n edlen Duften. Nach der Flasche mit dem Hoffnungsduft entkorkte er eine aus dem Jahre 1744, die gefullt war mit dem warmen Holzgeruch vor dem Haus der Madame Gaillard. Und nach diesem trank er eine Flasche sommerabendlichen Dufts, parfumdurchweht und blutenschwer, aufgelesen am Rande eines Parks in Saint-Germain-des-Pres anno 1753. Er war nun muchtig angefullt von Duften. Die Glieder lagen immer schwerer in den Kissen. Sein Geist benebelte sich wunderbar. Und doch war er noch nicht am Ende des Gelages. Zwar konnten seine Augen nicht mehr lesen, war ihm das Buch lungst aus der Hand geglitten - aber er wollte den Abend nicht beschließen, ohne noch die letzte Flasche, die herrlichste, geleert zu haben: Es war der Duft des Mudchens aus der Rue des Marais... Er trank ihn andachtsvoll und setzte sich zu diesem Zweck aufrecht auf das Kanapee, obwohl ihm das schwerfiel, denn der purpurne Salon schwankte und kreiste um ihn bei jeder Bewegung. In schulerhafter Haltung, die Knie aneinandergepresst, die Fuße dicht an dicht gestellt, auf den linken Oberschenkel seine linke Hand gelegt - so trank der kleine Grenouille den kustlichsten Duft aus den Kellern seines Herzens, Glas um Glas, und wurde immer trauriger dabei. Er wusste, dass er zu viel trank. Er wusste, dass er so viel Gutes nicht vertrug. Und trank doch, bis die Flasche leer war: Er ging durch den dunklen Gang von der Straße in den Hinterhof. Er ging auf den Lichtschein zu. Das Mudchen saß und schnitt die Mirabellen auf. Von weit her krachten die Raketen und Petarden des Feuerwerks... Er stellte das Glas ab und blieb noch, von der Sentimentalitut und vom Suff wie versteinert, ein paar Minuten lang sitzen, so lange, bis auch der letzte Nachgeschmack von der Zunge verschwunden war. Er glotzte vor sich hin. In seinem Hirn war es plutzlich so leer wie in den Flaschen. Dann kippte er um, seitlich aufs purpurne Kanapee und versank von einem Moment zum anderen in einen betuubenden Schlaf. Zur gleichen Zeit schlief auch der uußere Grenouille auf seiner Pferdedecke ein. Und sein Schlaf war ebenso abgrundtief wie der des inneren Grenouille, denn die herkuleischen Taten und Exzesse von diesem hatten jenen nicht weniger erschupft - schließlich waren beide ja ein und dieselbe Person. Als er aufwachte allerdings, wachte er nicht auf im purpurnen Salon seines purpurnen Schlosses hinter den sieben Mauern und auch nicht in den fruhlingshaften Duftgefilden seiner Seele, sondern einzig und allein im Steinverlies am Ende des Tunnels auf dem harten Boden in der Finsternis. Und ihm war speiubel vor Hunger und Durst und frustelig und elend wie einem suchtigen Trinker nach durchzechter Nacht. Auf allen vieren kroch er aus dem Stollen. Draußen war irgendeine Tageszeit, meistens die beginnende oder die endende Nacht, aber selbst bei Mitternacht stach ihm die Helligkeit des Sternenlichts wie Nadeln in die Augen. Die Luft erschien ihm staubig, raß, lungenbrennend, die Landschaft hart, er stieß sich an den Steinen. Und selbst die zartesten Geruche wirkten streng und beizend auf seine weltentwuhnte Nase. Grenouille, der Zeck, war empfindlich geworden wie ein Krebs, der sein Muschelgehuuse verlassen hat und nackt durchs Meer wandert. Er ging zur Wasserstelle, leckte die Feuchtigkeit von der Wand, ein, zwei Stunden lang, es war eine Tortur, die Zeit nahm kein Ende, die Zeit, in der ihm die wirkliche Welt auf der Haut brannte. Er riss sich ein paar Fetzen Moos von den Steinen, wurgte sie in sich hinein, hockte sich hin, schiss wuhrend er fraß schnell, schnell, schnell musste alles gehen -, und wie gejagt, wie wenn er ein kleines weichfleischiges Tier wure und droben am Himmel kreisten schon die Habichte, lief er zuruck zu seiner Huhle bis ans Ende des Stollens, wo die Pferdedecke lag. Hier war er endlich wieder sicher. Er lehnte sich zuruck gegen die Schutte von Gerull, streckte die Beine aus und wartete. Er musste seinen Kurper jetzt ganz still halten, ganz still, wie ein Gefuß, das von zu viel Bewegung uberzuschwappen droht. Allmuhlich gelang es ihm, den Atem zu zugeln. Sein aufgeregtes Herz schlug ruhiger, der innere Wellenschlag ließ langsam nach. Und plutzlich fiel die Einsamkeit wie eine schwarze Spiegelfluche uber sein Gemut. Er schloss die Augen. Die dunkle Ture in sein Inneres tat sich auf, und er trat ein. Die nuchste Vorstellung des grenouillschen Seelentheaters begann. 28 So ging es Tag fur Tag, Woche fur Woche, Monat fur Monat. So ging es sieben ganze Jahre lang. Wuhrend dieser Zeit herrschte in der uußeren Welt Krieg, und zwar Weltkrieg. Man schlug sich in Schlesien und Sachsen, in Hannover und Belgien, in Buhmen und Pommern. Die Truppen des Kunigs starben in Hessen und Westfalen, auf den Balearen, in Indien, am Mississippi und in Kanada, sofern sie nicht schon auf der Fahrt dorthin dem Typhus erlagen. Der Krieg kostete einer Million Menschen das Leben, den Kunig von Frankreich sein Kolonialreich und alle beteiligten Staaten so viel Geld, dass sie sich schließlich schweren Herzens entschlossen, ihn zu beenden. Grenouille wure einmal in dieser Zeit, im Winter, fast erfroren, ohne es zu merken. Funf Tage lag er im purpurnen Salon, und als er im Stollen erwachte, konnte er sich vor Kulte nicht mehr bewegen. Er schloss sofort wieder die Augen, um sich zu Tode zu schlafen. Doch dann kam ein Wettersturz, taute ihn auf und rettete ihn. Einmal war der Schnee so hoch, dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich bis zu den Flechten durchzuwuhlen. Da ernuhrte er sich von steifgefrorenen Fledermuusen. Einmal lag ein toter Rabe vor der Huhle. Den aß er. Das waren die einzigen Vorkommnisse, die er von der uußeren Welt in den sieben Jahren zur Kenntnis nahm. Ansonsten lebte er nur in seinem Berg, nur im selbstgeschaffenen Reich seiner Seele. Und er wure bis zu seinem Tode dort geblieben (denn es mangelte ihm an nichts), wenn nicht eine Katastrophe eingetreten wure, die ihn aus dem Berg vertrieben und in die Welt zuruckgespieen hutte. 29 Die Katastrophe war kein Erdbeben, kein Waldbrand, kein Bergrutsch und kein Stolleneinsturz. Sie war uberhaupt keine uußere Katastrophe, sondern eine innere, und daher besonders peinlich, denn sie blockierte Grenouilles bevorzugten Fluchtweg. Sie geschah im Schlaf. Besser gesagt im Traum. Vielmehr im Traum im Schlaf im Herz in seiner Phantasie. Er lag auf dem Kanapee im purpurnen Salon und schlief. Um ihn standen die leeren Flaschen. Er hatte enorm viel getrunken, zum Abschluss gar zwei Flaschen vom Duft des rothaarigen Mudchens. Wahrscheinlich war das zu viel gewesen, denn sein Schlaf, wiewohl von todesuhnlicher Tiefe, war diesmal nicht traumlos, sondern von geisterhaften Traumschlieren durchzogen. Diese Schlieren waren deutlich erkennbare Fetzen eines Geruchs. Zuerst zogen sie nur in dunnen Bahnen an Grenouilles Nase vorbei, dann wurden sie dichter, wolkenhaft. Es war nun, als stunde er inmitten eines Moores, aus dem der Nebel stieg. Der Nebel stieg langsam immer huher. Bald war Grenouille vollkommen umhullt von Nebel, durchtrunkt von Nebel, und zwischen den Nebelschwaden war kein bisschen freie Luft mehr. Er musste, wenn er nicht ersticken wollte, diesen Nebel einatmen. Und der Nebel war, wie gesagt, ein Geruch. Und Grenouille wusste auch, was fur ein Geruch. Der Nebel war sein eigener Geruch. Sein, Grenouilles, Eigengeruch war der Nebel. Und nun war das Entsetzliche, dass Grenouille, obwohl er wusste, dass dieser Geruch sein Geruch war, ihn nicht riechen konnte. Er konnte sich, vollstundig in sich selbst ertrinkend, um alles in der Welt nicht riechen! Als ihm das klargeworden war, schrie er so furchterlich laut, als wurde er bei lebendigem Leibe verbrannt. Der Schrei zerschlug die Wunde des Purpursalons, die Mauern des Schlosses, er fuhr aus dem Herzen uber die Gruben und Sumpfe und Wusten hinweg, raste uber die nuchtliche Landschaft seiner Seele wie ein Feuersturm, gellte aus seinem Mund hervor, durch den gewundenen Stollen, hinaus in die Welt, weithin uber die Hochebene von Saint-Flour es war, als schriee der Berg. Und Grenouille erwachte von seinem eigenen Schrei. Im Erwachen schlug er um sich, als musse er den unriechbaren Nebel vertreiben, der ihn ersticken wollte. Er war zutode geungstigt, schlotterte am ganzen Kurper vor schierem Todesschrecken. Hutte der Schrei nicht den Nebel zerrissen, dann wure er an sich selber ertrunken - ein grauenvoller Tod. Ihn schauderte, wenn er daran zuruckdachte. Und wuhrend er noch schlotternd saß und versuchte, seine konfusen verungstigten Gedanken zusammenzufangen, wusste er schon eines ganz sicher: Er wurde sein Leben undern, und sei es nur deshalb, weil er einen so furchtbaren Traum kein zweites Mal truumen wollte. Er wurde das zweite Mal nicht uberstehen. Er warf sich die Pferdedecke uber die Schultern und kroch hinaus ins Freie. Draußen war gerade Vormittag, ein Vormittag Ende Februar. Die Sonne schien. Das Land roch nach feuchtem Stein, Moos und Wasser. Im Wind lag schon ein wenig Duft von Anemonen. Er hockte sich vor der Huhle auf den Boden. Das Sonnenlicht wurmte ihn. Er atmete die frische Luft ein. Es schauderte ihn immer noch, wenn er an den Nebel zuruckdachte, dem er entronnen war, und es schauderte ihn vor Wohligkeit, als er die Wurme auf dem Rucken spurte. Es war doch gut, dass diese uußere Welt noch bestand, und sei's nur als ein Fluchtpunkt. Nicht auszudenken das Grauen, wenn er am Ausgang des Tunnels keine Welt mehr vorgefunden hutte! Kein Licht, keinen Geruch, kein Garnichts - nur noch diesen entsetzlichen Nebel, innen, außen, uberall... Allmuhlich wich der Schock. Allmuhlich lockerte sich der Griff der Angst, und Grenouille begann sich sicherer zu fuhlen. Gegen Mittag hatte er seine Kaltblutigkeit wiedergewonnen. Er legte Zeige- und Mittelfinger der linken Hand unter die Nase und atmete zwischen den Fingerrucken hindurch. Er roch die feuchte, anemonenwurzige Fruhlingsluft. Von seinen Fingern roch er nichts. Er drehte die Hand um und schnupperte an ihrer Innenseite. Er spurte die Wurme der Hand, aber er roch nichts. Nun krempelte er den zerschlissenen urmel seines Hemdes hoch, vergrub die Nase in der Ellbogenbeuge. Er wusste, dass dies die Stelle war, wo alle Menschen nach sich selber riechen. Er jedoch roch nichts. Er roch auch nichts unter seiner Achsel, nichts an den Fußen, nichts am Geschlecht, zu dem er sich, so weit es ging, hinunterbeugte. Es war grotesk: Er, Grenouille, der jeden anderen Menschen meilenweit erschnuppern konnte, war nicht imstande, sein weniger als eine Handspanne entferntes eigenes Geschlecht zu riechen! Trotzdem geriet er nicht in Panik, sondern sagte sich, kuhl uberlegend, das folgende: "Es ist nicht so, dass ich nicht rieche, denn alles riecht. Es ist vielmehr so, dass ich nicht rieche, dass ich rieche, weil ich mich seit meiner Geburt tagaus tagein gerochen habe und meine Nase daher gegen meinen eigenen Geruch abgestumpft ist. Kunnte ich meinen Geruch, oder wenigstens einen Teil davon, von mir trennen und nach einer gewissen Zeit der Entwuhnung zu ihm zuruckkehren, so wurde ich ihn - und also mich - sehr wohl riechen kunnen." Er legte die Pferdedecke ab und zog seine Kleider aus der das, was von seinen Kleidern noch ubriggeblieben war, die Fetzen, die Lumpen zog er aus. Sieben Jahre lang hatte er sie nicht vom Leib genommen. Sie mussten durch und durch getrunkt sein von seinem Geruch. Er warf sie auf einen Haufen vor den Eingang der Huhle und entfernte sich. Dann stieg er, zum ersten Mal seit sieben Jahren, wieder auf den Gipfel des Berges hinauf. Dort stellte er sich an dieselbe Stelle, an der er damals bei seiner Ankunft gestanden war, hielt die Nase nach Westen und ließ sich den Wind um den nackten Kurper pfeifen. Seine Absicht war, sich vollkommen auszuluften, sich so sehr mit Westwind - und das hieß mit dem Geruch von Meer und feuchten Wiesen - vollzupumpen, dass dieser den Geruch seines eigenen Kurpers uberwog und sich somit ein Duftgefulle zwischen ihm, Grenouille, und seinen Kleidern herstellen muge, welches er dann deutlich wahrzunehmen in der Lage wure. Und um muglichst wenig Eigengeruch in die Nase zu bekommen, beugte er den Oberkurper nach vorn, machte den Hals so lang es ging gegen den Wind und streckte die Arme nach hinten. Er sah aus wie ein Schwimmer, kurz bevor er ins Wasser springt. In dieser uußerst lucherlichen Haltung verharrte er mehrere Stunden lang, wobei sich seine lichtentwuhnte madenweiße Haut trotz der noch schwachen Sonne langustenrot furbte. Gegen Abend stieg er wieder zur Huhle hinab. Schon von weitem sah er den Kleiderhaufen liegen. Auf den letzten Metern hielt er sich die Nase zu und uffnete sie erst wieder, als er sie dicht uber den Haufen gesenkt hatte. Er machte die Schnuffelprobe, wie er sie bei Baldini gelernt hatte, riss die Luft ein und ließ sie etappenweise wieder ausstrumen. Um den Geruch zu fangen, bildete er mit seinen beiden Hunden eine Glocke uber den Kleidern, in die er wie einen Kluppel seine Nase steckte. Er stellte alles mugliche an, um seinen eigenen Geruch aus den Kleidern herauszuriechen. Aber der Geruch war nicht darin. Er war entschieden nicht darin. Tausend andre Geruche waren darin. Der Geruch von Stein, Sand, Moos, Harz, Rabenblut - sogar der Geruch der Wurst, die er vor Jahren in der Nuhe von Sully gekauft hatte, war noch deutlich wahrnehmbar. Die Kleider enthielten ein olfaktorisches Tagebuch der letzten sieben, acht Jahre. Nur seinen eigenen Geruch, den Geruch dessen, der sie in dieser Zeit ohne Unterlass getragen hatte, enthielten sie nicht. Nun wurde ihm doch etwas bang. Die Sonne war untergegangen. Er stand nackt am Eingang des Stollens, an dessen dunklem Ende er sieben Jahre lang gelebt hatte. Der Wind blies kalt, und er fror, aber er merkte nicht, dass er fror, denn in ihm war eine Gegenkulte, numlich Angst. Es war nicht dieselbe Angst, die er im Traum empfunden hatte, diese grußliche Angst des Ansich-selbst-Erstickens, die es um jeden Preis abzuschutteln galt und der er hatte entfliehen kunnen. Was er jetzt empfand, war die Angst, uber sich selbst nicht Bescheid zu wissen. Sie war jener Angst entgegengesetzt. Ihr konnte er nicht entfliehen, sondern er musste ihr entgegengehen. Er musste - und wenn auch die Erkenntnis furchtbar war - ohne Zweifel wissen, ob er einen Geruch besaß oder nicht. Und zwar jetzt gleich. Sofort. Er ging zuruck in den Stollen. Nach ein paar Metern schon umgab ihn vullige Dunkelheit, doch er fand sich zurecht wie im hellsten Licht. Viele tausend Male war er den Weg gegangen, kannte jeden Tritt und jede Windung, roch jede niederhungende Felsnase und jeden kleinsten vorspringenden Stein. Den Weg zu finden war nicht schwierig. Schwierig war, gegen die Erinnerung an den klaustrophobischen Traum anzukumpfen, die wie eine Flutwelle in ihm hoch und huher schwappte, je weiter er voranschritt. Aber er war mutig. Das heißt, er bekumpfte mit der Angst, nicht zu wissen, die Angst vor dem Wissen, und es gelang ihm, weil er wusste, dass er keine Wahl hatte. Als er am Ende des Stollens angekommen war, dort wo die Gerullverschuttung anstieg, fielen beide ungste von ihm ab. Er fuhlte sich ruhig, sein Kopf war ganz klar und seine Nase geschurft wie ein Skalpell. Er hockte sich nieder, legte die Hunde uber die Augen und roch. An diesem Ort, in diesem weltfernen steinernen Grab, hatte er sieben Jahre lang gelegen. Wenn irgendwo auf der Welt, so musste es hier nach ihm riechen. Er atmete langsam. Er prufte genau. Er ließ sich Zeit mit dem Urteil. Eine Viertelstunde lang blieb er hocken. Er hatte ein untrugliches Geduchtnis und wusste genau, wie es vor sieben Jahren an dieser Stelle gerochen hatte: steinig und nach feuchter, salziger Kuhle und so rein, dass kein lebendes Wesen, Mensch oder Tier, den Platz jemals betreten haben konnte... Genau so aber roch es auch jetzt. Er blieb noch eine Weile hocken, ganz ruhig, nur leise mit dem Kopfe nickend. Dann drehte er sich um und ging, zunuchst gebuckt, und als die Huhe des Stollens es zuließ, in aufrechter Haltung, hinaus ins Freie. Draußen zog er seine Lumpen an (die Schuhe waren ihm schon vor Jahren vermodert), legte sich die Pferdedecke uber die Schultern und verließ noch in derselben Nacht den Plomb du Cantal in sudlicher Richtung. 30 Er sah furchterlich aus. Die Haare reichten ihm bis zu den Kniekehlen, der dunne Bart bis zum Nabel. Seine Nugel waren wie Vogelkrallen, und an Armen und Beinen, wo die Lumpen nicht mehr hinreichten, den Kurper zu bedecken, fiel ihm die Haut in Fetzen ab. Die ersten Menschen, denen er begegnete, Bauern auf einem Feld nahe der Stadt Pierrefort, rannten schreiend davon, als sie ihn sahen. In der Stadt selbst dagegen machte er Sensation. Die Leute liefen zu Hunderten zusammen, um ihn zu begaffen. Manche hielten ihn fur einen entkommenen Galeerenstrufling. Manche sagten, er sei gar kein richtiger Mensch, sondern eine Mischung aus einem Menschen und einem Buren, eine Art Waldwesen. Einer, der fruher zur See gefahren war, behauptete, er sehe aus wie der Angehurige eines wilden Indianerstammes in Cayenne, welches jenseits des großen Ozeans liege. Man fuhrte ihn dem Burgermeister vor. Dort wies er zum Erstaunen der Versammelten seinen Gesellenbrief vor, machte seinen Mund auf und erzuhlte in ein wenig kollernden Worten - denn es waren die ersten Worte, die er nach siebenjuhriger Pause von sich gab -, aber gut verstundlich, dass er auf seiner Wanderschaft von Ruubern uberfallen, verschleppt und sieben Jahre lang in einer Huhle gefangengehalten worden sei. Er habe in dieser Zeit weder das Sonnenlicht noch einen Menschen gesehen, sei mittels eines von unsichtbarer Hand ins Dunkle herabgelassenen Korbes ernuhrt und schließlich mit einer Leiter befreit worden, ohne zu wissen, warum, und ohne seine Entfuhrer oder Retter je gesehen zu haben. Diese Geschichte hatte er sich ausgedacht, denn sie schien ihm glaubhafter als die Wahrheit, und sie war es auch, denn dergleichen ruuberische uberfulle geschahen in den Bergen der Auvergne, des Languedoc und in den Cevennen durchaus nicht selten. Jedenfalls nahm sie der Burgermeister anstandslos zu Protokoll und erstattete uber den Vorfall Bericht an den Marquis de la Taillade-Espinasse, Lehensherrn der Stadt und Mitglied des Parlaments in Toulouse. Der Marquis hatte schon mit vierzig Jahren dem Versailler Hofleben den Rucken gekehrt, sich auf seine Guter zuruckgezogen und dort den Wissenschaften gelebt. Aus seiner Feder stammte ein bedeutendes Werk uber dynamische Nationalukonomie, in welchem er die Abschaffung aller Abgaben auf Grundbesitz und landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie die Einfuhrung einer umgekehrt progressiven Einkommenssteuer vorschlug, die den urmsten am hurtesten traf und ihn somit zur sturkeren Entfaltung seiner wirtschaftlichen Aktivituten zwang. Durch den Erfolg des Buchleins ermuntert, verfasste er ein Traktat uber die Erziehung von Knaben und Mudchen im Alter zwischen funf und zehn Jahren, wandte sich hierauf der experimentellen Landwirtschaft zu und versuchte, durch die ubertragung von Stiersamen auf verschiedene Grassorten ein animalovegetabiles Kreuzungsprodukt zur Milchgewinnung zu zuchten, eine Art Euterblume. Nach anfunglichen Erfolgen, die ihn sogar zur Herstellung eines Kuses aus Grasmilch befuhigten, der von der Wissenschaftlichen Akademie von Lyon als >von ziegenhaftem Geschmack, wenngleich ein wenig bitterer< bezeichnet wurde, musste er seine Versuche wegen der enormen Kosten des hektoliterweise uber die Felder verspruhten Stiersamens einstellen. Immerhin hatte die Beschuftigung mit agrarbiologischen Problemen sein Interesse nicht nur an der sogenannten Ackerscholle, sondern an der Erde uberhaupt und an ihrer Beziehung zur Biosphure geweckt. Kaum hatte er die praktischen Arbeiten an der Milcheuterblume beendet, sturzte er sich mit ungebrochenem Forscherelan auf einen großen Essay uber die Zusammenhunge zwischen Erdnuhe und Vitalkraft. Seine These war, dass sich Leben nur in einer gewissen Entfernung von der Erde entwickeln kunne, da die Erde selbst stundig ein Verwesungsgas verstrume, ein sogenanntes "fluidum letale", welches die Vitalkrufte lahme und uber kurz oder lang vollstundig zum Erliegen bringe. Deshalb seien alle Lebewesen bestrebt, sich durch Wachstum von der Erde zu entfernen, wuchsen also von ihr weg und nicht etwa in sie hinein; deshalb trugen sie ihre wertvollsten Teile himmelwurts: das Korn die uhre, die Blume ihre Blute, der Mensch den Kopf; und deshalb mussten sie auch, wenn das Alter sie beuge und wieder zur Erde hinkrumme, unweigerlich dem Letalgas verfallen, in das sie sich durch den Zerfallsprozess nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten. Als dem Marquis de la Taillade-Espinasse zu Ohren kam, es habe sich in Pierrefort ein Individuum gefunden, welches sieben Jahre lang in einer Huhle - also vullig umschlossen vom Verwesungselement Erde gehaust habe, war er außer sich vor Entzucken und ließ Grenouille sofort zu sich in sein Laboratorium bringen, wo er ihn einer grundlichen Untersuchung unterzog. Aufs Anschaulichste fand er seine Theorie bestutigt: Das fluidum letale hatte Grenouille schon dermaßen angegriffen, dass sein funfundzwanzigjuhriger Kurper deutlich greisenhafte Verfallserscheinungen aufwies. Einzig die Tatsache - so erklurte Taillade-Espinasse -, dass Grenouille wuhrend seiner Gefangenschaft Nahrung von erdfernen Pflanzen, vermutlich Brot und Fruchte, zugefuhrt worden seien, habe seinen Tod verhindert. Nun kunne der fruhere Gesundheitszustand nur wiederhergestellt werden durch die grundliche Austreibung des Fluidums vermittels eines von ihm, Taillade-Espinasse, ersonnenen Vitalluftventilations- Apparates. Einen solchen habe er im Speicher seines Stadtpalais in Montpellier stehen, und wenn Grenouille bereit wure, sich als wissenschaftliches Demonstrationsobjekt zur Verfugung zu stellen, wolle er ihn nicht nur von seiner hoffnungslosen Erdgasverseuchung befreien, sondern ihm auch noch ein gutes Stuck Geld zukommen lassen... Zwei Stunden sputer saßen sie im Wagen. Obwohl sich die Straßen in einem miserablen Zustand befanden, schafften sie die vierundsechzig Meilen nach Montpellier in knapp zwei Tagen, denn der Marquis ließ es sich trotz seines vorgeschrittenen Alters nicht nehmen, persunlich auf Kutscher und Pferde einzupeitschen und bei mehreren Deichsel- und Federbruchen selbst mit Hand anzulegen; so begeistert war er von seiner Trouvaille, so begierig, sie raschestens einer gebildeten uffentlichkeit zu prusentieren. Grenouille hingegen durfte die Kutsche kein einziges Mal verlassen. Er hatte in seinen Lumpen, von einer mit feuchter Erde und Lehm getrunkten Decke vollstundig umhullt, dazusitzen. Zu essen bekam er wuhrend der Reise rohes Wurzelgemuse. Auf diese Weise hoffte der Marquis, die Erdfluidumverseuchung noch eine Weile im Idealzustand zu konservieren. In Montpellier angekommen, ließ er Grenouille sofort in den Keller seines Palais verbringen, verschickte Einladungen an sumtliche Mitglieder der medizinischen Fakultut, des Botanikervereins, der Landwirtschaftsschule, der chemo-physikalischen Vereinigung, der Freimaurerloge und der ubrigen Gelehrtengesellschaften, deren die Stadt nicht weniger als ein Dutzend besaß. Und einige Tage sputer - genau eine Woche nachdem er die Bergeinsamkeit verlassen hatte - fand sich Grenouille auf einem Podest in der großen Aula der Universitut von Montpellier einer vielhundertkupfigen Menge als die wissenschaftliche Sensation des Jahres prusentiert. In seinem Vortrag bezeichnete ihn Taillade-Espinasse als den lebenden Beweis fur die Richtigkeit der letalen Erdfluidumtheorie. Wuhrend er ihm nach und nach die Lumpen vom Leibe riss, erklurte er den verheerenden Effekt, den das Verwesungsgas auf Grenouilles Kurper ausgeubt habe: Da sehe man Pusteln und Narben, hervorgerufen durch Gasverutzung; dort auf der Brust ein riesiges glunzendrotes Gaskarzinom; allenthalben eine Zersetzung der Haut; und sogar eine deutliche fluidale Verkruppelung des Skeletts, die als Klumpfuß und Buckel sichtbar hervortrete. Auch seien die inneren Organe Milz, Leber, Lunge, Galle und Verdauungstrakt schwer gasgeschudigt, wie die Analyse einer Stuhlprobe, die sich in einer Schussel zu Fußen des Demonstranten fur jedermann zugunglich befinde, zweifelsfrei erwiesen habe. Zusammenfassend kunne daher gesagt werden, dass die Luhmung der Vitalkrufte aufgrund siebenjuhriger Verseuchung durch >fluidum letale Taillade< schon so weit fortgeschritten sei, dass Demonstrant - dessen uußere Erscheinung im ubrigen bereits signifikant maulwurfhafte Zuge aufweise - mehr als ein dem Tode denn als ein dem Leben zugewandtes Wesen bezeichnet werden musse. Dennoch mache Referent sich anheischig, den an und fur sich Todgeweihten mittels einer Ventilationstherapie in Kombination mit Vitaldiut innerhalb von acht Tagen wieder soweit herzustellen, dass die Anzeichen fur eine vollstundige Heilung jedermann in die Augen springen werde, und fordere die Anwesenden auf, sich vom Erfolg dieser Prognose, der dann freilich als gultiger Beweis fur die Richtigkeit der letalen Erdfluidumstheorie angesehen werden musse, binnen Wochenfrist zu uberzeugen. Der Vortrag war ein Riesenerfolg. Heftig applaudierte das gelehrte Publikum dem Referenten und defilierte dann am Podest vorbei, auf dem Grenouille stand. In seiner konservierten Verwahrlosung und mit seinen alten Narben und Verkruppelungen sah er tatsuchlich so beeindruckend furchterlich aus, dass ihn jedermann fur halb verwest und unrettbar verloren hielt, obwohl er selbst sich durchaus gesund und kruftig fuhlte. Manche der Herren beklopften ihn fachmunnisch, vermaßen ihn, schauten ihm in Mund und Auge. Einige richteten das Wort an ihn und erkundigten sich nach seinem Huhlenleben und nach seiner jetzigen Befindlichkeit. Er hielt sich jedoch streng an eine im voraus erteilte Anweisung des Marquis und antwortete auf solche Fragen nur mit einem gepressten Rucheln, wobei er mit beiden Hunden hilflose Gesten gegen seinen Kehlkopf machte, um damit kundzutun, dass auch dieser bereits vom >fluidum letale Taillade< zerfressen sei. Am Ende der Veranstaltung packte ihn Taillade-Espinasse wieder ein und verfrachtete ihn nach Hause auf den Speicher seines Palais. Dort schloss er ihn im Beisein einiger ausgewuhlter Doktoren der medizinischen Fakultut in den Vitalluftventilationsapparat, einen aus dichtverfugten Fichtenbrettern gefertigten Verschlag, der mittels eines weit uber das Dach hinausreichenden Ansaugekamins mit letalgasfreier Huhenluft durchflutet wurde, welche durch eine am Boden angebrachte Lederventilklappe wieder entweichen konnte. In Betrieb gehalten wurde die Anlage von einer Staffel von Bediensteten, die Tag und Nacht dafur sorgten, dass die im Kamin eingebauten Ventilatoren nicht zur Ruhe kamen. Und wuhrend Grenouille auf diese Weise von einem stundigen reinigenden Luftstrom umgeben war, wurden ihm in stundlichem Abstand durch ein seitlich eingearbeitetes doppelwandiges Luftschleusenturchen diutetische Speisen erdferner Provenienz dargeboten: Taubenbruhe, Lerchenpastete, Ragout von Flugenten, eingemachtes Baumobst, Brot von extra hochwachsenden Weizensorten, Pyrenuenwein, Gemsenmilch und Eischaumcreme von Huhnern, die im Dachboden des Palais gehalten wurden. Funf Tage lang dauerte diese kombinierte Entseuchungs- und Revitalisierungskur. Dann ließ der Marquis die Ventilatoren anhalten und verbrachte Grenouille in einen Waschraum, wo er in Budern von lauwarmem Regenwasser mehrere Stunden eingeweicht und schließlich mit Nussulseife aus der Andenstadt Potosi von Kopf bis Fuß gewaschen wurde. Man schnitt ihm die Finger- und Zehennugel, reinigte seine Zuhne mit feingeschlummtem Dolomitenkalk, rasierte ihn, kurzte und kummte seine Haare, coiffierte und puderte sie. Ein Schneider wurde bestellt, ein Schuster, und Grenouille bekam ein seidenes Hemd verpasst, mit weißem Jabot und weißen Ruschen an den Manschetten, seidene Strumpfe, Rock, Hose und Weste aus blauem Samt und schune Schnallenschuhe von schwarzem Leder, deren rechter geschickt den verkruppelten Fuß kaschierte. Huchsteigenhundig legte der Marquis weiße Talkumschminke auf Grenouilles narbiges Gesicht, tupfte ihm Karmesin auf Lippen und Wangen und verlieh den Augenbrauen mit Hilfe eines weichen Stifts von Lindenholzkohle eine wirklich edle Wulbung. Dann stuubte er ihn mit seinem persunlichen Parfum ein, einer ziemlich simplen Veilchennote, trat einige Schritte zuruck und brauchte lange Zeit, sein Entzucken in Worte zu fassen. "Monsieur", begann er endlich, "ich bin von mir begeistert. Ich bin erschuttert uber meine Genialitut. Ich habe an der Richtigkeit meiner fluidalen Theorie zwar nie gezweifelt; naturlich nicht; sie aber in praktizierter Therapie so herrlich bestutigt zu finden, erschuttert mich. Sie waren ein Tier, und ich habe einen Menschen aus Ihnen gemacht. Eine geradezu guttliche Tat. Erlauben Sie, dass ich geruhrt bin! - Treten Sie vor diesen Spiegel dort, und schauen Sie sich an! Sie werden zum ersten Mal in Ihrem Leben erkennen, dass Sie ein Mensch sind; kein besonders außergewuhnlicher oder irgendwie hervorragender, aber doch immerhin ein ganz passabler Mensch. Gehen Sie, Monsieur! Schauen Sie sich an, und bestaunen Sie das Wunder, das ich an Ihnen vollbracht habe!" Es war das erste Mal, dass jemand "Monsieur" zu Grenouille gesagt hatte. Er ging zum Spiegel und sah hinein. Bis dato hatte er auch noch nie in einen Spiegel gesehen. Er sah einen Herrn in feinem blauem Gewand vor sich, mit weißem Hemd und Seidenstrumpfen, und er duckte sich ganz instinktiv, wie er sich immer vor solch feinen Herren geduckt hatte. Der feine Herr aber duckte sich auch, und indem Grenouille sich wieder aufrichtete, tat der feine Herr dasselbe, und dann erstarrten beide und fixierten sich. Was Grenouille am meisten verbluffte, war die Tatsache, dass er so unglaublich normal aussah. Der Marquis hatte Recht: Er sah nicht besonders aus, nicht gut, aber auch nicht besonders hußlich. Er war ein wenig klein geraten, seine Haltung war ein wenig linkisch, das Gesicht ein wenig ausdruckslos, kurz, er sah aus wie Tausende von anderen Menschen auch. Wenn er jetzt hinunter auf die Straße ginge, wurde kein Mensch sich nach ihm umdrehen. Nicht einmal ihm selbst wurde ein solcher, wie er jetzt war, irgendwie auffallen, wenn er ihm begegnete. Es sei denn, er wurde riechen, dass dieser jemand, außer nach Veilchen, sowenig ruche wie der Herr im Spiegel und er selbst, der davorstand. Und doch waren vor zehn Tagen die Bauern noch schreiend auseinandergelaufen bei seinem Anblick. Er hatte sich damals nicht anders gefuhlt als jetzt, und jetzt, wenn er die Augen schloss, fuhlte er sich kein bisschen anders als damals. Er sog die Luft ein, die an seinem Kurper aufstieg und roch das schlechte Parfum und den Samt und das frischgeleimte Leder seiner Schuhe; er roch das Seidenzeug, den Puder, die Schminke, den schwachen Duft der Seife aus Potosi. Und plutzlich wusste er, dass es nicht die Taubenbruhe und der Ventilationshokuspokus gewesen waren, die einen normalen Menschen aus ihm gemacht hatten, sondern einzig und allein die paar Kleider, der Haarschnitt und das bisschen kosmetischer Maskerade. Er uffnete blinzelnd die Augen und sah, wie der Monsieur im Spiegel ihm zublinzelte und wie ein kleines Lucheln um seine karmesinroten Lippen strich, ganz so, als wolle er ihm signalisieren, dass er ihn nicht gunzlich unsympathisch finde. Und auch Grenouille fand, dass der Monsieur im Spiegel, diese als Mensch verkleidete, maskierte, geruchlose Gestalt, nicht so ganz ohne sei; zumindest schien ihm, als kunnte sie wurde man ihre Maske nur vervollkommnen - eine Wirkung auf die uußere Welt tun, wie er, Grenouille, sie sich selbst nie zugetraut hutte. Er nickte der Gestalt zu und sah, dass sie, wuhrend sie wieder nickte, verstohlen die Nustern bluhte... 31 Am folgenden Tag - der Marquis war gerade dabei, ihm die nutigsten Posen, Gesten und Tanzschritte fur den bevorstehenden gesellschaftlichen Auftritt beizubringen - fingierte Grenouille einen Schwindelanfall und sturzte scheinbar vollkommen entkruftet und wie von Erstickung bedroht auf einem Diwan nieder. Der Marquis war außer sich. Er schrie nach den Dienern, schrie nach Luftwedeln und tragbaren Ventilatoren, und wuhrend die Diener eilten, kniete er an Grenouilles Seite nieder, fuchelte ihm mit seinem veilchenduftgetrunkten Taschentuch Luft zu und beschwor, bebettelte ihn regelrecht, doch ja sich wieder aufzurichten, doch ja nicht jetzt die Seele auszuhauchen, sondern damit, wenn irgend muglich, noch bis ubermorgen hinzuwarten, da sonst das uberleben der letalen Fluidaltheorie aufs uußerste gefuhrdet sei. Grenouille wand und krummte sich, keuchte, uchzte, fuchtelte mit seinen Armen gegen das Taschentuch, ließ sich schließlich auf sehr dramatische Weise vom Diwan fallen und verkroch sich in die entlegenste Ecke des Zimmers. "Nicht dieses Parfum!" rief er wie mit allerletzter Kraft, "nicht dieses Parfum! Es tutet mich!" Und erst als Taillade-Espinasse das Taschentuch aus dem Fenster und seinen ebenfalls nach Veilchen riechenden Rock ins Nebenzimmer geworfen hatte, ließ Grenouille seinen Anfall abebben und erzuhlte mit ruhiger werdender Stimme, dass er als Parfumeur eine berufsbedingt empfindliche Nase besitze und immer schon, besonders aber jetzt in der Zeit der Genesung, auf gewisse Parfums sehr heftig reagiere. Dass ausgerechnet der Duft des Veilchens, einer an und fur sich lieblichen Blume, ihm so stark zusetze, kunne er sich nur dadurch erkluren, dass das Parfum des Marquis einen hohen Bestandteil an Veilchenwurzelextrakt enthalte, welcher wegen seiner unterirdischen Herkunft auf eine letal fluidal angegriffene Person wie ihn, Grenouille, verderblich wirke. Schon gestern, bei der ersten Applikation des Duftes, habe er sich ganz blumerant gefuhlt und heute, als er den Wurzelgeruch abermals wahrgenommen habe, sei ihm gar gewesen, als stoße man ihn zuruck in das entsetzliche stickige Erdloch, in dem er sieben Jahre vegetiert habe. Seine Natur habe sich dagegen empurt, anders kunne er nicht sagen, denn nachdem ihm einmal durch die Kunst des Herrn Marquis ein Leben als Mensch in fluidalfreier Luft geschenkt worden sei, sturbe er lieber sofort, als dass er sich noch einmal dem verhassten Fluidum ausliefere. Noch jetzt krampfe sich alles in ihm zusammen, wenn er bloß an das Wurzelparfum denke. Er glaube aber zuversichtlich, dass er augenblicklich wiederhergestellt sein wurde, wenn es ihm der Marquis gestatte, zur vollstundigen Austreibung des Veilchenduftes ein eigenes Parfum zu entwerfen. Er denke dabei an eine besonders leichte, aerierte Note, die hauptsuchlich aus erdfernen Ingredienzen wie Mandel- und Orangenblutenwasser, Eukalyptus, Fichtennadelul und Zypressenul bestehe. Einen Spritzer nur von einem solchen Duft auf seine Kleider, ein paar Tropfen nur an Hals und Wangen - und er wure ein fur allemal gefeit gegen eine Wiederholung des peinlichen Anfalls, der ihn soeben ubermannt habe... Was wir hier der Verstundlichkeit halber in ordentlicher indirekter Rede wiedergeben, war in Wirklichkeit ein halbstundiger, von vielen Hustern und Keuchern und Atemnuten unterbrochener blubbernder Wortausbruch, den Grenouille mit Gezittre und Gefuchtle und Augenrollen untermalte. Der Marquis war schwer beeindruckt. Mehr noch als die Leidenssymptomatik uberzeugte ihn die feine Argumentation seines Schutzlings, die ganz im Sinne der letal fluidalen Theorie vorgebracht war. Naturlich das Veilchenparfum! Ein widerlich erdnahes, ja sogar unterirdisches Produkt! Wahrscheinlich war er selbst, der es seit Jahren benutzte, schon infiziert davon. Hatte keine Ahnung, dass er sich