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     Max Frisch. Skizze [Schinz]
     OCR, Spellcheck: Il'ya Frank, http://frank.deutschesprache.ru



     Heinrich  Gottlieb  Schinz,  Rechtsanwalt,  Vater   von  vier  gesunden
Kindern,  deren  altestes  sich bald verheiratet, ist sechsundfunfzig  Jahre
alt, als ihm eines Tages,  wie er es  nennt, der Geist begegnet ...  Schinz,
wie der Name schon sagt, ist  Sohn aus gutem Haus; das Verlangen,  dem Geist
zu begegnen, hat er schon als Jungling; er spielt Klavier und macht  mehrere
Reisen als  Student. Paris, Rom,  Florenz, Sizilien.  Spater London, Berlin,
Munchen, wo er ein Jahr verbringt.  Er schwankt zwischen Kunstgeschichte und
Naturwissenschaft; sein Beruf als  Rechtsanwalt, teilweise eine Entscheidung
seines Vaters, der ebenfalls ein namhafter  Rechtsanwalt gewesen ist, bringt
ihm  bald die ublichen Erfolge, Ehe und Ehrenamter, darunter auch solche von
wirklicher,   von  mehr  als   gesellschaftlicher   Bedeutung:  Winterhilfe,
Denkmalpflege,  Umschulung fur Fluchtlinge,  Kunstverein  und so weiter  ...
Seine  Begegnung  mit  dem Geist ist  keineswegs unbemerkt geblieben, einige
Wochen gehort  sie sogar  zum  Gesprach in den Stra?enbahnen; die Au?enwelt,
sofern man eine mittelgro?e  Stadt so bezeichnen  will, sieht es  allerdings
als  klinischen  Fall,   ratselhaft  auch   so,  aufsehenerregend  auch  so,
erschutternd auch so, aber fur die Au?enwelt ohne jede Folge.

     Eines Sonntagmorgens, es schneit, ist Schinz, wie er das seit Jahren zu
tun   pflegt,   in   den  Wald   gegangen,   begleitet   von  seinem   Hund,
gesundheitshalber.   Aufgewachsen   in   dieser   Gegend,   wo   schon   das
gro?vaterliche Haus gestanden hat, kennt  er den Wald wie  sein  Leben. Auch
der Hund kennt ihn; eine Dogge. Sein  Erstaunen, als die  vertraute Lichtung
sich nicht einstellt,  ist nicht gering, aber durchaus gelassen. Eine  Weile
bleibt  er einfach  stehen,  ebenso  der  Hund  mit schwitzender  Zunge;  es
schneit,  aber nicht so machtig, dass  Schinz deswegen den Weg verfehlt hat.
Der Weg ist durchaus sichtbar, nur die Lichtung nicht. Die Dogge  muss  sich
gedulden, bis  Schinz sich  ein  Zigarillo angezundet hat;  wie er das gerne
macht in Augenblicken, wo er nicht weiter wei?, sei es als Rechtsanwalt oder
fruher als  Major. Ein Zigarillo gibt Ruhe.  Es ist jederzeit  moglich, dass
Baume verschwinden, ganze Gruppen, ein  halber Wald; aber dass eine Lichtung
verschwindet, ist nicht anzunehmen. Das kommt, sagt  sich Schinz, allenfalls
in der Poesie vor; wenn  ein  Dichter dartun mochte,  dass auf  marchenhafte
Weise  viel Zeit  vergangen  ist oder etwas dieser Art.  Schinz ist belesen.
Weitergehend, um  die Dogge nicht  langer warten zu lassen, denkt er so  das
eine  und  andere, sein Zigarillo  rauchend;  irgendwann wird die  verdammte
Lichtung schon kommen. Auch er hat sich einmal in der  Poesie versucht; kein
Grund,  deswegen  zu  lacheln.  Wie gesagt:  das  Verlangen,  dem  Geist  zu
begegnen,  hat er  schon  als  Jungling  gekannt.  Dann  die  Zeit  mit  der
Naturwissenschaft; eine schone Zeit, Schinz denkt gerne daran, Mikroskop und
so. Das eine und andere ist auch  geblieben, nicht blo? gewisse  Kenntnisse,
die  etwas  verwischt  sein  mogen,  aber  eine gewisse Art, den Kindern  zu
zeigen, wie  das Holz aussieht  unter  der Lupe, und  zu erklaren, wieso das
Wasser von den Wurzeln emporsteigt  in die Zweige.  Doch all dies horen  die
Kinder jetzt in  der Schule; Schinz hat die Lupe,  auch wenn er allein  ist.
Und dann die Kunstgeschichte bei Wolfflin; damals in Munchen. Auch eine gute
Zeit, Schinz  denkt gerne daran; im Kunstverein ist er zuweilen der einzige,
der  nicht faselt; das hat ihm der alte Wolfflin mit  einer einzigen Blamage
beigebracht, und kurz darauf hat er  auch die Kunstgeschichte verlassen. Das
eine und andere ist dennoch geblieben; Durer und so. Die Welt, wenn man eine
mittelgro?e  Stadt so bezeichnen  will,  hat  wohl nicht unrecht,  wenn  sie
Heinrich Gottlieb Schinz als einen geistigen Menschen betrachtet: obschon er
seinerseits,  das ist bemerkenswert,  nie von Geist redet; er  meidet dieses
Wort, als hasse er es, umgeht es auf alle  Arten, oft  auf sehr witzige Art,
als ware  es etwas Unanstandiges, mindestens  ist er  in  seiner Gegend sehr
zuruckhaltend, im Grunde nicht ohne Ahnung, dass der  Geist, der  wirkliche,
etwas durchaus Furchterliches ist, etwas Erdbebenhaftes, das man nicht rufen
soll,  etwas Katastrophales,  das alles Vorhandene  uber  den  Haufen wirft,
etwas  Todliches, wenn man ihm nicht durch au?erordentliche  Gaben gewachsen
ist -.
     Die Lichtung ist nicht gekommen.
     Funf Uhr  abends,  und  Schinz  ist  zum  Mittagessen erwartet  worden,
dammert  es, dass man  bald  uberhaupt nichts  mehr sieht. Schinz sitzt  auf
einem  gefallten  Stamm,  froh, Spuren  menschlicher  Arbeit  zu  sehen; ein
gewisses Bangen  hat  ihn doch  beschlichen. Vor ihm  die  Dogge,  keuchend,
irgendwie entsetzt  und  verwirrt. Wie die Hunde vor einem  Erdbeben!  denkt
Schinz. Zigarillos hat er keine mehr. Es schneit ohne Unterlass. Stille; das
Keuchen der Dogge, das nur dazu da ist, dass die Stille zwischen den Stammen
noch dichter  wird. Einmal fallt  Schnee von einer Tanne,  ganz in der Nahe,
aber lautlos. So muss es sein, wenn man taub ist. Dann macht Schinz, was bei
belesenen Leuten vorkommt: er leistet sich den Witz,  seine Lage literarisch
zu  sehen;  die  Dammerung,  die unfassbare Zeit,  die  Stille  zwischen den
Stammen, die Dogge, das alles ist sehr poetisch, irgendwie bekannt, und auch
die Angst, plotzlich taub zu sein,  ist nicht  ohne  Hintergrundiges. Schinz
ist  sehr  bewusst;  er  pfeift  nicht, aber  der kleine  Witz,  seine  Lage
literarisch zu nehmen, ist nichts anderes, als wenn ein Junge  in den Keller
gehen  muss und dazu pfeift. Auch das ist ihm bewusst. Er schlagt den nassen
Schnee  von seinem Hut,  entschlossen, aufzustehen und weiterzugehen. Wohin?
Die Dogge sieht, wie der Herr einen gebrochenen Ast nimmt, einen Knebel; sie
winselt vor Hoffnung, der Herr werde  ihn werfen, sie lauft umsonst. Einmal,
ganz  unwillkurlich, schlagt er mit dem Knebel  gegen einen Stamm. Nicht aus
Angst, taub zu sein! Nur so.  Wie es hallt: dumpf, fast ohne Ton, obschon er
immer kraftiger schlagt, bis der Knebel zerbricht. Einen  Ton, der  wirklich
tragt,  hat es  nicht gegeben. Das macht  naturlich  der Schnee.  Alles  wie
Watte. Wieso sollte ein Mensch plotzlich taub werden? Er nimmt  die Dogge an
die  Leine. Es gibt nichts als Gehen. Und vor allem sagt  sich Schinz: Nicht
sich selber verruckt machen. Das hat schon  gar  keinen Sinn. Jeder Wald hat
irgendwo ein Ende! Und im ubrigen sind sie immer noch  auf einem Weg, Schinz
und die Dogge, deren Knurren ihm anzeigt, dass jemand kommt. Von hinten. Nur
jetzt nicht denken: Das ist der Geist. Die Dogge bellt, so dass er die Leine
schon  kraftiger  fassen  muss.  Ein  Mann im  Lodenmantel,  vielleicht  ein
Forster, ein Holzfaller, ein Naturfreund und Sonntagsganger, der  die  Menge
meidet, uberholt ihn
     - "Erlauben Sie", sagt Schinz -
     Obschon ihm der Schwei? auf der Stirn steht, ist  er ganz  ruhig, froh,
seine  eigene  Stimme zu horen, die nach dem Weg in die Stadt  fragt;  dabei
muss er  die  bellende Dogge halten,  ist nicht imstande, den  Fremden naher
anzusehen.
     "Sie haben sich verirrt?"
     "Ja", lacht Schinz: "das ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen
-."
     Schinz hort selber, wie ungeheuerlich das tont: ein Mensch, der sich in
seinem Leben noch nie verirrt habe! und fugt hinzu:
     "Dabei kenne ich diesen Wald wie mich selbst."
     Die Dogge kann sich nicht beruhigen.
     " WO wollen Sie denn hin?"
     "In die Stadt", sagt Schinz: "wo ich herkomme -."
     Der Forster betrachtet die Dogge.
     "Wo ich herkomme", sagt Schinz noch einmal: "Bevor es Nacht ist."
     Die Dogge, springend wie gegen einen Einbrecher, rei?t ihn fast um, so,
dass Schinz kaum zum vernunftigen Sprechen kommt. Sie benimmt  sich wirklich
wie  ein  Biest, die  verdammte Dogge, dann  merkt man  erst,  was  fur  ein
Riesentier das ist. Zum Gluck  zeigt der Forster keine Angst, nur Interesse.
Im ubrigen, was den Weg in die Stadt betrifft, sagt der  Forster, was Schinz
sich selbet hatte sagen konnen:
     " Warum gehen Sie nicht einfach zuruck?"
     "Auf dem gleichen Weg -?"
     Eigentlich wahr, denkt Schinz.
     "Oder wenn Sie mit mir kommen wollen, ich wei? ja nicht, in der Strecke
kommt es aufs gleiche heraus - so oder so..."
     Schinz muss sich entscheiden.
     "Sehr freundlich von Ihnen -."
     " Wie Sie wollen."
     Unterwegs, Schinz hat sich fur das Vorwarts entschieden, ist  die Dogge
wieder ganz manierlich. Der Mann ist wirklich ein Forster. Sie sprechen uber
Doggen. Alles ganz alltaglich; warum sollte es anders sein!  Naturlich reden
sie nicht immerzu. Es gibt solche Holzwege, die im Kreis herumfuhren, um den
Wald  zu erschlie?en. Schinz ist  zum  Umsinken  mude, aber  zufrieden,  auf
Stunden  kommt es  ihm nicht mehr an, wenn  er nur  in die  Stadt kommt. Das
Literarische, das Hintergrundige in dem Gedanken, dass er auf einem  anderen
Weg   in  die   Stadt  zuruckkomme,  Gedanken,   dIe  er   in   schweigsamen
Viertelstunden  vornimmt,  das alles hat wenig  Bestand, sobald der  Mann im
Lodenmantel,  der im  Dunkeln immer unsichtbarer wird, seinen Mund aufmacht;
er  redet  wirklich nicht  wie ein  Geist.  Einmal  flucht er auf den Staat,
obschon er bei diesem  angestellt ist; Argerliches mit einem  Konsortium. Es
schneit immer noch. Ein andermal plaudern  sie uber Zellulose, wobei  Schinz
einige naturwissenschaftliche Kenntnisse verrat, die den Forster auf falsche
Vermutungen bringen, so, dass Schinz sich genotigt  fuhlt, seinen wirklichen
Beruf zu nennen. "Rechtsanwalt sind Sie?"
     "Ja."
     "Hm."
     "Warum nicht?"
     Der  Forster  erzahlt ihm  einen Fall:  so  und  so,  etwas umstandlich
erzahlt, so dass  Schinz hin und  wieder  versucht,  nach Art von Fachleuten
einzugreifen, um allzu Bekanntes abzukurzen. Ein Fall wie tausend Falle. Der
Forster lasst sich seine umstandliche Darstellung aber nicht nehmen.
     "Nein", widerspricht  er: "der Mann hat  nicht gestohlen,  das sage ich
nicht, der Mann war in schwerer Not, denn eines Tages -"
     "Und dann hat er gestohlen."
     "Nein."
     "Aber Sie sagen doch -"
     "Nein", wiederholt er mit  der zahen Beharrlichkeit gewisser  einfacher
Leute, die keine  Nerven haben und etwas langsam denken: "Ich sage, der Mann
war in schwerer Not, denn eines Tages -"
     Schinz ist nicht an seinem Schreibtisch,  sondern im Wald; er hat keine
andere  Wahl, als  zuzuhoren,  seine gro?e Dogge an der Leine. Kein Telefon,
das ihr Gesprach unterbricht,  keine Mamsell, die hereinkommt und dem Doktor
einen deutlichen Vorwand bringt, um  aufzustehen, nichts von alledem; Schinz
muss  zuhoren. Von stadtischen Lichtern ist noch immer nichts  zu sehen. Der
Fall ist nicht blod, zugegeben, aber keineswegs ungewohnlich, und es ist fur
Schinz nicht einzusehen, warum er alles in solcher Umstandlichkeit anzuhoren
hat.  Hin  und  wieder, wenn  sie  vor einer  Gabelung ihres  Weges  stehen,
verstummt  das  Gesprach; Schinz  ist  sich  bewusst,  dass  er den  Forster
braucht.  Mindestens bis  zu den  ersten Laternen. Es bleibt ihm nichts, als
die Geschichte  weiter  anzuhoren. Nicht dass der Mann keinen fachmannischen
Einwand duldete! Schinz kann jederzeit sagen, wie  er die Sache ansieht; der
Forster fallt ihm nicht in die Rede, aber auch nicht aus der eigenen heraus.
     "Verstehe!" sagt er nicht unhoflich: "Aber so war es  nicht, das konnen
Sie naturlich nicht wissen: eines Tages namlich -"
     Einmal sagt Schinz:
     "Sie entschuldigen!"
     Er  kann nicht mehr anders, muss auf die Seite  treten, wo  er an einem
Stamm etwas verrichtet. Die Dogge schnuppert, der Forster wartet, der Schnee
fallt lautlos zwischen den Stammen.
     "Ich komme nach!" ruft Schinz.
     Stille  ...  Um die Pause  zu  verlangern,  bringt er nicht  nur  seine
Kleider in  Ordnung, gelassener als sonst,  er nimmt den Hut,  um den Schnee
abzuschutteln, sogar  den Mantel, den er zum selben Zweck auszieht. Er sucht
in samtlichen  Taschen, ob  er nicht  doch ein  Zigarillo  findet.  Umsonst.
Endlich   wieder  in  Ordnung,   bewussterma?en  mit  einem  neuen  Gesprach
gewappnet, stapft  er  auf den  Weg zuruck;  der Schnee ist schon  tief, die
Hosensto?e  platschnass.  "Da  sind  Sie ja!"  sagt  Schinz  erleichtert und
aufgeraumt: "Als wir  Buben waren, wissen Sie,  da haben  wir in diesem Wald
einmal Rauber gespielt; da ist mir doch einmtal das Folgende passiert -"
     Der Forster hort zu. "Im Hemd!"  schlie?t der Erzahler: "Im Hemd  stand
ich  da, sage und  schreibe, und  so musste ich zuruck  in  die  Stadt." Sie
lachen.
     "Dieser Forster", sagt Schinz  nach einigen Schritten: vielleicht waren
Sie das!"
     "Vielleicht." - Schweigen.
     "Und dann",  sagt die  Stimme des Forsters: "dann ging diese Geschichte
naturlich weiter; wie gesagt,  der Mann war  in schwerer Not, er hatte keine
Wahl, wie Sie selber zugeben, eines Tages hat er das  Fahrrad gestohlen, und
jetzt ging es naturlich los, eines Tages werde ich als Zeuge gerufen -"
     Das  ist von Schinz der letzte  Versuch  gewesen, dieser Geschichte mit
dem  Fahrrad auszuweichen. Eine kleine, aber umstandliche, eine alltagliche,
eine verzwackte,  aber wirkliche  Geschichte ...  Es ist, als sie endlich zu
den ersten Laternen kommen, beinahe Mitternacht. In der Stadt ist der Schnee
nicht geblieben,  lauter  Nasse,  die  Flocken sinken  aus  den  stadtischen
Bogenlampen, eine Limousine fahrt  durch spritzende Tumpel, kein Mensch, zum
Gluck  gibt es noch eine Stra?enbahn, eine letzte, so  dass Schinz,  was der
Forster hoffentlich  begreift, sich nicht lange verabschieden  kann.  Hinein
mit dem Hund! Drinnen gru?t Schinz mit dem  triefenden Hut, ohne den Forster
im Dunkeln zu sehen -.
     "So ein Wetter!" sagt er.
     Der Schaffner gibt keine Antwort, nur zwei Karten,  eine fur Schinz und
eine fur den  Riesenhund,  der auf der Plattform steht, dieweil  Schinz sich
gerne gesetzt hat ... Im Licht ist alles wie nie gewesen! ...
     Naturlich  hat Schinz  keine  Schlussel, wenn  er  mit  dem Hund  einen
Morgenbummel macht. Aber Bimba, versteht sich, hat ohnehin nicht geschlafen;
sie ist au?er sich.
     "Nicht einmal ein Anruf!" sagt sie.
     Sein  einziger Wunsch: ins Badzimmer,  bevor sie fragt, wo  er  gewesen
sei.  Sie wird es nicht  glauben. Er gahnt; etwas mehr als unwillkurlich; um
nicht sprechen zu mussen.
     "Wo bist du denn gewesen?"
     Keine Antwort; er  zieht die  Schuhe aus, im Grunde  zufrieden, dass er
wieder  zu Hause  ist,  argerlich  nur, um  jetzt  nicht gefragt  zu werden.
Umsonst! Bimba kennt  ihn,  wei?,  dass er keine  Auskunft geben will;  kein
Gesprach, sondern  ein  hei?es  Bad.  Bimba lasst es  einlaufen,  ihrerseits
argerlich, immerhin holt sie ein frisches Frottiertuch, legt es wortlos hin,
argerlich uber solchen Mannerkniff: Ich habe Arger, lass mich in  Ruhe! Auch
der  Hund,  der  im Office  frisst, trieft  vor  Nasse. Die Kinder  schlafen
bereits,  ebenso das Dienstmadchen.  "Wieso  willst  du  nichts essen?" sagt
Bimba: "Ich mache einen Tee, Eier, kaltes Fleisch ist auch noch da -."
     "Danke."
     Bimba sieht ihn an.
     "Gottlieb, was ist mit dir?"
     "Nichts", sagt er: "Mude -."
     Das Bad ist voll.
     "Danke", sagt er -
     Einmal  gibt  sie  ihm einen Kuss, um zu  wissen, ob er getrunken  hat.
Keine Spur. Schinz gibt den Ku? zuruck, um endlich baden zu durfen.
     "Du hast ja Fieber?"
     "Unsinn", sagt er.
     "Bestimmt hast du Fieber!"
     "Komm", sagt er: "Lass mich -."
     "Warum  kannst  du  nicht  sagen, wo du den  ganzen  Tag gewesen  bist?
Verstehe ich nicht. Nicht einmal ein Anruf! Ich sitze  den ganzen Tag,  rege
mich auf wie eine Irrsinnige - und du kommst um Mitternacht, wo wir seit dem
Mittagessen warten, und sagst nicht einmal, wo du gewesen bist."
     "Im Wald!" schreit er.
     Ture zu!  ... Hoffentlich sind die Kinder  nicht  erwacht, es  ist sehr
unbeherrscht gewesen, sehr unschinzisch. Dreiviertel Stunden dauert das Bad.
Als Schinz herauskommt, rosig und wie neugeboren, sitzt Bimba mit verheulten
Augen.
     " Was ist denn los?"
     "Ruhr mich nicht an!" sagt sie.
     Bald zwei Uhr, es  ware wunderbar, jetzt schlafen zu konnen, wenn Bimba
nicht weinen  wurde. Eine Frau von vierundvierzig Jahren,  Mutter  von  vier
gesunden  Kindern, deren  altestes demnachst  heiraten wird,  schluchzt  mit
zitternden Schultern!  nur weil der Gatte  sich  erlaubt  hat, einen Sonntag
lang sich im Wald zu verirren.
     "Bimba", sagt er -  und streicht ihr immer noch schones  Haar:  "Morgen
ist Montag!"
     "Bitte, geh schlafen."
     "Ich bin wirklich im Wald gewesen -"
     "Wenn das wieder losgeht!" weint sie.
     "Was?"
     "Warum  lugst  du?" sagt  sie  plotzlich  ohne  Tranen:  "Wenn  es  ein
Frauenzimmer ist, warum sagst du es nicht?"
     Pause.
     "Es ist kein Frauenzimmer."
     Pause.
     "Und  wenn!"  schreit  er plotzlich:  "Ich  habe gelogen, ja,  ich habe
gelogen! Ein Leben lang habe ich gelogen - - -"
     Bimba versteht  kein  Wort, eine  Viertelstunde  geht  er hin und  her,
Heinrich Gottlieb  Schinz, der  nicht  getrunken hat, das  wei? sie; hin und
her, schreiend,  um so lauter schreiend, je mehr sie ihn dampfen will, Dinge
redend, die keinen Sinn haben, die alles auf den Kopf stellen, aber wirklich
alles, kein  Glaube bleibt an  seinem gewohnten Ort,  kein Wort, das gestern
noch  gegolten,  ein Leben  lang  gegolten hat - Vielleicht hat  er wirklich
Fieber ... Anders kann Bimba es nicht erklaren,  sein wirres Geschrei, Bimba
sagt fast nichts; nur einmal: "Gottlieb, ich bin nicht taub."
     Bimba hat ihn noch nie so erlebt.

     Am andern  Morgen, wie  gesagt,  es ist  Montag, Arbeitstag, die Kinder
mussen  ins  Gymnasium,  fruhstucken im  Stehen,  die  Mappe unter  dem Arm,
obschon  Schinz diese Schlamperei nicht haben will -  am andern  Morgen, als
Schinz  und  seine  Bimba  zusammen fruhstucken,  scheint  alles  wieder  in
Ordnung;  kein Wort uber die nachtliche Szene;  Bimba im Morgenrock, der ihr
besonders  schmeichelt,  rostet  die  Brote  wie immer  am Montag, wenn  das
frische  Brot noch  nicht da ist; Schinz uberfliegt die Morgenzeitung, indem
er es ganz seinen Handen uberlasst, das Ei zu kopfen, kurzum, die Gewohnung:
- alle Worte stehen  wieder an ihrem Ort ... Von Fieber kann  nicht die Rede
sein, Schinz hat sich gemessen.
     "Got sei Dank", sagt Bimba:  "du hattest dich zu Tode erkalten konnen."
Sie glaubt jetzt an den Wald.
     "Jedenfalls  werden  wir dich am Nachmittag wieder messen!" meint  sie:
"Die Anita hat eine wirkliche Erkaltung erwischt." (Anita hei?t gie Dogge.)
     Der  Montag vergeht  wie  gewohnlich,  die laufenden Geschafte  bringen
nichts  Besonderes, Schinz fuhlt sich durchaus in Ordnung,  so dass  sie die
Karten  fur  den "Rosenkavalier" nicht zuruckgeben. Nach dem Theater,  alles
wie gewohnt, trinken sie  ein  Glas Wein; Bimba  im schwarzen Pelz. Sie  ist
besonders zartlich zu  ihm, unwillkurlich, etwa wie zu einem Kranken. Schinz
merkt es mehr als sie: etwas Behutendes, etwas auch von einer Mutter, welche
die Leute nicht  will merken lassen, dass ihr Kind ein fallendes Weh hat. Da
er sich tadellos fuhlt,  krankt es ihn nicht; immerhin bemerkt er es, hofft,
sie werde  diese  etwas  ruhrende  Art bald  wieder verlieren. Nicht  Bimbas
eigentliche Art! Doch sagen will er  nichts.  Mein Liebes,  musste  er  etwa
sagen, ich bin  nicht  verruckt! Drau?en auf der  Stra?e  kauft Schinz  eine
Zeitung,  alles  wie  gewohnt;  als er  zum Wagen  zuruckkommt,  sitzt Bimba
bereits am Steuer. Sie mochte wieder einmal fahren! Schinz schweigt.
     "Sonst verlerne ich es", sagt sie.
     Auf der Heimfahrt redet Schinz  kein einziges Wort,  das ist selten bei
ihm, aber auch schon dagewesen. Immerhin sagt Bimba:
     "Was ist mit dir, Gottlieb?"
     "Was soll denn sein."
     "Bist so still!"
     "Nichts", sagt er: "Mude -."
     "Die Steinhofer war doch herrlich!"
     "Sehr."
     "Sie ist reifer geworden", sagt Bimba: "Oder findest du nicht?"
     Keine Antwort.
     "Ich fand sie herrlich."
     Wenn  das  so weitergeht, denkt Schinz,  wird es  eine  Holle. Wenn was
weitergeht?  Das  wei?  er  nicht. Aber eine  Holle,  das ist  sicher...  Er
schlie?t die  Garage,  wahrend Bimba,  obschon  es regnet,  auf  der  Treppe
wartet.
     "Geh doch schon!"  ruft er. Sie wartet.  Er, plotzlich am  Rande seiner
Beherrschung, rei?t nochmals die Garage auf, macht Licht, offnet den Wagen.
     " Was ist denn los?" ruft Bimba.
     Schinz hat die Zeitung vergessen. "Geh schon!" ruft er -
     Aber  Bimba wartet, sie  ist sogar  einige Stufen heruntergekommen, als
habe  sie Angst, Schinz konnte den Wagen  nehmen  und nochmals wegfahren. In
den Wald, zu der Geliebten in den Wald! denkt er, lasst sich au?erordentlich
Zeit,  bis  er  die  Garage  wieder  geschlossen hat.  Sie  wartet  wie eine
Krankenwarterin! denkt er...
     Das ist der Montag gewesen.

     Ebenso der Dienstag, der Mittwoch, der Donnerstag...  am Donnerstag hat
Schinz einen neuen Fall, einen ziemlich gewohnlichen: Anklage auf Diebstahl.
Nicht Diebstahl eines  Fahrrades! Auch Schinz hat  sogleich  daran  gedacht,
etwas literarisch wie er nun einmal ist; uberrascht hatte es ihn nicht, wenn
es die Geschichte gewesen ware,  die der Forster so umstandlich erzahlt hat.
Aber so ist das Leben ja nicht, so witzig, so vorlaut. Gestohlen wurde nicht
ein Fahrrad, sondern ein Wagen, ein Citroen. Schinz hort sich die Geschichte
an,  eine umstandliche,  aber alltagliche, eine  verzwackte,  aber wirkliche
Geschichte. Er  ist  bereit, die Sache zu fuhren, wie er es von  jeher getan
hat,  namlich gewissenhaft;  er tut  nichts anderes als  sonst; er sucht das
Recht;  er stellt die Sache hin, wie er sie  sieht - und der Skandal ist da!
(Sein erster Skandal.)
     Heinrich   Gottlieb  Schinz,   Rechtsanwalt,   Sohn   eines   namhaften
Rechtsanwaltes,  ein  bekannter  und   uberall  geschatzter  Mann  in  einer
mittelgro?en  Stadt,  Vater von vier gesunden  Kindern,  die  das  Gymnasium
besuchen  oder bereits uberstanden haben, Heinrich Gottlieb Schinz  steht im
Gericht, dem er drei Jahrzehnte lang alle Ehre gemacht hat, und sagt:
     "Nein! Der Mann hat nicht gestohlen, nicht mehr gestohlen als der Herr,
dem dieser Wagen gehort, der Mann war in schwerer Not, denn eines Tages -"

     "Nein! der Mann hat nicht gestohlen -."
     Es ist  spater ein  geflugeltes Wort  geworden, das einzige, das Schinz
auf dieser Erde  hinterlassen hat... Andere Witze, die  man zur Zeit  dieses
ersten kleinen Skandales horen kann, sind nicht uberpersonlich genug, um die
Zeit zu uberdauern; einer davon geht so:
     " Wissen Sie das Neueste?"
     "Was denn?"
     "Schinz ist nicht mehr Rechtsanwalt."
     "Sondern?"
     "Linksanwalt."
     Daruber hat mehr als einer gelacht, sogar Schinz - nur Bimba nicht, die
das Ganze durch einen Anruf  erfahren hat; etwa in dem Ton:  Was ist los mit
Ihrem verehrten  Herrn Gemahl?  Nicht umsonst ist  Bimba  auf  alles gefasst
gewesen.  Seit  dem  nachtlichen Ausbruch an jenem  Sonntag.  Die  Nachricht
empfindet  sie fast  wie eine  Entspannung.  Wenn  es nur  das ist! Peinlich
genug, da es naturlich in der Zeitung steht. Schinz liest es beim Fruhstuck,
nicht gleichgultig, aber auch nicht erregt.
     Das stimmt nicht", sagt er nur.
     Ein sehr gemeiner Bericht.
     "Ich werde ihnen sofort schreiben", sagt er, indem er seine Hauszeitung
hinlegt und sich Kaffee eingie?t: "das mussen sie richtigstellen."
     Nach  zwei Tagen kommt  seine  Einsendung  zuruck,  was ihn  ordentlich
betrifft. Wieder beim Fruhstuck. Bimba  ist noch im Badezimmer, als  er  die
Post bekommt. Er steckt das Kuvert in die Tasche seines  Morgenrockes, bevor
Bimba kommt.
     "Wei?t du", sagt Bimba: "du solltest doch zu einem Arzt gehen -."
     Doch! sagt sie;  weil  sie  im stillen schon seit  Wochen daran gedacht
hat: Nervenarzt.  O ja! Um nicht zu sagen: Irrenarzt... Er  loffelt sein Ei;
eine halbe Stunde spater  erbricht er es  wieder, tut aber alles, dass Bimba
es nicht merkt.
     "Wo gehst du hin?"
     Keine Antwort.
     An diesem Morgen geht Schinz zu seinem Freund, der allerdings nicht vom
Fach ist, aber ein wirklicher Freund, eigentlich  der einzige, wenn auch die
Freundschaft etwas einseitig ist; fur  Schinz bedeutet sie mehr als fur  den
andern.  Er  ist  Musiker. Ein lieber Mensch, der  etwas  gerne Recht  gibt.
Schinz wei?: Es hei?t nicht viel, wenn Alexis dir Recht gibt! Es hei?t, dass
er eine Sympathie zu  dir  hat. Aber darum  geht es  jetzt nicht. Alexis ist
Emigrant, das ist wichtig; ein Fremdling. Als Zeuge  ohne volles Gewicht; er
hat sich halt daran gewohnt. Alexis ist froh, wenn er geduldet ist; er liebt
es nicht, sich einzumischen. Aber ein feiner Mensch, einer von den  wenigen.
Fur Schinz wurde es  sich nur darum handeln,  dass Alexis  die  beiden Texte
liest, den  Bericht  in der Zeitung  und seine eigene Einsendung. Um dann zu
sagen,  ob  er  die  Einsendung  richtig  findet  oder  verfehlt,  anma?end,
ubertrieben. Nur keine Ubertreibung!
     "Ich brauche deinen Rat."
     Alexis liegt noch im Bett.
     "Ich habe einen kleinen Skandal -."
     "Ich wei?."
     "Nun ist folgendes -"
     Telefon, Alexis nimmt es ab. Schinz wartet, erhebt sich etwas unrastig,
tritt ans Fenster, um eine Zigarette zu rauchen... Bimba will wissen, ob ihr
Mann  vielleicht  bei Alexis  ist  - Eine  Minute  spater,  ohne seine Sache
vorzubringen,  ist  Schinz  wieder  gegangen,  unhaltbar wie  ein launischer
Junge;  ein  Mann von sechsundfunfzig  Jahren, Doktor  Schinz, Rechtsanwalt,
Vorstand des Kunstvereins. Alexis ruft Bimba an:
     "Was habt ihr denn?" fragt er.
     Bimba weint...
     So  geht  das  weiter,  alles  etwas  komisch,  etwas  kleinlich, etwas
ubertrieben.   Schinz   ist  auf  die  Zeitung   gegangen;  man  kennt  sich
gesellschaftlich,  und die Leute mussen ihn empfangen,  tun  es auch,  alles
nicht unfreundlich,  aber es gelingt ihnen nicht, Schinz zu uberzeugen, dass
seine Einsendung, um nur davon zu reden, unmoglich ist.
     "Nein! der Mann hat nicht gestohlen -."
     Die  Herren  sehen  einander  nur  an, schweigen,  wie  die  arme Bimba
geschwiegen hat, als Schinz damals hin  und her gegangen  ist, Dinge redend,
die alles auf den Kopf  stellen, aber  wirklich alles, kein Glaube bleibt an
seinem gewohnten Ort, kein Wort, das ein Leben lang gegolten hat...
     "Gut", sagt der Schriftleiter: "bleiben wir bei der Sache! Sie beharren
also darauf, dass wir Ihre Einsendung veroffentlichen -"
     "Ja."
     "Herr Doktor", sagt der Herr:  "darauf kann ich Ihnen nur eines  sagen:
ich bin bereit, aber ich warne Sie."
     Schinz,  von  dem  zweifellos  menschlichen  Ton  beruhrt,   hat  seine
Einsendung  nochmals zur  Hand genommen, obschon er  ihren  Text  nachgerade
kennt. Der Herr halt es fur  seine menschliche Pflicht, Schinz zu warnen; er
wiederholt  das noch  einige Male.  Schinz will naturlich nicht  starrsinnig
sein. Eine Pose des Mutes? Der Herr halt es  gar nicht fur Mut, wenn  Schinz
daran  festhalt, sondern fur Irrsinn; er  sagt  es gelinder:  Fauxpas.  Auch
Schinz halt es nicht fur Mut;  die Einsendung  sagt wirklich nichts, was ihm
nicht selbstverstandlich ist.  Nicht so: Euch will ich es einmal sagen, ich,
Heinrich Gottlieb Schinz! Sondern ganz simpel:  Warum soll ich verschweigen.
was ich finde? Als einer von Mut redete, hat es ihm fast Angst gemacht; aber
er kann nichts Mutiges daran finden. "Wie Sie wollen". sagt der Herr -
     Seine Einsendung bleibt also da.
     "Und ohne jeden Strich?"
     "Ja", sagt Schinz: "es sind ja kaum anderthalb Seiten -."
     Schinz,  seine Mappe in der linken Hand, hat sich verabschiedet, wie er
es gewohnt  ist, hoflich, Auge in Auge; sie schauen ihn an wie einen, der an
die Front  geht... Am andern Morgen, wie er wieder beim Fruhstuck sitzt, ist
die  Einsendung erschienen.  Oben  auf  der  zweiten  Seite.  sehr sichtbar,
versehen mit  einem kurzen Nachwortlein,  worin die Schriftleitung,  wie sie
behauptet,  es  dem  Leser  uberlasst,  seine  Meinung  uber  einen  solchen
Rechtsanwalt zu bilden. Das ist das erste, was Schinz uberfliegt. Dann liest
er den eigenen Text, etwas bange, ob sie  wirklich nichts verstummelt haben.
Das nicht; aber es ist, als wurden die Lettern, gewohnt das genaue Gegenteil
auszusagen, sich weigern, seinen Sinn wiederzugeben. Zum ersten Male, Schinz
erbleicht von Zeile zu  Zeile,  zum allerersten  Male merkt  er,  dass etwas
geschehen ist, dass er sich verwandelt hat,  dass  das  Selbstverstandliche,
was  er zu  sagen  hat, in  Widerspruch  steht zu aller  Umgebung,  in einem
endgultigen und  unversohnbaren Widerspruch. Darum  die Warnung? Jetzt erst,
gleichsam erwachend, bemerkt er auch  den  Titel, den  sie  daruber  gesetzt
haben: "Nein! Der Mann hat nicht gestohlen..."
     In diesem Augenblick wei? Schinz, dass er erledigt ist; allermindestens
als Rechtsanwalt; allermindestens in dieser Stadt.

     Der Rest ist  wie ein boser Traum. Er ist bald erzahlt, glaube ich, die
Entscheidung  ist gefallen damals  im Wald, als er mit dem  Forster gegangen
ist, vorwarts statt ruckwarts. Er  kam aus seiner Stadt, er wollte  in seine
Stadt.  Die Dogge, die schone Anita, ist kurz darauf eingegangen; jeder Hund
geht einmal ein; Schinz  hat sich  sehr gewehrt, diesem naturlichen Hundetod
irgend etwas beizumessen, aber betroffen hat es ihn  doch; es  ist  ihm, als
habe er seinen  letzten  Zeugen  verloren, seinen  letzten Begleiter;  eines
Tages sieht Schinz sich an der Grenze,  allein, anders als  fruher, wenn  er
nach Paris gereist  ist, nach Rom, nach Florenz,  nach London, nach Munchen;
ohne Gepack, ziemlich unrasiert steht er in einem kleinen kahlen Raum, wo er
sich ausziehen muss, ausziehen  bis aufs Hemd - Schinz zogert, als konne  er
es nicht glauben, aber der Kommissar wiederholt es:
     "Bis aufs Hemd."
     Jede Tasche wird untersucht, nicht grob, aber  unbarmherzig. Schinz hat
keine  Ahnung, was sie  suchen. Er  ist  nicht  uber einen Bach geschwommen,
nicht  uber nachtliche Acker  gekrochen; er ist mit der Bahn gefahren.  Ohne
Gepack.  Vielleicht  hat das ihn  verdachtig gemacht. Sein  Pass ist gultig,
auch wenn man ihn  gegen das grellste  Licht halt. Waffen hat er nicht, auch
keine  Goldbarren,  nicht  einmal  Schriftstucke,  nichts,  was  aus  seinen
Unterhosen  herausfallt. Aber verdachtig  ist verdachtig.  Schinz  versucht,
ruhig  zu  sein,  nichts  zu  sagen. Die  andern,  die  ihn betasten,  sagen
ebenfalls  nichts.  Korper  eines  alteren  Mannes,  das ist  alles, was sie
finden.  Auch  zwischen  den Schuhsohlen, die  trotz  seiner ehrenwortlichen
Versicherung  aufgetrennt worden  sind, ist nichts. Schinz kann sich  wieder
ankleiden. Der Kommissar, seinen Pass in der Hand, verlasst die kahle Zelle;
der  Gendarm  bleibt.  Durch einen  Turspalt sieht Schinz,  wie die  anderen
Reisenden eben ihre  gepruften  oder ungepruften Koffer wieder verschlie?en,
Herren und Damen, Pelze, Hutschachteln, die Trager nehmen die bunten Colis.
     "Wenn Sie so freundlich waren", sagt Schinz: "die Ture zu schlie?en -."
     Der Gendarm gibt einen Fu?tritt.
     "Nur die Ruhe!" sagt er: "Den Zug bekommen Sie sowieso nicht mehr."
     "Wieso nicht?"
     Der Gendarm tragt ein Gewahr.
     "Wieso nicht?" fragt Schinz -
     Der Gendarm konnte sein Sohn sein.
     "Fertig?"
     Das fragt  nicht der Gendarm,  sondern ein dritter,  der die Tur wieder
geoffnet  hat, um sie wieder nicht ganz  zu  schlie?en; herein  und hinaus -
Fertig?  nichts  weiter  als  das: Fertig?... Schinz bemuht sich,  nicht  zu
hassen; das ist ihr Dienst, sagt er sich, ein widerlicher Dienst, mitten  in
der Nacht eine Uniform  anziehen und auf die verspateten Zuge  warten, Leute
sehen, die ans  Meer fahren oder ins  Gebirge, Leute  untersuchen, die daran
schuld sind, dass man  solchen Dienst  uberhaupt machen muss. Schinz  bemuht
sich, seine misshandelten Schuhe anzuziehen und nicht zu hassen. Ein alterer
Mann  wie er,  im  Augenblick nicht gerade gepflegt, Hosen mit Hosentragern,
Hemd ohne  Kragen, dazu das  grunliche Licht, Schinz begreift, dass  er hier
nicht  die  Formen  erwarten kann,  welche  die  Herren auf der Zeitung noch
gewahrt haben, bevor sie den Titel wahlten:
     "Nein! Der Mann hat nicht gestohlen..."
     Man wird sehr rasch bekannt.
     "Nehmen Sie Platz",  sagt der Kommissar,  als Schinz, seinen Mantel auf
dem Arm, vor dem Tisch steht und wieder eine  Krawatte tragt: "Bitte, nehmen
Sie Platz."
     Schinz bleibt stehen.
     "Ich  mochte Sie  darauf aufmerksam machen", sagt er: "dass mein Zug in
vier Minuten weitertfahrt."
     "Das geht mich nichts an."
     Pause.
     "Meinetwegen bleiben Sie stehen."
     Schinz  setzt sich,  es hat  keinen Sinn,  die Leute vor  den  Kopf  zu
sto?en; das ist ihr Dienst, ein widerlicher Dienst.
     "Schinz, Heinrich Gottlieb -."
     "Ja."
     "Doktor jur."
     "Ja."
     "Rechtsanwalt -."
     "Ja",  sagt  Schinz; es  fehlt  jetzt  nur  noch,  denkt  er, dass  der
Hornochse mir vorliest, wie viel Zentimeter ich habe.
     "Geboren -"
     "Ja"
     Drau?en hort man  das Gepaff der Lokomotive, bereit,  jeden  Augenblick
abzufahren; Schinz bei?t auf die Lippen, der Hornochse blattert im Pass, als
hatte er noch keinen gesehen.
     "Wo fahren Sie hin?"
     "Hinaus", sagt Schinz.
     192
     "Ich frage, wo Sie hinfahren."
     "Ich sage: Hinaus."
     Pause.
     "Ich frage Sie zum letzten Mal."
     Schinz hat Muhe, nicht zu hassen, alie  zu  hassen in  diesem Einzigen,
der da  hockt,  seinen Pass in  der Hand, zu hassen, zu  hassen... Nicht die
Nerven  verlieren! denkt er: "Ich  muss  hinaus, ich muss, ich kann es nicht
aushalten,  Unrecht zu sehen und zu schweigen, Zeitungen zu lesen,  die  das
Gegenteil sagen,  Menschen zu  sehen,  die  mich  wie  einen  armen  Kranken
behandeln, wie ein Kind  mit  einem fallenden Weh, zu  fuhlen, wie sie Angst
haben vor  meinem  nachsten  Fauxpas, diese  mutterliche  Sorge,  ich konnte
unseren Wagen auf ein Trottoir  fahren,  diesen  freundschaftlichen Rat, ich
solle nicht so viel rauchen und mich nicht in eine Sache hineinsteigern, das
Schweigen, wenn  ich  mich erklare, die  unausgesprochene Hoffnung, dass ich
endlich  zu einem Nervenarzt  gehe, ich  halte es  nicht mehr  aus, ich muss
hinaus! - und noch  ist  der Zug  nicht abgefahren, die paffende Lokomotive,
die zum Platzen voll Dampf ist..."
     "Wo fahren Sie hin?"
     "Das geht Sie einen Dreck an!"
     Schinz ist aufgesprungen,
     "Bitte", sagt der Kommissar -
     "Das  geht Sie  einen  Dreck an!"  schreit  Schinz: "Das geht Sie einen
Dreck an!"
     Schreien ist so unschinzisch, er merkt es jedesmal, bereut es jedesmal,
nicht  weil der Hornochse  ihn jetzt  strafen wird, bereut es, weil  es  ihm
nicht liegt...  Gottlieb, hat Bimba  damals gesagt, ich bin nicht taub - Und
ob  sie  taub  sind! Alle sind  sie taub! Sie horen, dass man  schreit, aber
nicht, was man schreit.  Das ist es!  Naturlich sind sie taub, sonst  wurden
sie sich selber nicht aushalten, sie wurden eingehen wie die Dogge, weil sie
es gehort haben und nicht sagen konnen, wie die Dogge! denkt er, wahrend der
Kommissar sich ebenfalls erhebt und trocken lachelt:
     "Bitte. Sie konnen gehen."
     Den  Pass hat er  in die Schublade geworfen, die  Schublade schlie?t er
ab, den  Schlussel steckt er in  die hintere  Hosentasche, die  Fulle seines
Arsches zeigend  - Schinz hat begriffen,  nimmt seinen Mantel, geht  hinaus,
doch kommt er nicht weit, bis der junge Gendarm ihn einholt.
     "Sie sollen zuruckkommen."
     " Warum?"
     "Sie sollen zuruckkommen."
     Schinz geht zuruck; der Kommissar steht, eine Pfeife anzundend, so dass
er eine Weile nicht sprechen kann; dann sagt er: "Schlie?en Sie die Ture wie
ein anstandiger Mensch, Herr Doktor."
     Schinz schluckt. Der Kommissar raucht, bereits anderweitig beschaftigt.
Schinz schlie?t die Ture wie ein anstandiger  Mensch... Drei Uhr morgens, es
regnet wieder in Stromen, geht er schwarz uber die Grenze, Heinrich Gottlieb
Schinz, Rechtsanwalt, ein Mann ohne Papiere.
     Die Kinder schamen sich im Gymnasium.
     Einige  Nachte sieht  sich Schinz, wie ,er in Stadeln  ubernachtet, nie
ganz  schlafend,  wachsam,  solange  er  sich  im Grenzgebiet  befindet.  So
ungefahr, denkt er, ist Alexis uber  unsere Grenze gekommen,  der  Emigrant,
der als Zeuge kein volles Gewicht hat; man ist sehr rasch ein  Emigrant. Man
ist ansassig, wie  man ansassiger nicht sein kann, hat  einen Stammbaum  und
ein Haus; plotzlich  ist man  ein Emigrant. Das ist schon ofter vorgekommen!
Man sieht die Dinge etwas anders, als die andern sie lehren; man kann nichts
dafur, dass die Zeitungen das Gegenteil schreiben... Eines Tages melden sie,
dass Schinz geschnappt worden  ist, namlich auf  der andern  Seite. Er soll,
wie der behordliche  Ausdruck lautet,  abgeschoben werden. Abgeschoben!  Fur
die Familie ein nicht ausdenkbarer Schlag. Nur Bimba  halt  sich  gro?artig;
sie  ist alt geworden, hat  fast keinen Umgang. Nicht dass  die Menschen sie
meiden! So sind die  Menschen ja auch wieder nicht; nur Bimba halt sie nicht
aus, nicht einmal  ihr  Schweigen.  Sie verteidigt  nicht alles, was  Schinz
gesagt und getan hat; etwa sein  lacherlicher Zank mit der Zeitung; aber der
Fall mit dem  Wagen,  ja, das findet auch Bimba, dass der Mann, je ofter sie
daruber nachdenkt, und zwar allein, nicht gestohlen hat. Komisch, wie anders
man sieht,  wenn  einmal  der gewohnte Umgang etwas  nachlasst!  Und  wie er
nachlasst, wenn man anders sieht; das ist dann nicht mehr komisch, Bimba ist
sehr alt geworden. Wieder sitzt da ein Kommissar:
     "Schinz, Heinrich Gottlieb -?"
     Schinz schweigt.
     "Doktor jur."
     Schinz schweigt.
     "Rechtsanwalt!"  sagt  der  Kommissar, der  diesmal  keinen  Pass halt,
sondern  einen Steckbrief, und  fahrt fort:  "Warum leben  Sie  unter  einem
falschen Namen?"
     Schinz schweigt.
     "Sie haben die Grenze schwarz uberschritten. Ihr eigenes Land hat Ihnen
die Papiere entzogen."
     "Das ist nicht wahr!"
     "Sie haben  also die Grenze  nicht uberschritten?" sagt  der  Kommissar
nicht ohne Stolz auf die zwingende Fuhrung des Verhors:
     "Sie befinden sich also nicht in diesem Land?"
     "Man hat mir keine Papiere entzogen."
     " Wieso haben Sie denn keine?"
     Schinz, sich furs  erste mit  einem kurzen hamischen Lachen  begnugend,
nimmt  ein  Taschentuch  heraus,  ein sehr ungewaschenes,  wie es bei  einem
Schinz  hochstens  noch  in der  Bubenzeit hat  vorkommen konnen,  grau  und
verwurstelt, feucht, widerlich, dann sagt er:
     "Das ist eine lange Geschichte -"
     Bald erinnert er sich selber nicht mehr!
     "Damit geben Sie also zu", sagt der Kommissar: "dass Sie nicht Bernauer
hei?en, sondern Schinz - Heinrich Gottlieb, Rechtsanwalt?"
     "Ja."
     Schinz  schneuzt  sich;  es brauchte  keine spiegelnde Fenster scheibe,
damit er wei?, wie er aussieht! Kein  Geld fur frische Hemden, einige Nachte
in  den Wartesalen dritter Klasse, Verlust der Bugelfalten, einige Nachte im
Freien,  kein warmes Wasser, Seife von offentlichen Aborten, ein Mantel, der
sozusagen zu deiner Wohnung geworden ist, und das Kostum  eines Verdachtigen
ist da. Verlasse dich nicht auf dein Gesicht, auf die Zuge deines Gesichtes!
Vergiss   den   Rosenkavalier,  vergiss   den   Kunstverein,   vergiss   die
Denkmalpflege; Kenntnisse dienen nur noch dazu, dich  restlos  verdachtig zu
machen. Ein Mann wie du, der  ein Haus hat  und einen  Wagen,  warum hast du
deine  Stadt verlassen? Warum  hast du  es notig, Bernauer zu hei?en?... Das
Protokoll, das erste  von vielen kommenden, kannst du unterzeichnen, wenn es
fertig ist; es sind da noch einige Fragen.
     "Herr  Doktor",  sagt  der  Kommissar,  das  noch  bescheidene  Dossier
offnend, und sein Ton, wenn er Doktor sagt, ist nicht etwa hohnisch, sondern
durchaus achtungsvoll, da der gewohnliche Landstreicher nun entlarvt ist als
ernsthafter Fund: "Sie haben Verbindungen zu einem gewissen Becker?"
     Schinz stutzt.
     "Becker, Alexis, Emigrant."
     Schinz schweigt.
     "Ja oder nein?"
     Schinz schweigt.
     "Bitte", lachelt der Kommissar: "vielleicht erinnern Sie sich, wenn ich
Ihnen das Bild zeige -."
     Schinz hat das Gefuhl, rot zu werden.
     "Das  Bild ist allerdings alt",  sagt der Kommissar: "Ihr  Freund tragt
keinen Schnurrbart mehr, so viel wir wissen."
     Schinz schweigt.
     "Ich  will  Sie  nicht uberrumpeln, Herr  Doktor, Sie werden Zeit genug
haben, sich alles zu uberlegen", sagt der Kommissar mit dem fast kollegialen
Ton  von  Todfeinden, die  ihre Spielregeln kennen: "Ferner kennen Sie  sehr
wahrscheinlich einen gewissen Marini..."
     "Marini?"
     ;,Francesco Marini."
     "Nein. -"
     "Oder Stepanow."
     "Stepanow?"
     "Ossip Stepanow."
     "Nein!"
     "Oder Espinel."
     "Nein!" sagt Schinz.
     "Roderigo Espinel."
     "Nein!" sagt Schinz.
     "Seine Namen tun nichts zur Sache", sagt der Kommissar:
     "Aber wenn Sie ihn kennen, erinnern Sie sich an sein Gesicht - ein sehr
markantes Gesicht, das hat  noch keiner vergessen, der  ihn  einmal  gesehen
hat."
     Und damit gibt er das Foto:
     "Ein fertiger Christuskopf!"
     Schinz erbleicht...
     "Sie erinnern sich, Herr Doktor?"
     Schinz  halt  das  Foto: der  Forster, der  Lodenmantel - Man will mich
wahnsinnig machen, denkt er, man will mich wahnsinnig machen! - Er  steht in
dem  Lodenmantel, ein Forster am Sonntag, der  sich  vor seine Stamme stellt
und eine Aufnahme machen lasst, etwas  verlegen,  ein schlechtes Foto,  aber
deutlich,  ein  dilettantisches Foto. Schinz legt es  auf den Tisch  zuruck,
unwillkurlich und  etwas rasch, so, als verbrenne  es seine Finger oder  als
ware  es schwer wie  ein Stein... Der  Kommissar  hat sich  unterdessen eine
Zigarette genommen, zundet an; jetzt sagt er:
     "Kennen Sie den Menschen?"
     Die Zelle,  die  Schinz  bekommt,  ist  ganz ordentlich.  Sie hat sogar
Sonne,  ein etwas  hochgelegenes  Fenster,  so dass man  nichts von der Welt
sieht, nur einen Kamin, namlich wenn Schinz auf  seiner Pritsche  steht. Die
Pritsche  ist  hart,  aber   sauber,  nicht  unwurdig.   Drei  Uhr   mittags
verschwindet die Sonne; kurz danach hort man eine Turmuhr. Schinz findet  es
schon viel,  dass  er nicht gegen  eine  Mauer sieht,  womoglich  lloch eine
Schattenmauer,  sondern gegen  den  Himmel.  Seine  Zelle  ist  offenbar  im
obersten Stockwerk; jedenfalls  hort man oft  das Geflatter der  Tauben, hin
und  wieder  schwirrt eine vor dem  Gitter vorbei. Manchmal  ist Schinz ganz
heiter:  Man muss  halt nicht uber die Grenze schleichen! sagt  er sich. Die
Zelle ist  klein; es  erinnert  ihn  an  das bekannte  Kloster  in  Fiesole.
Uberhaupt  die Erinnerungen! Seine  erste Angst, als  er  an  dieser  Stelle
sitzt: Jetzt nicht den Glauben an deine Unschuld verlieren! Das Foto mit dem
Forster, sagt er sich, ist eine Hysterie gewesen; er hat es ja kaum wirklich
betrachtet; er ist erschrocken und hat es weggelegt. Erschrocken  uber einen
Lodenmantel,  wie es Tausende gibt! Das Gesicht, sagt Schinz sich mit Recht,
hat er damals gar nicht so deutlich gesehen; es war ja schon Dammerung, dann
sogar Nacht. Lass  dich nicht irrsinnig machen! Und wenn schon, denkt er ein
anderes Mal, wenn  er es wirklich gewesen ware: was habe ich verbrochen? Ich
habe ihn gesehen, gut, ich  habe mit ihm geplaudert, gut, vor  allem hat  er
geplaudert.  Was weiter? sagt Schinz, indem  er plotzlich in seinem Hin  und
Her  wieder  stehen  bleibt:  Was  geht  dieser Marini  mich an oder  dieser
Stepanow oder wie  er hei?t? Dann legt er  sich auf die  Pritsche: Man  will
mich  irrsinnig  machen,  sagt  er  sich  ziemlich gelassen,  man will  mich
irrsinnig machen. Drau?en hort man das Gackern von Huhnern. Irgendwie schon.
Ein  Fenster voll Himmel; das Gitter davor ist nicht so  schlimm; Schinz hat
ja keine Absicht, hinunterzuspringen in den  Tod oder  hinauszufliegen  uber
die Kamine.  Einmal,  denkt er, wird ein Gericht stattfinden. Hin und wieder
hort man auch das Hupen von Wagen, aber ziemlich ferne; jenseits von Baumen,
jenseits eines Hofes  oder  so. Das ganze Gebaude, wer wei?,  war vielleicht
einmal  ein  Kloster;  Schinz  hat auf seinen  Reisen so viele alte  Kloster
besucht, sich manchmal vorzustellen versucht: Wenn du in einer solchen Zelle
leben musstest? und dann ist Bimba gekommen, begeistert von einem Kreuzgang,
man  ist  hinuntergegangen,   hat  Fresken   bewundert,   langsam   ist  man
hinausgegangen, Sonne  auf einer Piazza,  gegenuber  ein kleines Ristorante.
Die  Fresken:  Sebastiano  mit  den  Pfeilen  im  Leib,  ein  Kindermord  zu
Bethlehem,  ein  Christophorus, die drei bekannten Kreuze auf Golgatha, viel
bittere Geschichten, aber schon. Wolfflin  fallt ihm ein! Und so weiter. Zum
Gluck sind die Kinder schon gro?. Manchmal steht Schinz einfach an der Wand,
die  Arme  an der Wand, den Kopf in den Armen, so  dass er nichts sieht; mit
offenen  Augen. Der  Himmel ist zum Verzweifeln. Schlafen geht nicht. Traume
machen alles so  ma?los.  EinmaI  wird das  Essen kommen. Dann wird es  sich
zeigen! ob es Gendarmen sind oder Warterinnen, Gefangnis oder Irrenhaus. Das
ist seine einzige Angst. Wenn du nirgends auf der Welt ein voller Zeuge mehr
bist. Als sie kommen, die Schritte,  nimmt er  den Kopf nicht von  der Wand;
die  Ture geht auf,  Schinz bleibt so, die  Ture geht zu. Schinz schaut: ein
Geschirr ist  da,  ein blechernes, aber sauber, Kartoffelsuppe und Brot, ein
etwas komisches  Gefa? mit  frischem  Wasser... Wochen wie Jahre, Jahre  wie
Wochen,  Verhore, die sich  wortlich wiederholen, Namen,  die  Schinz  nicht
kennt,  hin und wieder ist er durchdrungen vom Bewusstsein,  dass alles  nur
ein Traum ist, aber das andert nichts  daran; sooft er erwacht, sieht er das
Gitter von dem Himmel, und jeden Morgen, wenn es grau wird, hort er, wie die
Hahne krahen -. Endlich ist es soweit.
     Eines Tages sieht sich Schinz, wie er es von Bildern kennt, in Hemd und
Hose und mit einem kleinen  Strick um  die Handgelenke. Er ist nicht allein.
Sie stehen in einem Schulhaushof, Kies, die Kastanien bluhen mit wei?en  und
roten Kerzen. Stunden ohne  Ahnung. Die Soldaten, die  sie  bewachen, tragen
eine Uniform, die Schinz noch nie gesehen hat; die Historie, scheint es, hat
sich  wieder einmal gewendet, die Mutzen sind anders, der Schnitt der Hosen,
anders ist auch die Art, das  Gewehr zu tragen.  Es ist schon ziemlich hell,
aber vor Sonnenaufgang. Was  Schinz, ubrigens der einzige  Deutschsprechende
in  seiner Gruppe,  mehr beschaftigt als die  unbekannten Uniformen, ist der
kleine Huhnerhof des Hauswartes, wo er zum ersten Male die  beiden bekannten
Hahne sieht, die er jeden Morgen gehort hat! noch haben sie nicht gekraht...
Auf  der Treppe der Turnhalle erscheint ein Mann ohne  Uniform, ein ziemlich
junger Bursche, der eine Armbinde tragt; eine Liste verlesend:
     "Stepanow, Ossip."
     "Hier."
     "Becker, Alexis."
     "Hier."
     "Schinz, Heinrich Gottlieb."
     "Hier."
     Die  ubrigen  blicken  auf  den  Kies.  Je  ein  Soldat fuhrt  die eben
Gerufenen  aus  ihrer  Gruppe.  Hinuber in die Turnhalle,  die  immer  noch,
obschon  es  tagt, hell  erleuchtet  ist.  Naturlich wird  nicht gekreuzigt,
sondern   erhangt.   Die    Vorrichtung   ist   lacherlich   einfach,   fast
schulbubenhaft; drei Ringseile sind heruntergelassen, daran  je ein ziemlich
dunner  Strick  mit einer Schlaufe.  Darunter  je  ein  fluchtig  genagelter
Holzblock  mit drei Stufen. Schinz denkt:  Das  kann aber  nicht euer  Ernst
sein! ohne  sich  jedoch eine  Hoffnung  zu machen,  dass es  deswegen nicht
stattfinden werde.  Auch daruber  ist  Schinz  sich klar, dass  er  nie mehr
erfahren  wird,  worin  sein Verbrechen  eigentlich bestanden hat. Irgendwie
spielt es wirklich  keine  Rolle;  so  weit  ist er  schon  gekommen. Wieder
vergeht eine Weile. Die drei Gerufenen  sind so  gestellt, dass sie sich den
Rucken zuwenden,  einander nicht  sprechen und  nicht sehen  konnen.  Schinz
sieht  einen Tisch,  gemacht aus  zwei  Hurden  und einem Brett,  darauf ein
Eisenstab,  zwei Handschuhe,  wie  die  Schwei?er  sie  haben,  drei  kleine
Schnappzangen, ein Bunsenbrenner, ein vielfach vergluhter Draht, das genugt,
damit  lasst sich foltern, so viel man  nur will. Eine Uniform  spricht  mit
einer  Art von  Arzt, der mehrmals die  Achseln  zuckt. Dann, da die bei den
offenbar  zu keinem Ende kommen, wendet sich die Uniform, drei Fotos  in der
Hand; jeder wird nochmals mit  seinem  Foto verglichen. Dann kommt der junge
Bursche mit der Armbinde, weist ihnen  die Platze an. Links Becker, Stepanow
in der Mitte, rechts Schinz. Die Schlaufe sollen sie sich selber um den Hals
legen - es ist wirklich der Forster. Er sagt:
     "Warum haben Sie mich verraten?"
     Schinz hat keine Stimme.
     "Warum haben Sie mich verraten?"
     Der  Forster  hilft ihm, vorwurfslos, so wie er dem armen  Becker schon
geholfen  hat,  so,  als ware  er  schon  unzahlige Male gehangt worden,  er
selber. Schinz schaut ihn an und sagt:
     "Ich verstehe kein Wort."
     Der Forster lachelt.
     "Ich  habe  Sie  nicht  angesprochen,  Herr  Doktor,  Sie  haben   mich
angesprochen, Sie haben mich nach dem Weg gefragt -."
     "Nein", sagt Schinz.
     "Tragen wir es."
     Da, sein  Christus-Gesicht  vor Augen, kann Schinz  es  nicht ertragen,
schreit, als konne er  daran erwachen, schreit,  wie ein Mensch nur schreien
kann, schreit:
     "Nein! Nein! Nein!"
     Das ist das letzte Mal gewesen, dass  Schinz seine eigene Stimme gehort
hat  - - - Erwacht,  schwei?uberstromt, die eigene Hand  an seinem Hals, der
unversehrt ist, merkt er  es nicht sogleich, Bimba streicht ihm die  Stirne,
Bimba ist alt, Bimba lachelt,  der  Arzt steht am Fu?ende  des Bettes, Bimba
bewegt die Lippen, aber sie sagt kein Wort, auch der Arzt bewegt die Lippen,
aber niemand sagt ein Wort. Schinz ist taub. Als er es wei?, schlie?t er die
Augen; als musste, wenn er sie dann abermals aufmacht, alles verandert sein.
Nichts ist verandert, sie bewegen die Lippen. Als er es sagen  will, dass er
sie nicht mehr horen kann, merkt er, dass er auch stumm ist.
     Schinz hat nach diesem  Ereignis noch sieben Jahre  gelebt,  ohne seine
Vaterstadt   zu  verlassen.  Mit  dreiundsechzig  Jahren  stirbt   er  eines
naturlichen Todes. Und nicht ohne Ansehen. Sein sonderbarer Fauxpas ist zwar
nicht vergessen  worden, aber verziehen; man hat  den taubstummen Herrn auch
auf der Stra?e immer zuvorkommend begru?t; die Au?enwelt, ausgenommen Bimba,
hat  das  Ganze,  wie  schon gesagt,  durchaus  als  einen  klinischen  Fall
betrachtet,  aufsehenerregend auch so,  erschutternd auch  so, aber fur  die
Au?enwelt ohne jede Folge.

     OCR, Spellcheck: Il'ya Frank, http://frank.deutschesprache.ru




Last-modified: Mon, 20 Jan 2003 08:00:22 GMT
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