn hintragen  sollen? Und nachher, wie  sich niemand gemeldt  hat, nachher
hab ich  gmeint,  ich dØrft's mir behalten als  Andenken. Nicht wahr, da ist
doch nix Unrechts dabei?" Hastig brachte sie's  heran aus ihrem rØckwÄrtigen
Verschlag. Und ich  hatte MØhe, ein kleines  LÄcheln  zu  unterdrØcken; denn
gerade  dem  ErschØtternden  mengt  das  immer  spielfreudige  und  manchmal
ironische  Schicksal das Komische gerne boshaft  zu. Es  war der zweite Band
von Hayns Bibliotheca  Germanorum crotica et curiosa, das jedem Buchsamrnler
wohlbekannte Kompendium galanter Literatur. Gerade dies skabrÃse Verzeichnis
- habent sua  fata  libelli - war  als letztes VermÄchtnis des hingegangenen
Magiers   zurØckgefallen   in   diese   abgemØrbten,   rot  aufgesprungenen,
unwissenden HÄnde, die  wohl nie ein anderes als das Gebetbuch gehalten. Ich
hatte MØhe, meine Lippen festzuklemmen gegen  das  unwillkØrlich  von  innen
aufdrÄngende LÄcheln, und dies kleine ZÃgern  verwirrte die brave Frau. Ob's
am Ende was Kostbares wÄr, oder ob ich meinte, dañ sie es behalten dØrft?
     Ich  schØttelte ihr herzlich die Hand. "Behalten Sie's nur ruhig, unser
alter Freund Mendel  hÄtte  nur Freude, dañ  wenigstens einer von den vielen
Tausenden, die ihm ein  Buch danken,  sich  noch  seiner erinnert." Und dann
ging ich und  schÄmte mich vor dieser  braven alten Frau, die in einfÄltiger
und  doch  menschlichster  Art diesem  Toten treu geblieben.  Denn sie,  die
Unbelehrte,  sie hatte  wenigstens  ein  Buch bewahrt,  um  seiner besser zu
gedenken,  ich aber, ich hatte jahrelang Buchmendel  vergessen,  gerade ich,
der ich doch wissen sollte,  dañ man BØcher nur schafft, um Øber den eigenen
Atem hinaus sich Menschen zu verbinden und  sich so zu verteidigen gegen den
unerbittlichen Widerpart alles Lebens: VergÄnglichkeit und Vergessensein.




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Last-modified: Tue, 07 Jan 2003 17:06:03 GMT
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