In diesem Falle aber schadete es leider einem armen, ahnungslosen Menschen, denn schon bei der dritten Frage kam etwas sehr Verhdngnisvolles zutage. Man forderte zuerst seinen Namen: Jakob, recte Jainkeff Mendel. Beruf: Hausierer (er besaYA ndmlich keine Buchhdndlerlizenz, nur einen Hausierschein). Die dritte Frage wurde zur Katastrophe: der Geburtsort. Jakob Mendel nannte einen kleinen Ort bei Petrikau. Der Major zog die Brauen hoch. Petrikau, lag das nicht in Russisch-Polen, nahe der Grenze? Verddchtig! Sehr verddchtig! So inquirierte er nun strenger, wann er die csterreichische Staatsb'rgerschaft erworben habe. Mendels Brille starrte ihn dunkel und verwundert an: er verstand nicht recht. Zum Teufel, ob und wo er seine Papiere habe, seine Dokumente? Er habe keine andern als den Hausierschein. Der Major schob die Stirnfalten immer hcher. Also wie es mit seiner Staatsb'rgerschaft stehe, solle er endlich einmal erkldren. Was sein Vater gewesen sei, ob Csterreicher oder Russe? Seelenruhig erwiderte Jakob Mendel: nat'rlich Russe. Und er selbst? Ach, er hdtte sich schon vor dreiunddreiYAig Jahren 'ber die russische Grenze geschmuggelt, seither lebe er in Wien. Der Major wurde immer unruhiger. Wann er hier das csterreichische Staatsb'rgerrecht erworben habe? Wozu? fragte Mendel. Er habe sich um solche Sachen nie gek'mmert. So sei er also noch russischer Staatsb'rger? Und Mendel, den diese cde Fragerei innerlich ldngst langweilte, antwortete gleichg'ltig: "Eigentlich ja." Der Major warf sich so br'sk erschrocken zur'ck, daYA der Sessel knackte. Das gab es also! In Wien, in der Hauptstadt Csterreichs, ging mitten im Kriege, Ende 1915, nach Tarnow und der groYAen Offensive, ein Russe unbehelligt spazieren, schrieb Briefe nach Frankreich und England, und die Polizei k'mmerte sich um nichts. Und da wundern sich die Dummkcpfe in den Zeitungen, daYA Conrad von Hctzendorf nicht gleich nach Warschau vorwdrtsgekommen ist, da staunen sie im Generalstab, wenn jede Truppenbewegung durch Spione nach RuYAland weitergemeldet wird. Auch der Leutnant war aufgestanden und stellte sich an den Tisch: das Gesprdch schaltete sich scharf um zum Verhcr. Warum er sich nicht sofort gemeldet habe als Ausldnder? Mendel, noch immer arglos, antwortete in seinem singenden j'dischen Jargon: "Wozu hdtt ich mich melden sollen auf einmal?" In dieser umgedrehten Frage erblickte der Major eine Herausforderung und fragte drohend, ob er nicht die Ank'ndigungen gelesen habe? Nein! Ob er etwa auch keine Zeitungen lese? Nein! Die beiden starrten den vor Unsicherheit schon leicht schwitzenden Jakob Mendel an, als sei der Mond mitten in ihr B'rozimmer gefallen. Dann rasselte das Telefon, knackten die Schreibmaschinen, liefen die Ordonnanzen, und Jakob Mendel wurde dem Garnisonsgefdngnis 'berantwortet, um mit dem ndchsten Schub in ein Konzentrationslager abgef'hrt zu werden. Als man ihm bedeutete, den beiden Soldaten zu folgen, starrte er ungewiYA. Er verstand nicht, was man von ihm wollte, aber eigentlich hatte er keinerlei Sorge. Was konnte der Mann mit dem goldenen Kragen und der groben Stimme schlieYAlich Bcses mit ihm vorhaben? In seiner obern Welt der B'cher gab es keinen Krieg, kein Nichtverstehen, sondern nur das ewige Wissen und Nochmehrwissenwollen von Zahlen und Worten, von Titeln und Namen. So trollte er gutm'tig zwischen den beiden Soldaten die Treppe hinunter. Erst als man ihm auf der Polizei alle B'cher aus den Manteltaschen nahm und die Brieftasche abforderte, in der er hundert wichtige Zettel und Kundenadressen stecken hatte, da erst begann er w'tend um sich zu schlagen. Man muYAte ihn bdndigen. Aber dabei klirrte leider seine Brille zu Boden, und dies sein magisches Teleskop in die geistige Welt brach in mehrere St'cke. Zwei Tage spdter expedierte man ihn im d'nnen Sommerrock in ein Konzentrationslager russischer Zivilgefangener bei Komorn. Was Jakob Mendel in diesen zwei Jahren Konzentrationslager an seelischer Schrecknis erfahren, ohne B'cher, seine geliebten B'cher, ohne Geld, inmitten der gleichg'ltigen, groben, meist analphabetischen Gefdhrten dieses riesigen Menschenkotters, was er dort leidend erlebte, von seiner obern und einzigen B'cherwelt abgetrennt wie ein Adler mit zerschnittenen Schwingen von seinem dtherischen Element - hier'ber fehlt jede Zeugenschaft. Aber allmdhlich weiYA schon die von ihrer Tollheit ern'chterte Welt, daYA von allen Grausamkeiten und verbrecherischen Xbergriffen dieses Krieges keine sinnloser, 'berfl'ssiger und darum moralisch unentschuldbarer gewesen als das Zusammenfangen und Einh'rden hinter Stacheldraht von ahnungslosen, ldngst dem Dienstalter entwachsenen Zivilpersonen, die viele Jahre in dem fremden Lande als in einer Heimat gewohnt und aus Treugldubigkeit an das selbst bei Tungusen und Araukanern geheiligte Gastrecht versdumt hatten, rechtzeitig zu fliehen - ein Verbrechen an der Zivilisation, gleich sinnlos begangen in Frankreich, Deutschland und England, auf jeder Scholle unseres irrwitzig gewordenen Europa. Und vielleicht wdre Jakob Mendel wie hundert andere Unschuldige in dieser H'rde dem Wahnsinn verfallen oder an Ruhr, an Entkrdftung, an seelischer Zerr'ttung erbdrmlich zugrunde gegangen, hdtte nicht knapp rechtzeitig ein Zufall, ein echt csterreichischer, ihn noch einmal in seine Welt zur'ckgeholt. Es waren ndmlich mehrmals nach seinem Verschwinden an seine Adresse Briefe von vornehmen Kunden gekommen; der Graf Schcnberg, der ehemalige Statthalter von Steiermark, fanatischer Sammler heraldischer Werke, der fr'here Dekan der theologischen Fakultdt Siegenfeld, der an einem Kommentar des Augustinus arbeitete, der achtzigjdhrige pensionierte Flottenadmiral Edler von Pisek, der noch immer an seinen Erinnerungen herumbesserte - sie alle, seine treuen Klienten, hatten wiederholt an Jakob Mendel ins Cafj Gluck geschrieben, und von diesen Briefen wurden dem Verschollenen einige in das Konzentrationslager nachgeschickt. Dort fielen sie dem zufdllig gutgesinnten Hauptmann in die Hdnde, und der erstaunte, was f'r vornehme Bekanntschaften dieser kleine halbblinde, schmutzige Jude habe, der, seit man ihm seine Brille zerschlagen (er hatte kein Geld, sich eine neue zu verschaffen), wie ein Maulwurf, grau, augenlos und stumm in einer Ecke hockte. Wer solche Freunde besaYA, muYAte immerhin etwas Besonderes sein. So erlaubte er Mendel, diese Briefe zu beantworten und seine Gcnner um F'rsprache zu bitten. Die blieb nicht aus. Mit der leidenschaftlichen Solidaritdt aller Sammler kurbelten die Exzellenz sowie der Dekan ihre Verbindungen krdftig an, und ihre vereinte B'rgschaft erreichte, daYA Buchmendel im Jahre 1917 nach mehr als zweijdhriger Konfinierung wieder nach Wien zur'ckdurfte, freilich unter der Bedingung, sich tdglich bei der Polizei zu melden. Aber doch, er durfte wieder in die freie Welt, in seinen alten, kleinen, engen Mansardenraum, er konnte wieder an seinen geliebten B'cherauslagen vorbei und vor allem zur'ck in sein Cafj Gluck. Diese R'ckkehr Mendels aus seiner hcllischen Unterwelt in das Cafj Gluck konnte mir die brave Frau Sporschil aus eigener Erfahrung schildern. "Eines Tages - Jessas, Marand Joseph, ich glaub, ich trau meine Augen nicht - da schiebt sich die T'r auf, Sie wissen ja, in der gewissen schiefen Art, nur grad einen Spalt weit, wie er immer hereingekommen ist, und schon stolpert er ins Cafj, der arme Herr Mendel. Einen zerschundenen Militdrmantel voller Stopfen hat er angehabt und irgendwas am Kopf, was vielleicht einmal ein Hut war, ein weggeworfener. Keinen Kragen hat er angehabt, und wie der Tod hat er ausgeschaut, grau im Gesicht und grau das Haar und so mager, daYA es einen derbarmt hat. Aber er kommt herein, grad, als ob nix gwesen war, er fragt nix, er sagt nix, geht hin zu dem Tisch da und zieht den Mantel aus, aber nicht wie fr'her so fix und leicht, sondern schwer schnaufen m'ssen hat er dabei. Und kein Buch hat er mitghabt wie sonst -- er setzt sich nur hin und sagt nix, und tut nur hinstarren vor sich mit ganz leere, ausgelaufene Augen. Erst nach und nach, wie wir ihm dann den ganzen Pack bracht haben von die Schriften, die was f'r ihn kommen waren aus Deutschland, da hat er wieder angfangen zu lesen. Aber er war nicht derselbige mehr." Nein, er war nicht derselbe, nicht das Miraculum mundi mehr, die magische Registratur aller B'cher: alle, die ihn damals sahen, haben mir wehm'tig das gleiche berichtet. Irgend etwas schien rettungslos zerstcrt in seinem sonst stillen, nur wie schlafend lesenden Blick; etwas war zertr'mmert: der grauenhafte Blutkomet muYAte in seinem rasenden Lauf schmetternd hineingeschlagen haben auch in den abseitigen, friedlichen, in diesen alkyonischen Stern seiner B'cherwelt. Seine Augen, jahrzehntelang gewchnt an die zarten, lautlosen, insektenf'YAigen Lettern der Schrift, sie muYAten Furchtbares gesehen haben in jener stacheldrahtumspannten Menschenh'rde, denn die Lider schatteten schwer 'ber den einst so flinken und ironisch funkelnden Pupillen, schldfrig und rotrandig ddmmerten die vordem so lebhaften Blicke unter der reparierten, mit d'nnem Bindfaden m'hsam zusammengebundenen Brille. Und furchtbarer noch: in dem phantastischen Kunstbau seines Geddchtnisses muYAte irgendein Pfeiler eingest'rzt und das ganze Gef'ge in Unordnung geraten sein; denn so zart ist ja unser Gehirn, dies aus subtilster Substanz gestaltete Schaltwerk, dies feinmechanische Prdzisionsinstrument unseres Wissens zusammengestimmt, daYA ein gestautes Aderchen, ein ersch'tterter Nerv, eine erm'dete Zelle, daYA ein solches verschobenes Molek'l schon zureicht, um die herrlich umfassendste, die sphdrische Harmonie eines Geistes zum Verstummen zu bringen. Und in Mendels Geddchtnis, dieser einzigen Klaviatur des Wissens, stockten bei seiner R'ckkunft die Tasten. Wenn ab und zu jemand um Auskunft kam, starrte er ihn erschcpft an und verstand nicht mehr genau, er verhcrte sich und vergaYA, was man ihm sagte - Mendel war nicht mehr Mendel, wie die Welt nicht mehr die Welt war. Nicht mehr wiegte ihn vcllige Versunkenheit beim Lesen auf und nieder, sondern meist saYA er starr, die Brille nur mechanisch gegen das Buch gewandt, ohne daYA man wuYAte, ob er las oder nur vor sich hin ddmmerte. Mehrmals fiel ihm, so crzdhltedieSporschil, der Kopf schwer nieder auf das Buch, und er schlief ein am hellichten Tag, manchmal starrte er wieder stundenlang in das fremde stinkende Licht der Azetylenlampe, die man ihm in jener Zeit der Kohlennot auf den Tisch gestellt. Nein, Mendel war nicht mehr Mendel, nicht mehr ein Wunder der Welt, sondern ein m'd atmender, nutzloser Pack Bart und Kleider, sinnlos auf dem einst pythischen Sessel hingelastet, nicht mehr der Ruhm des Cafj Gluck, sondern eine Schande, ein Schmierfleck, 'belriechend, widrig anzusehen, ein unbequemer, unnctiger Schmarotzer. So empfand ihn auch der neue Besitzer, namens Florian Gurtner aus Retz, der, an Mehl- und Butterschiebungen im Hungerjahr 1919 reich geworden, dem biedern Standhartner f'r achtzigtausend rasch zerbldtterte Papierkronen das Cafj Gluck abgeschwatzt hatte. Er griff mit seinen festen Bauernhdnden scharf zu, krempelte das altehrw'rdige Kaffeehaus hastig auf nobel um, kaufte f'r schlechte Zettel rechtzeitig neue Fauteuils, installierte ein Marmorportal und verhandelte bereits wegen des Nachbarlokals, um eine Musikdiele anzubauen. Bei dieser hastigen Verschcnerung stcrte ihn nat'rlich sehr dieser galizische Schmarotzer, der tags'ber von fr'h bis nachts allein einen Tisch besetzt hielt und dabei im ganzen nur zwei Schalen Kaffee trank und f'nf Brote verzehrte. Zwar hatte Standhartner ihm seinen alten Gast besonders ans Herz gelegt und zu erkldren versucht, was f'r ein bedeutender und wichtiger Mann dieser Jakob Mendel sei, er hatte ihn sozusagen bei der Xbergabe mit dem Inventar als ein auf dem Unternehmen lastendes Servitut mit'bergeben. Aber Florian Gurtner hatte sich mit den neuen Mcbeln und der blanken Aluminiumzahlkasse auch das massive Gewissen der Verdienerzeit zugelegt und wartete nur auf einen Vorwand, um .diesen letzten ldstigen Rest vorstddtischer Schdbigkeit aus seinem vornehm gewordenen Lokal hinauszukehren. Ein guter AnlaYA schien sich bald einzustellen; denn es ging Jakob Mendel schlecht. Seine letzten gesparten Banknoten waren zerpulvert in der Papierm'hle der Inflation, seine Kunden hatten sich verlaufen. Und wieder als kleiner Buchtrcdler Treppen zu steigen, B'cher hausierend zusammenzuraffen, dazu fehlte dem M'dgewordenen die Kraft. Es ging ihm elend, man merkte das an hundert kleinen Zeichen. Selten lieYA er sich mehr vom Gasthaus etwas her'berholen, und auch das kleinste Entgelt f'r Kaffee und Brot blieb er immer ldnger schuldig, einmal sogar drei Wochen lang. Schon damals wollte ihn der Oberkellner auf die StraYAe setzen. Da erbarmte sich die brave Frau Sporschil, die Toilettenfrau, und b'rgte f'r ihn. Aber im ndchsten Monat ereignete sich dann das Ungl'ck. Bereits mehrmals hatte der neue Oberkellner bemerkt, daYA es bei der Abrechnung nie recht mit dem Gebdck stimmen wollte. Immer mehr Brote erwiesen sich als fehlend, als angesagt und bezahlt waren. Sein Verdacht lenkte sich selbstverstdndlich gleich auf Mendel; denn mehrmals war schon der alte wacklige Dienstmann gekommen, um sich zu beschweren, Mendel sei ihm seit einem halben Jahre die Bezahlung schuldig, und er kcnne keinen Heller herauskriegen. So paYAte der Oberkellner jetzt besonders auf, und schon zwei Tage spdter gelang es ihm, hinter dem Ofenschirm versteckt, Jakob Mendel zu ertappen, wie er heimlich von seinem Tische aufstand, in das andere vordere Zimmer hin'berging, rasch aus einem Brotkorb zwei Semmeln nahm und sie gierig in sich hineinstopfte. Bei der Abrechnung behauptete er, keine gegessen zu haben. Nun war das Verschwinden gekldrt. Der Kellner meldete sofort den Vorfall Herrn Gurtner, und dieser, froh des langgesuchten Vorwands, br'llte Mendel vor allen Leuten an, beschuldigte ihn des Diebstahls und tat sogar noch dick, daYA er nicht sofort die Polizei rufe. Aber er befahl ihm, sogleich und f'r immer sich zum Teufel zu scheren. Jakob Mendel zitterte nur, sagte nichts, stolperte auf von seinem Sitz und ging. "Ein Jammer war's", schilderte die Frau Sporschil diesen seinen Abschied. "Nie werd ich's vergessen, wie er aufgestanden ist, die Brille hinaufgeschoben in die Stirn, weiYA wie ein Handtuch. Nicht Zeit hat er sich genommen, den Mantel anzuziehen, obwohl's Januar war, Sie wissen ja, damals im kalten Jahr. Und sein Buch hat er liegen lassen auf dem Tisch in seinem Schreck, ich hab's erst spdter bemerkt und wollt's ihm noch nachtragen. Aber da war er schon hinabgestolpert zur T'r. Und weiter auf die StraYAen hatt ich mich nicht traut; denn an die T'r hat sich der Herr Gurtner hingstellt und ihm nachgschrien, daYA die Leut stehenblieben und zusammengelaufen sind. Ja, eine Schand war's, gschdmt hab ich mich bis in die unterste Seel! So was hat nicht passieren kcnnen bei dem alten Herrn Standhartner, daYA man einen ausjagt nur wegen ein paar Semmeln, bei dem hdtt er umsonst essen kcnnen noch sein Leben lang. Aber die Leute von heut, die haben ja kein Herz. Einen wegzutreiben, der 'ber dreiYAig Jahre wo gsessen ist Tag f'r Tag - wirklich, eine Schand war's, und ich mccht's nicht zu verantworten haben vor dem lieben Gott - ich nicht." Ganz aufgeregt war sie geworden, die gute Frau, und mit der leidenschaftlichen Geschwdtzigkeit des Alters wiederholte sie immer wieder das von der Schand und vom Herrn Standhartner, der zu so was nicht imstande gewesen wdre. So muYAte ich sie schlieYAlich fragen, was denn aus unserm Mendel geworden sei und ob sie ihn wiedergesehen. Da rappelte sie sich zusammen und wurde noch erregter. "Jeden Tag, wenn ich vor'bergegangen hin an seinem Tisch, jedesmal, das kcnnen S' mir glauben, hat's mir einen StoYA geben. Immer hab ich denken m'ssen, wo mag er jetzt sein, der arme Herr Mendel, und wenn ich gwuYAt hdtt, wo er wohnt, ich war hin, ihm was Warmes bringen; denn wo hdtt er denn das Geld hernehmen sollen zum heizen und zum Essen? Und Verwandte hat er auf der Welt, soviel ich weiYA, niemanden gehabt. Aber schlieYAlich, wie ich immer und immer nix gehcrt hab, da hab ich mir schon denkt, es muYA vorbei mit ihm sein, und ich w'rd ihn nimmer sehen. Und schon hab ich 'berlegt, ob ich nicht sollt eine Messe f'r ihn lesen lassen; denn ein guter Mensch war er, und man hat sich doch gekannt, mehr als f'nfundzwanzig Jahr. Aber einmal in der Fr'h, um halb acht Uhr im Februar, ich putz grad das Messing an die Fensterstangen, auf einmal (ich mein, mich trifft der Schlag), auf einmal tut sich die T'r auf, und herein kommt der Mendel. Sie wissen ja: immer ist er so schief und verwirrt hereingschoben, aber diesmal war's noch irgendwie anders. Ich merk gleich, den reiYAt's hin und her, ganz glanzige Augen hat er gehabt und, mein Gott, wie er ausgschaut hat, nur Bein und Bart! Sofort kommt's mir entrisch vor, wie ich ihn so seh: ich denk mir gleich, der weiYA von nichts, der geht am hellichten Tag umeinand als ein Schlafeter, der hat alles vergessen, das von die Semmeln und das vom Herrn Gurtner und wie schandbar sie ihn hinausgschmissen haben, der weiYA nichts von sich selber. Gott sei Dank! der Herr Gurtner war noch nicht da, und der Oberkellner hat grad seinen Kaffee trunken. Da spring ich rasch hin, damit ich ihm klarmach, er solle nicht dableiben, sich nicht noch einmal hinauswerfen lassen von dem rohen Kerl" (und dabei sah sie sich scheu um und korrigierte rasch) "ich mein, vom Herrn Gurtner. Also, Herr Mendel', ruf ich ihn an. Er starrt auf. Und da, in dem Augenblick, mein Gott, schrecklich war das, in dem Augenblick muYA er sich an alles erinnert haben; denn er fahrt sofort zusammen und fangt an zu zittern, aber nicht bloYA mit die Finger zittert er, nein, als ein Ganzer hat er gescheppert, daYA man's bis an die Schultern kennt hat, und schon stolpert er wieder rasch auf die T'r zu. Dort ist er dann zusammgfallen. Wir haben gleich um die Rettungsgesellschaft telephoniert, und die hat ihn weggef'hrt, fiebrig, wie er war. Am Abend ist er gestorben, Lungenentz'ndung, hochgradige, hat der Doktor gesagt, und auch, daYA er schon damals nicht mehr recht gewuYAt hat von sich, wie er noch einmal zu uns kommen ist. Es hat ihn halt nur so hergetrieben, als einen Schlafeten. Mein Gott, wenn man sechsunddreiYAig Jahr einmal so gesessen ist jeden Tag, dann ist eben so ein Tisch einem sein Zuhaus." Wir sprachen noch lange von ihm, die beiden letzten, die diesen sonderbaren Menschen gekannt, ich, dem er als jungem Mann trotz seiner mikrobenhaft winzigen Existenz die erste Ahnung eines vollkommen umschlossenen Lebens im Geiste gegeben sie, die arme, abgeschundene Toilettenfrau, die nie ein Buch gelesen, die diesem Kameraden ihrer untern armen Weit nur verbunden war, weil sie ihm durch f'nfundzwanzig Jahre den Mantel geb'rstet und die Kncpfe angendht hatte. Und doch, wir verstanden einander wunderbar gut an seinem alten, verlassenen Tisch in der Gemeinschaft des vereint heraufbeschworenen Schattens; denn Erinnerung verbindet immer, und zwiefach jede Erinnerung in Liebe Plctzlich, mitten im Schwatzen, besann sie sich: "Jessas, wie ich vergessig bin das - Buch hab ich ja noch, das was er damals am Tisch liegen lassen hat. Wo hdtt ich's ihm denn hintragen sollen? Und nachher, wie sich niemand gemeldt hat, nachher hab ich gmeint, ich d'rft's mir behalten als Andenken. Nicht wahr, da ist doch nix Unrechts dabei?" Hastig brachte sie's heran aus ihrem r'ckwdrtigen Verschlag. Und ich hatte M'he, ein kleines Ldcheln zu unterdr'cken; denn gerade dem Ersch'tternden mengt das immer spielfreudige und manchmal ironische Schicksal das Komische gerne boshaft zu. Es war der zweite Band von Hayns Bibliotheca Germanorum crotica et curiosa, das jedem Buchsamrnler wohlbekannte Kompendium galanter Literatur. Gerade dies skabrcse Verzeichnis - habent sua fata libelli - war als letztes Vermdchtnis des hingegangenen Magiers zur'ckgefallen in diese abgem'rbten, rot aufgesprungenen, unwissenden Hdnde, die wohl nie ein anderes als das Gebetbuch gehalten. Ich hatte M'he, meine Lippen festzuklemmen gegen das unwillk'rlich von innen aufdrdngende Ldcheln, und dies kleine Zcgern verwirrte die brave Frau. Ob's am Ende was Kostbares wdr, oder ob ich meinte, daYA sie es behalten d'rft? Ich sch'ttelte ihr herzlich die Hand. "Behalten Sie's nur ruhig, unser alter Freund Mendel hdtte nur Freude, daYA wenigstens einer von den vielen Tausenden, die ihm ein Buch danken, sich noch seiner erinnert." Und dann ging ich und schdmte mich vor dieser braven alten Frau, die in einfdltiger und doch menschlichster Art diesem Toten treu geblieben. Denn sie, die Unbelehrte, sie hatte wenigstens ein Buch bewahrt, um seiner besser zu gedenken, ich aber, ich hatte jahrelang Buchmendel vergessen, gerade ich, der ich doch wissen sollte, daYA man B'cher nur schafft, um 'ber den eigenen Atem hinaus sich Menschen zu verbinden und sich so zu verteidigen gegen den unerbittlichen Widerpart alles Lebens: Vergdnglichkeit und Vergessensein. 12