Tag fur Tag durch diesen Duft dem Tode nuherbrachte. Die Gicht, die Steifheit seines Nackens, die Schlaffheit seines Glieds, das Humorrhoid, der Ohrendruck, der faule Zahn - all das kam zweifelsohne von dem Gestank der fluidaldurchseuchten Veilchenwurzel. Und dieser kleine dumme Mensch, das Huuflein Elend in der Zimmerecke dort, hatte ihn daraufgebracht. Er war geruhrt. Am liebsten wure er zu ihm gegangen, hutte ihn aufgehoben und an sein aufgeklurtes Herz gedruckt. Aber er furchtete, noch immer nach Veilchen zu duften, und so schrie er abermals nach den Dienern und befahl, alles Veilchenparfum aus dem Hause zu entfernen, das ganze Palais zu luften, seine Kleider im Vitalluftventilator zu entseuchen und Grenouille sofort in seiner Sunfte zum besten Parfumeur der Stadt zu bringen. Genau dies aber hatte Grenouille mit seinem Anfall bezweckt. Das Duftwesen hatte alte Tradition in Montpellier, und obwohl es in jungster Zeit im Vergleich zur Konkurrenzstadt Grasse etwas heruntergekommen war, lebten doch noch etliche gute Parfumeur- und Handschuhmachermeister in der Stadt. Der angesehenste unter ihnen, ein gewisser Runel, erklurte sich im Hinblick auf die Geschuftsbeziehungen mit dem Hause desMarquis de la Taillade-Espinasse, dessen Seifen-, ul- und Duftstofflieferant er war, zu dem außergewuhnlichen Schritt bereit, sein Atelier fur eine Stunde dem in der Sunfte herbeigeschafften sonderbaren Pariser Parfumeurgesellen abzutreten. Dieser ließ sich nichts erkluren, wollte gar nicht wissen, wo er was zu finden habe, er kenne sich schon aus, sagte er, finde sich schon zurecht; und schloss sich in der Werkstatt ein und blieb dort eine gute Stunde, wuhrend Runel mit dem Haushofmeister des Marquis auf ein paar Gluser Wein in eine Schenke ging und dort erfahren musste, weswegen man sein Veilchenwasser nicht mehr riechen kunne. Runels Werkstatt und Laden waren bei weitem nicht so uppig ausgestattet wie seinerzeit Baldinis Duftstoffhandlung in Paris. Mit den paar Blutenulen, Wussern und Gewurzen hutte ein durchschnittlicher Parfumeur keine großen Sprunge machen kunnen. Grenouille jedoch erkannte mit dem ersten schnuppernden Atemzug, dass die vorhandenen Stoffe fur seine Zwecke durchaus hinreichten. Er wollte keinen großen Duft kreieren; er wollte kein Prestigewusserchen zusammenmischen wie damals fur Baldini, so eines, das hervorstach aus dem Meer des Mittelmaßes und die Leute kirre machte. Nicht einmal ein einfaches Orangenblutenduftchen, wie dem Marquis versprochen, war sein eigentliches Ziel. Die gungigen Essenzen von Neroli, Eukalyptus und Zypressenblatt sollten den eigentlichen Duft, den er sich herzustellen vorgenommen hatte, nur kaschieren: dies aber war der Duft des Menschlichen. Er wollte sich, und wenn es vorluufig auch nur ein schlechtes Surrogat war, den Geruch der Menschen aneignen, den er selber nicht besaß. Freilich den Geruch der Menschen gab es nicht, genausowenig wie es das menschliche Antlitz gab. Jeder Mensch roch anders, niemand wusste das besser als Grenouille, der Tausende und Abertausende von Individualgeruchen kannte und Menschen schon von Geburt an witternd unterschied. Und doch - es gab ein parfumistisches Grundthema des Menschendufts, ein ziemlich simples ubrigens: ein schweißig-fettes, kusigsuuerliches, ein im ganzen reichlich ekelhaftes Grundthema, das allen Menschen gleichermaßen anhaftete und uber welchem erst in feinerer Vereinzelung die Wulkchen einer individuellen Aura schwebten. Diese Aura aber, die huchst komplizierte, unverwechselbare Chiffre des persunlichen Geruchs, war fur die meisten Menschen ohnehin nicht wahrnehmbar. Die meisten Menschen wussten nicht, dass sie sie uberhaupt besaßen, und taten uberdies alles, um sie unter Kleidern oder unter modischen Kunstgeruchen zu verstecken. Nur jener Grundduft, jene primitive Menschendunstelei, war ihnen wohlvertraut, in ihr nur lebten sie und fuhlten sich geborgen, und wer nur den eklen allgemeinen Brodem von sich gab, wurde von ihnen schon als ihresgleichen angesehen. Es war ein seltsames Parfum, das Grenouille an diesem Tag kreierte. Ein seltsameres hatte es bis dahin auf der Welt noch nicht gegeben. Es roch nicht wie ein Duft, sondern wie ein Mensch, der duftet. Wenn man dieses Parfum in einem dunklen Raum gerochen hutte, so hutte man geglaubt, es stehe da ein zweiter Mensch. Und wenn ein Mensch, der selber wie ein Mensch roch, es verwendet hutte, so wure dieser uns geruchlich vorgekommen wie zwei Menschen oder, schlimmer noch, wie ein monstruses Doppelwesen, wie eine Gestalt, die man nicht mehr eindeutig fixieren kann, weil sie sich verschwimmend unscharf darstellt wie ein Bild vom Grunde eines Sees, auf dem die Wellen zittern. Um diesen Menschenduft zu imitieren - recht ungenugend, wie er selber wusste, aber doch geschickt genug, um andere zu tuuschen -, suchte sich Grenouille die ausgefallensten Ingredienzen in Runels Werkstatt zusammen. Da war ein Huufchen Katzendreck hinter der Schwelle der Tur, die zum Hof fuhrte, noch ziemlich frisch. Davon nahm er ein halbes Luffelchen und gab es zusammen mit einigen Tropfen Essig und zerstoßenem Salz in die Mischflasche. Unter dem Werktisch fand er ein daumennagelgroßes Stuckchen Kuse, das offenbar von einer Mahlzeit Runels stammte. Es war schon ziemlich alt, begann, sich zu zersetzen und strumte einen beißend scharfen Duft aus. Vom Deckel der Sardinentonne, die im hinteren Teil des Ladens stand, kratzte er ein fischig-ranzig-riechendes Etwas ab, vermischte es mit faulem Ei und Castoreum, Ammoniak, Muskat, gefeiltem Hurn und angesengter Schweineschwarte, fein gebruselt. Dazu gab er ein relativ hohes Quantum Zibet, mischte diese entsetzlichen Zutaten mit Alkohol, ließ digerieren und filtrierte ab in eine zweite Flasche. Die Bruhe roch verheerend. Sie stank kloakenhaft, verwesend, und wenn man ihre Ausdunstung mit einem Fucherschlag von reiner Luft vermischte, so war's, als stunde man an einem heißen Sommertag in der Rue aux Fers in Paris, Ecke Rue de la Lingerie, wo sich die Dufte von den Hallen, vom Cimetiere des Innocents und von den uberfullten Huusern trafen. uber diese grauenvolle Basis, die an und fur sich eher kadaverhaft als menschenuhnlich roch, legte Grenouille nun eine Schicht von ulig-frischen Duften: Pfefferminz, Lavendel, Terpentin, Limone, Eukalyptus, die er durch ein Bouquet von feinen Blutenulen wie Geranium, Rose, Orangenblute und Jasmin zugleich zugelte und angenehm kaschierte. Nach weiterer Verdunnung mit Alkohol und etwas Essig war von dem Fundament, auf dem die ganze Mischung ruhte, nichts Ekelhaftes mehr zu riechen. Der latente Gestank hatte sich durch die frischen Ingredienzen bis ins Unmerkliche verloren, das Ekelhafte war vom Duft der Blumen geschunt, ja beinahe interessant geworden, und, sonderbar, von Verwesung war nichts mehr zu riechen, nicht das geringste mehr. Es schien im Gegenteil ein heftiger beschwingter Duft von Leben von dem Parfum auszugehen. Grenouille fullte es auf zwei Flakons, die er verstupselte und zu sich steckte. Dann wusch er die Flaschen, Murser, Trichter und Luffel sorgfultig mit Wasser, rieb sie mit Bittermandelul ab, um alle geruchlichen Spuren zu verwischen, und nahm eine zweite Mischflasche. In ihr komponierte er rasch ein anderes Parfum, eine Art Kopie des ersten, das ebenfalls aus frischen und aus blumigen Elementen bestand, bei dem jedoch die Basis nichts mehr von dem Hexensud enthielt, sondern ganz konventionell etwas Moschus, Amber, ein klein wenig Zibet und ul von Zedernholz. Fur sich genommen roch es vullig anders als das erste flacher, unbescholtener, unvirulenter - denn es fehlte ihm die Komponente des imitierten Menschendufts. Doch wenn ein gewuhnlicher Mensch es applizierte und es sich mit seinem eigenen Geruch vermuhlte, so wurde es von dem, das Grenouille ausschließlich fur sich geschaffen hatte, nicht mehr zu unterscheiden sein. Nachdem er auch das zweite Parfum auf Flakons gefullt hatte, zog er sich nackt aus und besprengte seine Kleider mit jenem ersten. Dann betupfte er sich selbst damit unter den Achseln, zwischen den Zehen, am Geschlecht, auf der Brust, an Hals, Ohren und Haaren, zog sich wieder an und verließ die Werkstatt. 32 Als er die Straße betrat, bekam er plutzlich Angst, denn er wusste, dass er zum ersten Mal in seinem Leben einen menschlichen Geruch verbreitete. Er selbst aber fand, dass er stinke, ganz widerwurtig stinke. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass andere Menschen seinen Duft nicht ebenfalls als stinkend empfunden, und wagte es nicht, direkt in die Schenke zu gehen, wo Runel und der Haushofmeister des Marquis auf ihn warteten. Es schien ihm weniger riskant, die neue Aura erst in anonymer Umgebung zu erproben. Durch die engsten und dunkelsten Gassen schlich er zum Fluss hinunter, wo die Gerber und die Stoffurber ihre Ateliers besaßen und ihr stinkendes Geschuft betrieben. Wenn ihm jemand begegnete, oder wenn er an einem Hauseingang voruberkam, wo Kinder spielten oder alte Frauen saßen, zwang er sich, langsamer zu gehen und seinen Duft in einer großen geschlossenen Wolke um sich her zu tragen. Er war von Jugend an gewohnt, dass Menschen, die an ihm vorubergingen, keinerlei Notiz von ihm nahmen, nicht aus Verachtung - wie er einmal geglaubt hatte -, sondern weil sie nichts von seiner Existenz bemerkten. Es war kein Raum um ihn gewesen, kein Wellenschlag, den er, wie andre Leute, in der Atmosphure schlug, kein Schatten, sozusagen, den er uber das Gesicht der andern Menschen hutte werfen kunnen. Nur wenn er direkt mit jemandem zusammengestoßen war, im Gedrunge oder urplutzlich an einer Straßenecke, dann hatte es einen kurzen Augenblick der Wahrnehmung gegeben; und mit Entsetzen meistens prallte der Getroffene zuruck, starrte ihn, Grenouille, fur ein paar Sekunden an, als sehe er ein Wesen, das es eigentlich nicht geben durfte, ein Wesen, das, wiewohl unleugbar da, auf irgendeine Weise nicht prusent war - und suchte dann das Weite und hatte seiner augenblicks wieder vergessen... Jetzt aber, in den Gassen Montpelliers, spurte und sah Grenouille deutlich - und jedesmal, wenn er es wieder sah, durchrieselte ihn ein heftiges Gefuhl von Stolz -, dass er eine Wirkung auf die Menschen ausubte. Als er an einer Frau voruberging, die uber einen Brunnenrand gebeugt stand, bemerkte er, wie sie fur einen Augenblick den Kopf hob, um zu sehen, wer da sei, und sich dann, offenbar beruhigt, wieder ihrem Eimer zuwandte. Ein Mann, der mit dem Rucken zu ihm stand, drehte sich um und schaute ihm eine ganze Weile lang neugierig nach. Kinder, denen er begegnete, wichen aus - nicht ungstlich, sondern um ihm Platz zu machen; und selbst wenn sie seitlich aus den Hauseingungen gelaufen kamen und unvermittelt auf ihn stießen, erschraken sie nicht, sondern schlupften wie selbstverstundlich an ihm vorbei, als hutten sie eine Vorahnung von seiner sich nuhernden Person gehabt. Durch mehrere solche Begegnungen lernte er, die Kraft und Wirkungsart seiner neuen Aura pruziser einzuschutzen, und wurde selbstsicherer und kecker. Er ging rascher auf die Menschen zu, strich dichter an ihnen vorbei, spreizte gar einen Arm ein wenig weiter ab und streifte wie zufullig den Arm eines Passanten. Einmal rempelte er, scheinbar aus Versehen, einen Mann an, den er uberholen wollte. Er blieb stehen, entschuldigte sich, und der Mann, der noch gestern von Grenouilles plutzlicher Erscheinung wie vom Donner geruhrt gewesen wure, tat, als sei nichts geschehen, nahm die Entschuldigung an, luchelte sogar kurz und klopfte Grenouille auf die Schulter. Er verließ die Gassen und trat auf den Platz vor dem Dom Saint-Pierre. Die Glocken luuteten. Zu beiden Seiten des Portals drungten sich Menschen. Eine Trauung war eben zu Ende. Man wollte die Braut sehen. Grenouille lief hin und mischte sich unter die Menge. Er drungte, bohrte sich in sie hinein, dorthin wollte er, wo die Menschen am dichtesten standen, hautnah sollten sie um ihn sein, direkt unter die Nasen wollte er ihnen seinen eigenen Duft reiben. Und er spreizte die Arme mitten in der drangvollen Enge und spreizte die Beine und riss sich den Kragen auf, damit der Duft ungehindert von seinem Kurper abstrumen kunne... und seine Freude war grenzenlos, als er merkte, dass die andern nichts merkten, rein gar nichts, dass all diese Munner und Frauen und Kinder, die ringsum an ihn gepresst standen, sich so leicht betrugen ließen und seinen aus Katzenscheiße, Kuse und Essig zusammengepantschten Gestank als den Geruch von ihresgleichen inhalierten und ihn, Grenouille, die Kuckucksbrut in ihrer Mitte, als einen Menschen unter Menschen akzeptierten. An seinen Knien spurte er ein Kind, ein kleines Mudchen, das zwischen den Erwachsenen verkeilt stand. Er hob es hoch, in heuchlerischer Fursorge, und nahm es auf den Arm, damit es besser sehen kunne. Die Mutter duldete es nicht nur, sie dankte es ihm, und die Kleine jauchzte vor Vergnugen. So stand Grenouille wohl eine Viertelstunde im Schoß der Menge, ein fremdes Kind gegen die scheinheilige Brust gedruckt. Und wuhrend die Hochzeitsgesellschaft vorbeizog, begleitet vom druhnenden Glockengeluut und vom Jubel der Menschen, uber die ein Regen von Munzen herabprasselte, brach in Grenouille ein anderer Jubel los, ein schwarzer Jubel, ein buses Triumphgefuhl, das ihn zittern machte und berauschte wie ein Anfall von Geilheit, und er hatte Muhe, es nicht wie Gift und Galle uber all diese Menschen herspritzen zu lassen und ihnen jubelnd ins Gesicht zu schreien: dass er keine Angst vor ihnen habe; ja kaum noch sie hasse; sondern dass er sie mit ganzer Inbrunst verachte, weil sie stinkend dumm waren; weil sie sich von ihm belugen und betrugen ließen; weil sie nichts waren, und er war alles! Und wie zum Hohn presste er das Kind enger an sich, machte sich Luft und schrie mit den undern im Chor: "Hoch die Braut! Es lebe die Braut! Es lebe das herrliche Paar!" Als die Hochzeitsgesellschaft sich entfernt hatte und die Menge sich aufzulusen begann, gab er das Kind seiner Mutter zuruck und ging in die Kirche, um sich von seiner Erregung zu erholen und auszuruhen. Im Innern des Domes stand die Luft voll Weihrauch, der in kalten Schwaden aus zwei Ruucherpfannen zu beiden Seiten des Altars hervorquoll und sich wie eine erstickende Decke uber die zarteren Geruche der Menschen legte, die eben noch hier gesessen hatten. Grenouille hockte sich auf eine Bank unter dem Chor. Mit einem Mal kam eine große Zufriedenheit uber ihn. Keine trunkene, wie er sie damals im Schuße des Berges bei seinen einsamen Orgien empfunden hatte, sondern eine sehr kalte und nuchterne Zufriedenheit, wie sie das Bewusstsein der eigenen Macht gebiert. Er wusste jetzt, wozu er fuhig war. Mit geringsten Hilfsmitteln hatte er, dank seinem eigenen Genie, den Duft des Menschen nachgeschaffen und ihn auf Anhieb gleich so gut getroffen, dass selbst ein Kind sich von ihm hatte tuuschen lassen. Er wusste jetzt, dass er noch mehr vermochte. Er wusste, dass er diesen Duft verbessern konnte. Er wurde einen Duft kreieren kunnen, der nicht nur menschlich, sondern ubermenschlich war, einen Engelsduft, so unbeschreiblich gut und lebenskruftig, dass, wer ihn roch, bezaubert war und ihn, Grenouille, den Truger dieses Dufts, von ganzem Herzen lieben musste. Ja, lieben sollten sie ihn, wenn sie im Banne seines Duftes standen, nicht nur ihn als ihresgleichen akzeptieren, ihn lieben bis zum Wahnsinn, bis zur Selbstaufgabe, zittern vor Entzucken sollten sie, schreien, weinen vor Wonne, ohne zu wissen, warum, auf die Knie sollten sie sinken wie unter Gottes kaltem Weihrauch, wenn sie nur ihn, Grenouille, zu riechen bekamen! Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und uber wirkliche Menschen. Und er wusste, dass dies in seiner Macht stand. Denn die Menschen konnten die Augen zumachen vor der Gruße, vor dem Schrecklichen, vor der Schunheit und die Ohren verschließen vor Melodien oder beturenden Worten. Aber sie konnten sich nicht dem Duft entziehen. Denn der Duft war ein Bruder des Atems. Mit ihm ging er in die Menschen ein, sie konnten sich seiner nicht erwehren, wenn sie leben wollten. Und mitten in sie hinein ging der Duft, direkt ans Herz, und unterschied dort kategorisch uber Zuneigung und Verachtung, Ekel und Lust, Liebe und Hass. Wer die Geruche beherrschte, der beherrschte die Herzen der Menschen. Ganz gelust saß Grenouille auf der Bank im Dom von Saint-Pierre und luchelte. Er war nicht euphorischer Stimmung, als er den Plan fasste, Menschen zu beherrschen. Es war kein wahnsinniges Flackern in seinen Augen, und keine verruckte Grimasse uberzog sein Gesicht. Er war nicht von Sinnen. So klaren und heiteren Geistes war er, dass er sich fragte, warum uberhaupt er es wollte. Und er sagte sich, dass er es wolle, weil er durch und durch buse sei. Und er luchelte dabei und war sehr zufrieden. Er sah ganz unschuldig aus, wie irgendein Mensch, der glucklich ist. Eine Weile lang blieb er so sitzen, in anduchtiger Ruhe, und atmete die weihrauchsatte Luft in tiefen Zugen ein. Und wieder ging ein heiteres Schmunzeln uber sein Gesicht: Wie miserabel dieser Gott doch roch! Wie lucherlich schlecht doch der Duft gemacht war, den dieser Gott von sich verstrumen ließ. Nicht einmal echter Weihrauchduft war es, was aus den Pfannen qualmte. Schlechtes Surrogat war es, verfulscht mit Lindenholz und Zimtstaub und Salpeter. Gott stank. Gott war ein kleiner armer Stinker. Er war betrogen, dieser Gott, oder er war selbst ein Betruger, nicht anders als Grenouille - nur ein um so viel schlechterer! 33 Der Marquis de la Taillade-Espinasse war entzuckt von dem neuen Parfum. Es sei, so sagte er, selbst fur ihn als Entdecker des letalen Fluidums, verbluffend zu sehen, welch eklatanten Einfluss ein so nebensuchliches und fluchtiges Ding wie ein Parfum, je nachdem, ob es aus erdverbundnen oder erdentruckten Provenienzen stamme, auf den allgemeinen Zustand eines Individuums nehme. Grenouille, der noch vor wenigen Stunden blass und einer Ohnmacht nahe hier gelegen, sehe so frisch und bluhend aus wie nur irgendein gesunder Mensch seines Alters, ja, man kunne sagen, dass er - mit allen Einschrunkungen, die bei einem Manne seines Standes und seiner geringen Bildung angebracht seien - fast so etwas wie Persunlichkeit gewonnen habe. Auf jeden Fall werde er, Taillade-Espinasse, im Kapitel uber vitale Diutetik seiner demnuchst erscheinenden Abhandlung zur fluidalen Letaltheorie von dem Vorfall Mitteilung machen. Zunuchst wolle er sich nun aber selbst mit dem neuen Duft parfumieren. Grenouille hundigte ihm die beiden Flakons mit dem konventionellen Blutenduft aus, und der Marquis besprengte sich damit. Er zeigte sich hochbefriedigt von der Wirkung. Ein wenig sei ihm, so gestand er, nachdem er jahrelang von dem entsetzlichen Veilchenduft wie von Blei belastet gewesen, als wuchsen ihm blutene Flugel; und wenn er nicht irre, so lasse der grußliche Schmerz seines Knies ebenso nach wie das Sausen der Ohren; alles in allem fuhle er sich beschwingt, ionisiert und um etliche Jahre verjungt. Er ging auf Grenouille zu, umarmte ihn und nannte ihn "mein fluidaler Bruder", hinzufugend, es handle sich dabei keineswegs um eine gesellschaftliche, sondern um eine rein spirituelle Anrede in conspectu universalitatis fluidi letalis, vor welchem - und vor welchem allein! - alle Menschen gleich seien; auch plane er - und dies sagte er, indem er sich von Grenouille luste, und zwar sehr freundschaftlich, nicht im geringsten angewidert, fast wie von seinesgleichen luste - , in Bulde eine internationale suprastundische Loge zu grunden, deren Ziel es sei, das fluidum letale vollstundig zu uberwinden, um es in kurzester Zeit durch reines fluidum vitale zu ersetzen, und als deren ersten Proselyten Grenouille zu gewinnen er schon jetzt verspreche. Dann ließ er sich die Rezeptur fur das Blutenparfum auf einen Zettel schreiben, steckte diesen zu sich und schenkte Grenouille funfzig Louisdor. Punktlich eine Woche nach seinem ersten Vortrag prusentierte der Marquis de la Taillade-Espinasse seinen Schutzling abermals in der Aula der Universitut. Der Andrang war ungeheuer. Ganz Montpellier war gekommen, nicht allein das wissenschaftliche, auch und gerade das gesellschaftliche Montpellier, darunter viele Damen, die den sagenhaften Huhlenmenschen sehen wollten. Und obwohl die Gegner Taillades, hauptsuchlich Vertreter des >Freundeskreises der botanischen Universitutsgurten< und Mitglieder des >Vereins zur Furderung der Agrikultur<, all ihre Anhunger mobilisiert hatten, wurde die Veranstaltung ein fulminanter Erfolg. Um dem Publikum Grenouilles Zustand vor Wochenfrist ins Geduchtnis zu rufen, ließ Taillade-Espinasse zunuchst Zeichnungen kursieren, die den Huhlenmenschen in seiner ganzen Hußlichkeit und Verkommenheit zeigten. ann ließ er den neuen Grenouille hereinfuhren, im schunen samtblauen Rock und seidenen Hemd, geschminkt, gepudert und frisiert; und schon die Art, wie er ging, aufrecht numlich und mit zierlichen Schritten und elegantem Huftschwung, wie er ganz ohne fremde Hilfe das Podest erklomm, sich tief verbeugte, bald hier-, bald dorthin luchelnd nickte, ließ alle Zweifler und Kritiker verstummen. Selbst die Freunde der botanischen Universitutsgurten schwiegen betreten. Zu eklatant war die Verunderung, zu uberwultigend das Wunder, das hier offenbar geschehen war: Wo vor Wochenfrist ein geschundenes, verrohtes Tier gekauert hatte, da stand jetzt wahrhaftig ein zivilisierter, wohlgestalter Mensch. Es breitete sich eine fast anduchtige Stimmung im Saale aus, und als Taillade-Espinasse zum Vortrag anhob, herrschte vollkommene Stille. Er entwickelte abermals seine sattsam bekannte Theorie des letalen Erdfluidums, erluuterte dann, mit welchen mechanischen und diutetischen Mitteln er es aus dem Kurper des Demonstranten vertrieben und durch Vitalfluidum ersetzt habe, und forderte schließlich alle Anwesenden auf, Freunde wie Gegner, angesichts solch uberwultigender Evidenz den Widerstand gegen die neue Lehre aufzugeben und gemeinsam mit ihm, Taillade-Espinasse, das buse Fluidum zu bekumpfen und sich dem guten vitalen Fluidum zu uffnen. Hierbei breitete er die Arme aus und schlug die Augen gen Himmel, und viele der gelehrten Munner taten es ihm gleich, und die Frauen weinten. Grenouille stand auf dem Podest und hurte nicht zu. Er beobachtete mit grußter Genugtuung die Wirkung eines ganz anderen Fluidums, eines viel realeren: seines eignen. Er hatte sich, den ruumlichen Erfordernissen der Aula entsprechend, sehr stark parfumiert, und die Aura seines Duftes strahlte, kaum dass er das Podium bestiegen hatte, muchtig von ihm ab. Er sah sie - in der Tat sah er sie sogar mit Augen! - die zuvorderst sitzenden Zuschauer erfassen, sich weiter nach hinten fortpflanzen und endlich die letzten Reihen und die Galerie erreichen. Und wen sie erfasste - das Herz im Leibe sprang Grenouille vor Freude -, den verunderte sie sichtbar. Im Banne seines Duftes, aber ohne sich dessen bewusst zu sein, wechselten die Menschen ihren Gesichtsausdruck, ihr Gehabe, ihr Gefuhl. Wer ihn zunuchst nur mit bassem Erstaunen beglotzt hatte, der sah ihn nun mit milderem Auge an; wer zuruckgelehnt in seinem Stuhl verharrt hatte, mit kritisch gefurchter Stirn und bedeutend herabgezogenen Mundwinkeln, der lehnte sich jetzt lockerer nach vorn und bekam ein kindlich gelustes Gesicht; und selbst in den Gesichtern der ungstlichen, der Verschreckten, der Allersensibelsten, die seinen ehemaligen Anblick nur mit Entsetzen und seinen jetzigen immerhin noch mit gehuriger Skepsis ertragen konnten, zeigten sich Anfluge von Freundlichkeit, ja Sympathie, als sein Duft sie erreichte. Am Ende des Vertrags erhob sich die ganze Versammlung und brach in frenetischen Jubel aus. "Es lebe das vitale Fluidum! Es lebe Taillade-Espinasse! Hoch die fluidale Theorie! Nieder mit der orthodoxen Medizin!" - so schrie das gelehrte Volk von Montpellier, der bedeutendsten Universitutsstadt des franzusischen Sudens, und der Marquis de la Taillade-Espinasse hatte die grußte Stunde seines Lebens. Grenouille aber, der nun von seinem Podest herunterstieg und sich unter die Menge mischte, wusste, dass die Ovationen eigentlich ihm galten, ihm Jean-Baptiste Grenouille allein, auch wenn keiner der Jubler im Saal davon etwas ahnte. 34 Er blieb noch einige Wochen in Montpellier. Er hatte eine ziemliche Beruhmtheit erlangt und wurde in die Salons eingeladen, wo man ihn nach seinem Huhlenleben und nach seiner Heilung durch den Marquis befragte. Immer wieder musste er die Geschichte von den Ruubern erzuhlen, die ihn verschleppt hatten, und von dem Korb, der herabgelassen wurde, und von der Leiter. Und jedesmal schmuckte er sie pruchtiger aus und erfand neue Details hinzu. So bekam er wieder eine gewisse ubung im Sprechen - freilich eine sehr beschrunkte, denn mit der Sprache hatte er es zeitlebens nicht - und, was ihm wichtiger war, einen routinierteren Umgang mit der Luge. Im Grunde, so stellte er fest, konnte er den Leuten erzuhlen, was er wollte. Wenn sie einmal Vertrauen gefasst hatten - und sie fassten Vertrauen zu ihm mit dem ersten Atemzug, den sie von seinem kunstlichen Geruch inhalierten -, dann glaubten sie alles. Er bekam des weiteren eine gewisse Sicherheit im gesellschaftlichen Umgang, wie er sie niemals besessen hatte. Sie druckte sich sogar kurperlich aus. Es war, als sei er gewachsen. Sein Buckel schien zu schwinden. Er ging beinahe vollkommen aufrecht. Und wenn er angesprochen wurde, so zuckte er nicht mehr zusammen, sondern blieb aufrecht stehen und hielt den auf ihn gerichteten Blicken stand. Freilich, es wurde in dieser Zeit kein Mann von Welt aus ihm, kein Salonluwe oder souveruner Gesellschafter. Aber es fiel doch zusehends das Verdruckte, Linkische von ihm ab und machte einer Haltung Platz, die als naturliche Bescheidenheit oder allenfalls als eine leichte angeborene Schuchternheit gedeutet wurde und die auf manchen Herrn und manche Dame einen anruhrenden Eindruck machte - man hatte damals in mondunen Kreisen ein Faible furs Naturliche und fur eine Art ungehobelten Charmes. Anfang Murz packte er seine Sachen und zog davon, heimlich, eines Tags in aller Fruh, kaum dass die Tore geuffnet waren, bekleidet mit einem unscheinbaren braunen Rock, den er am Vortag auf dem Altkleidermarkt erworben hatte, und einem schubigen Hut, der sein Gesicht halb verdeckte. Niemand erkannte ihn, niemand sah oder bemerkte ihn, denn er hatte an diesem Tag mit Vorbedacht auf sein Parfum verzichtet. Und als der Marquis gegen Mittag Nachforschungen anstellen ließ, schworen die Wachen Stein und Bein, sie hutten zwar alle muglichen Leute die Stadt verlassen gesehen, nicht aber jenen bekannten Huhlenmenschen, der ihnen ganz bestimmt aufgefallen wure. Der Marquis ließ daraufhin verbreiten, Grenouille habe Montpellier mit seinem Einverstundnis verlassen, um in Familienangelegenheiten nach Paris zu reisen. Insgeheim urgerte er sich allerdings furchterlich, denn er hatte vorgehabt, mit Grenouille eine Tournee durch das ganze Kunigreich zu unternehmen, um Anhunger fur seine Fluidaltheorie zu werben. Nach einiger Zeit beruhigte er sich wieder, denn sein Ruhm verbreitete sich auch ohne Tournee, fast ohne sein Zutun. Es erschienen lange Artikel uber das fluidum letale Taillade im >Journal des Suavans< und sogar im >Courier de l'Europe<, und von weit her kamen letalverseuchte Patienten, um sich von ihm heilen zu lassen. Im Sommer 1764 grundete er die erste >Loge des vitalen Fluidums<, die in Montpellier 120 Mitglieder zuhlte und Zweigstellen in Marseille und Lyon einrichtete. Dann beschloss er, den Sprung nach Paris zu wagen, um von dort die ganze zivilisierte Welt fur seine Lehre zu erobern, wollte vorher aber noch zur propagandistischen Unterstutzung seines Feldzugs eine fluidale Großtat vollbringen, welche die Heilung des Huhlenmenschen sowie alle anderen Experimente in den Schatten stellte, und ließ sich Anfang Dezember von einer Gruppe unerschrockener Adepten zu einer Expedition auf den Pic du Canigou begleiten, der auf demselben Meridian wie Paris lag und fur den huchsten Berg der Pyrenuen galt. Der an der Schwelle zum Greisenalter stehende Mann wollte sich auf den 2800 Meter hohen Gipfel tragen lassen und sich dort drei Wochen lang der schiersten, frischesten Vitalluft aussetzen, um, wie er verkundigte, punktlich am Heiligen Abend als kregler Jungling von zwanzig Jahren wieder herabzusteigen. Die Adepten gaben schon kurz hinter Vernet, der letzten menschlichen Siedlung am Fuße des furchterlichen Gebirges, auf. Den Marquis jedoch focht nichts an. In der Eiseskulte seine Kleider von sich werfend und laute Jauchzer ausstoßend, begann er den Aufstieg allein. Das letzte, was von ihm gesehen wurde, war seine Silhouette, die mit ekstatisch zum Himmel erhobenen Hunden und singend im Schneesturm verschwand. Am Heiligen Abend warteten die Junger vergebens auf die Wiederkunft des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er kam weder als Greis noch als Jungling. Auch im Fruhsommer des nuchsten Jahres, als sich die Wagemutigsten auf die Suche machten und den noch immer verschneiten Gipfel des Pic du Canigou erklommen, fand sich nichts mehr von ihm, kein Kleidungsstuck, kein Kurperteil, kein Knuchelchen. Seiner Lehre tat dies freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ging bald die Sage, er habe sich auf der Spitze des Berges mit dem ewigen Vitalfluidum vermuhlt, sich in es und es in sich aufgelust und schwebe fortan unsichtbar, aber in ewiger Jugend uber den Gipfeln der Pyrenuen, und wer hinaufsteige zu ihm, der werde seiner teilhaftig und bliebe ein Jahr lang von Krankheit und vom Prozess des Alterns verschont. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurde Taillades Fluidaltheorie an manchem medizinischen Lehrstuhl verfochten und in vielen okkulten Vereinen therapeutisch angewendet. Und noch heute gibt es zu beiden Seiten der Pyrenuen, namentlich in Perpignan und Figueras, geheime Tailladistenlogen, die sich einmal im Jahr treffen, um den Pic du Camgou zu besteigen. Dort zunden sie ein großes Feuer an, vorgeblich aus Anlass der Sonnenwende und zu Ehren des heiligen Johannes - in Wirklichkeit aber, um ihrem Meister Taillade-Espinasse und seinem großen Fluidum zu huldigen und um das ewige Leben zu erlangen. DRITTER TEIL 35 Wuhrend Grenouille fur die erste Etappe seiner Reise durch Frankreich sieben Jahre gebraucht hatte, brachte er die zweite in weniger als sieben Tagen hinter sich. Er mied die belebten Straßen und die Studte nicht mehr, er machte keine Umwege. Er hatte einen Geruch, er hatte Geld, er hatte Selbstvertrauen, und er hatte es eilig. Schon am Abend des Tages, da er Montpellier verlassen hatte, erreichte er Le Grau-du-Roi, eine kleine Hafenstadt sudwestlich von Aigues-Mortes, wo er sich auf einen Lastensegler nach Marseille einschiffte. In Marseille verließ er den Hafen gar nicht erst, sondern suchte gleich ein Schiff, das ihn weiter die Kuste entlang nach Osten brachte. Zwei Tage sputer war er in Toulon, nach drei weiteren Tagen in Cannes. Den Rest des Weges ging er zu Fuß. Er folgte einem Pfad, der landeinwurts nach Norden fuhrte, die Hugel hinauf. Nach zwei Stunden stand er auf der Kuppe, und vor ihm breitete sich ein mehrere Meilen umfassendes Becken aus, eine Art riesiger landschaftlicher Schussel, deren Umgrenzung ringsum aus sanft ansteigenden Hugeln und schroffen Bergketten bestand und deren weite Mulde mit frischbestellten Feldern, Gurten und Olivenhainen uberzogen war. Es lag ein vullig eignes, sonderbar intimes Klima uber dieser Schussel. Obwohl das Meer so nah war, dass man es von den Hugelkuppen aus sehen konnte, herrschte hier nichts Maritimes, nichts Salzig-Sandiges, nichts Offenes, sondern stille Abgeschiedenheit, ganz so, als wure man viele Tagesreisen von der Kuste entfernt. Und obwohl nach Norden zu die großen Gebirge standen, auf denen noch der Schnee lag und noch lange liegen wurde, war hier nichts Rauhes oder Karges zu spuren und kein kalter Wind. Der Fruhling war weiter vorangeschritten als in Montpellier. Ein milder Dunst deckte die Felder wie eine gluserne Glocke. Aprikosen- und Mandelbuume bluhten, und die warme Luft durchzog der Duft von Narzissen. Am anderen Ende der großen Schussel, vielleicht zwei Meilen entfernt, lag, oder besser gesagt, klebte an den ansteigenden Bergen eine Stadt. Sie machte aus der Entfernung gesehen keinen besonders pompusen Eindruck. Da war kein muchtiger Dom, der die Huuser uberragte, bloß ein kleiner Stumpen von Kirchturm, keine dominierende Feste, kein auffallend pruchtiges Gebuude. Die Mauern schienen alles andere als trutzig, da und dort quollen die Huuser uber ihre Begrenzung hinaus, vor allem nach unten zur Ebene hin, und verliehen dem Weichbild ein etwas zerfleddertes Aussehen. Es war, als sei dieser Ort schon zu oft erobert und wieder entsetzt worden, als sei er es mude, kunftigen Eindringlingen noch ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen - aber nicht aus Schwuche, sondern aus Lussigkeit oder sogar aus einem Gefuhl von Sturke. Er sah aus, als habe er es nicht nutig zu prunken. Er beherrschte die große duftende Schussel zu seinen Fußen, und das schien ihm zu genugen. Dieser zugleich unansehnliche und selbstbewusste Ort war die Stadt Grasse, seit einigen Jahrzehnten unumstrittene Produktions- und Handelsmetropole fur Duftstoffe, Parfumeriewaren, Seifen und ule. Giuseppe Baldini hatte ihren Namen immer mit schwurmerischer Verzuckung ausgesprochen. Ein Rom der Dufte sei die Stadt, das gelobte Land der Parfumeure, und wer nicht seine Sporen hier verdient habe, der trage nicht zu Recht den Namen Parfumeur. Grenouille sah mit sehr nuchternem Blick auf die Stadt Grasse. Er suchte kein gelobtes Land der Parfumerie, und ihm ging das Herz nicht auf im Angesicht des Nestes, das da druben an den Hungen klebte. Er war gekommen, weil er wusste, dass es dort einige Techniken der Duftgewinnung besser zu lernen gab als anderswo. Und diese wollte er sich aneignen, denn er brauchte sie fur seine Zwecke. Er zog den Flakon mit seinem Parfum aus der Tasche, betupfte sich sparsam und machte sich auf den Weg. Anderthalb Stunden sputer, gegen Mittag, war er in Grasse. Er aß in einem Gasthof am oberen Ende der Stadt, an der Place aux Aires. Der Platz war der Lunge nach von einem Bach durchschnitten, an dem die Gerber ihre Huute wuschen, um sie anschließend zum Trocknen auszubreiten. Der Geruch war so stechend, dass manchem der Guste der Geschmack am Essen verging. Ihm, Grenouille, nicht. Ihm war der Geruch vertraut, ihm gab er ein Gefuhl von Sicherheit. In allen Studten suchte er immer zuerst die Viertel der Gerber auf. Es war ihm dann, als sei er, aus der Sphure des Gestankes kommend und von dort aus die anderen Regionen des Orts erkundend, kein Fremdling mehr. Den ganzen Nachmittag uber durchstreifte er die Stadt. Sie war unglaublich schmutzig, trotz oder vielmehr gerade wegen des vielen Wassers, das aus Dutzenden von Quellen und Brunnen sprudelte, in ungeregelten Buchen und Rinnsalen stadtabwurts gurgelte und die Gassen unterminierte oder mit Schlamm uberschwemmte. Die Huuser standen in manchen Vierteln so dicht, dass fur die Durchlusse und Treppchen nur noch eine Elle weit Platz blieb und sich die im Schlamm watenden Passanten aneinander vorbeipressen mussten. Und selbst auf den Plutzen und den wenigen breiteren Straßen konnten die Fuhrwerke einander kaum ausweichen. Dennoch, bei allem Schmutz, bei aller Schmuddligkeit und Enge, barst die Stadt vor gewerblicher Betriebsamkeit. Nicht weniger als sieben Seifenkochereien machte Grenouille bei seinem Rundgang aus, ein Dutzend Parfumerie- und Handschuhmachermeister, unzuhlige kleinere Destillen, Pomadeateliers und Spezereien und