Fabian trank und schwieg. Labude fuhr erregt fort: "Das siehst du ein, nicht wahr? Natürlich siehst du das ein. Aber du phantasierst lieber von einem unerreichbaren vollkommenen Ziel anstatt einem unvollkommenen zuzustreben, das sich verwirklichen läßt. Es ist dir bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz, das ist das Schlimme." "Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere fünf Millionen Arbeitslosen begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unterstützung. Stell dir vor, sie wären ehrgeizig!" Da lehnten sich zwei Trikotengel über die Brüstung. Die eine Frau war dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei sie serviert. Die andere Person war mager, und ihr Gesicht sah aus, als hätte sie krumme Beine. "Schenkt uns 'ne Zigarette", sagte die Blonde. Fabian hielt die Schachtel hin, Labude gab Feuer. Die Frauen rauchten, blickten die jungen Männer abwartend an, und die Magere konstatierte nach einer Pause mit verrosteter Stimme: "Na ja, so ist das." "Wer spendiert 'nen Schnaps?" fragte die Dicke. Sie gingen zu viert der Theke zu. Rebenlaub und gewaltige Weintrauben, alles aus Pappe, umsäumten den Pfad. Sie setzten sich in eine Ecke. Die Wand war mit der Pfalz bei Caub bemalt. Fabian dachte an Blücher, Labude bestellte Likör. Die Frauen flüsterten miteinander. Vermutlich verteilten sie die zwei Kavaliere. Denn unmittelbar danach schleuderte die dicke Blonde den Arm um Fabian, legte eine Hand auf sein Bein und tat wie zu Hause. Die Magere trank ihr Glas auf einen Zug leer, zupfte Labude an der Nase und kicherte blöde. "Oben sind Nischen", sagte sie, strich die blauen Trikothosen von den Schenkeln zurück und zwinkerte. "Woher haben Sie so rauhe Hände?" fragte Labude. Sie drohte mit dem Finger. "Nicht, was du denkst", rief sie und verschluckte sich vor Schelmerei. "Paula hat früher in einer Konservenfabrik gearbeitet", sagte die Blonde, nahm Fabians Hand und fuhr sich mit dieser so lange über die Brüste, bis die Brustwarzen groß und fest wurden. "Gehen wir dann ins Hotel?" fragte sie. "Ich bin überall rasiert", erläuterte die Magere und war nicht abgeneigt, den Nachweis zu erbringen. Labude hielt sie mühsam von dem äußersten zurück. "Man schläft nachher besser", sagte die Blondine zu Fabian und reckte die fetten Beine. Lottchen von der Theke füllte die Gläser. Die Frauen tranken, als hätten sie acht Tage nichts gegessen. Die Musik drang gedämpft herüber. An der Bar saß ein riesenhafter Kerl und gurgelte mit Kirschwasser. Der Scheitel reichte ihm bis ins Rückgrat. Hinter der Pfalz bei Caub brannte eine elektrische Birne und besonnte den Rhein, wenn auch nur von hinten. "Oben sind Nischen", sagte die Magere wieder, und man stieg hinauf. Labude bestellte kalten Aufschnitt. Als der Teller mit Fleisch und Wurst vor den Mädchen stand, vergaßen sie alles übrige und kauten drauflos. Unten im Saal wurde die schönste Figur prämiiert. Die Frauen drehten sich mit ihren knappen Badeanzügen im Kreis, spreizten die Arme und Finger und lächelten verführerisch. Die Männer standen wie auf dem Viehmarkt. "Der erste Preis ist eine große Bonbonniere", erklärte die kauende Paula, "und wer sie gekriegt hat, muß sie dann beim Geschäftsführer wieder abliefern." "Ich esse lieber, außerdem findet man meine Beine immer zu dick", sagte die Blondine. "Dabei sind dicke Beine das beste, was es gibt. Ich war einmal mit einem russischen Fürsten zusammen, der schreibt mir noch jetzt Ansichtskarten." "Quatsch!" knurrte Paula. "Jeder Mann will was anderes. Ich habe einen Herrn gekannt, einen Ingenieur, der liebte Lungenkranke. Und Viktorias Freund hat einen Buckel, und sie sagt, sie braucht das zum Leben. Da mach was dagegen. Ich finde, Hauptsache, man versteht seinen Kram." "Gelernt ist gelernt", behauptete die Dicke und angelte das letzte Stück Schinken von der Platte. Unten im Saal wurde gerade die schönste Figur ausgerufen. Die Kapelle spielte einen Tusch. Der Geschäftsführer überreichte der Siegerin eine große Bonbonniere. Sie dankte ihm beglückt, verneigte sich vor den klatschenden und johlenden Gästen und zog mit ihrem Geschenk davon, wahrscheinlich trug sie's ins Büro zurück. "Warum arbeiten Sie eigentlich nicht mehr in Ihrer Konservenfabrik?" fragte Labude, und seine Frage klang recht vorwurfsvoll. Paula schob den leeren Teller zurück, strich sich über den Magen und erzählte: "Erstens war es gar nicht meine Fabrik, und zweitens wurde ich abgebaut. Glücklicherweise wußte ich was über den Direktor. Er hatte ein vierzehnjähriges Mädchen verführt. Verführt ist übertrieben. Aber er glaubte den Zimt. Und dann rief ich ihn alle vierzehn Tage an, ich müsse fünfzig Mark haben, oder ich würde die Sache rumreden. Am nächsten Tag ging ich dann jedesmal zur Kasse und holte das Geld ab." "Das ist ja Erpressung!" rief Labude. "Der Rechtsanwalt, den mir der Direktor auf den Hals schickte, fand das auch. Ich mußte einen Wisch unterschreiben, bekam hundert Mark, und aus war's mit der Lebensrente. Na ja, nun bin ich hier und lebe vom Bauch in den Mund." "Es ist furchtbar", sagte Labude zu Fabian, "es ist schrecklich, wie viele Direktoren das Angestelltenverhältnis mißbrauchen." Die Dicke rief: "Ach Mensch, was redest du da. Wenn ich ein Mann wäre, und ein Fabrikdirektor dazu, ich hätte dauernd Angestelltenverhältnisse." Dann fuhr sie Fabian in die Haare, versetzte ihm einen Kuß, ergriff seine Hand und legte sie platt auf ihren satten Magen. Labude und Paula tanzten miteinander. Sie hatte tatsächlich krumme Beine. In der Nachbarnische sang eine Frau laut mit betrunkener Stimme: "Die Liebe ist ein Zeitvertreib. Man nimmt dazu den Unterleib." Die Dicke sagte: "Die nebenan ist 'ne Marke. Sie gehört gar nicht hierher, kommt in teuren Pelzmänteln an, aber darunter trägt sie was ganz Durchsichtiges. Es soll eine reiche Frau aus dem Westen sein, sogar verheiratet. Sie holt sich junge Kerle in die Nische, bezahlt für sie und gibt an, daß die Wände rot werden." Fabian erhob sich und blickte über die halbhohe Zwischenwand hinweg nebenan. Dort saß in einem grünseidenen Badeanzug eine große gutgewachsene Frau und war, unter Absingung von Liedern, dabei, einen Reichswehrsoldaten, der sich verzweifelt wehrte, auszuziehen. "Kerl!" rief sie. "Mach nicht so einen schlappen Eindruck! Los! Zeig den Ausweis!" Aber der brave Infanterist stieß sie zurück. Fabian fiel jene bekannte ägyptische Ministergattin ein, die den armen Josef, den begabten Urenkel Abrahams, so schamlos belästigt hatte. Da stand die Grüne auf, packte ein Sektglas und taumelte zur Brüstung. Es war nicht Frau Potiphar, sondern Frau Moll. Jene Irene Moll, deren Schlüssel er im Mantel hatte. Schwankend stand sie an der Balustrade, hob das spitze Glas hoch und warf es in den Saal hinunter. Es zersprang auf dem Parkett. Die Musiker setzten die Instrumente ab. Die Tanzpaare hoben erschrocken die Köpfe. Alle blickten zu der Nische herauf. Frau Moll streckte die Hand aus und rief: "Männer nennt sich das! Wenn man sie anpackt, gehen sie aus dem Leim! Meine sehr verehrten Damen, ich schlage vor, die Bande einzusperren. Meine sehr verehrten Damen, wir brauchen Männerbordelle! Wer dafür ist, der hebe die Hand!" Sie schlug sich emphatisch vor die Brust und bekam davon den Schlucken. Im Saal wurde gelacht. Der Geschäftsführer war schon unterwegs. Irene Moll fing an zu weinen. Das Schwarz der getuschten Wimpern verflüssigte sich, und die Tränen liniierten ihr Gesicht. "Laßt uns singen!" schrie sie schluchzend und schluckend. "Wir singen das schöne Lied vom Klavierspiel!" Sie breitete beide Arme aus und brüllte: "Auch der Mensch ist nur ein Tier, Immer, und erst recht zu zweit, Komm und spiel auf mir Klavier! Komm und spieleee auf mir Die Schule der Geläufigkeit. Dazu bin ich ja..." Der Geschäftsführer hielt ihr den Mund zu, sie mißverstand die Bewegung und fiel ihm um den Hals. Dabei sah sie den zu ihr hinblickenden Fabian, riß sich los und schrie: "Dich kenne ich doch!" und wollte zu ihm. Aber der Reichswehrsoldat, der sich inzwischen erholt hatte, und der Geschäftsführer packten sie und drückten sie auf einen Stuhl. Im Saal wurde wieder musiziert und getanzt. Labude hatte während der Szene bezahlt, gab Paula und der Dicken etwas Geld, faßte Fabian unter und zog ihn fort. In der Garderobe fragte er: "Sie kennt dich wirklich?" "Ja", sagte Fabian, "sie heißt Moll, ihr Mann ist Rechtsanwalt und zahlt jede Summe, wenn man mit ihr schläft. Die Schlüssel dieser komischen Familie habe ich noch in der Tasche. Hier sind sie." Labude nahm die Schlüssel weg, rief: "Ich komme gleich wieder!" und lief in Hut und Mantel zurück. SECHSTES KAPITEL Der Zweikampf am Märkischen Museum Wann findet der nächste Krieg statt? Ein Arzt versteht sich auf Diagnose Als sie auf der Straße standen, fragte Labude ärgerlich: "Hast du mit dieser Verrückten etwas gehabt?" "Nein, ich war nur in ihrem Schlafzimmer, und sie zog sich aus. Plötzlich kam noch ein Mann hinzu, behauptete, mit ihr verehelicht zu sein, ich solle mich aber nicht stören lassen. Dann deklamierte er einen ungewöhnlichen Kontrakt, den die beiden geschlossen haben. Dann ging ich." "Warum nahmst du die Schlüssel mit?" "Weil die Haustür verschlossen war." "Ein schauderhaftes Weib", sagte Labude. "Sie hing besoffen überm Tisch, und ich steckte ihr die Schlüssel schnell in die Handtasche." "Sie hat dir nicht gefallen?" fragte Fabian. "Sie ist doch sehr eindrucksvoll gewachsen, und das freche Konfirmandengesicht obendrauf wirkt so wunderbar unpassend." "Wenn sie häßlich wäre, hättest du die Schlüssel längst beim Portier abgegeben." Labude zog den Freund weiter. Sie bogen langsam in eine Nebenstraße ein, kamen an einem Denkmal, auf dem Herr Schulze-Delitzsch stand, und am Märkischen Museum vorbei, der Steinerne Roland lehnte finster in einer Efeuecke, und auf der Spree jammerte ein Dampfer. Oben auf der Brücke blieben sie stehen und blickten auf den dunklen Fluß und auf die fensterlosen Lagerhäuser. Über der Friedrichstadt brannte der Himmel. "Lieber Stephan", sagte Fabian leise, "es ist rührend, wie du dich um mich bemühst. Aber ich bin nicht unglücklicher als unsere Zeit. Willst du mich glücklicher machen, als sie es ist? Und wenn du mir einen Direktorposten, eine Million Dollar oder eine anständige Frau, die ich lieben könnte, verschaffst, oder alle drei Dinge zusammen, es wird dir nicht gelingen." Ein kleines schwarzes Boot, mit einer roten Laterne am Heck, trieb den Fluß entlang. Fabian legte die Hand auf die Schulter des Freundes. "Als ich vorhin sagte, ich verbrächte die Zeit damit, neugierig zuzusehen, ob die Welt zur Anständigkeit Talent habe, war das nur die halbe Wahrheit. Daß ich mich so herumtreibe, hat noch einen anderen Grund. Ich treibe mich herum, und ich warte wieder, wie damals im Krieg, als wir wußten: Nun werden wir eingezogen. Erinnerst du dich? Wir schrieben Aufsätze und Diktate, wir lernten scheinbar, und es war gleichgültig, ob wir es taten oder unterlie­ßen. Wir sollten ja in den Krieg. Saßen wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus der man langsam, aber unaufhörlich die Luft herauspumpt? Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten nicht aus Übermut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich? Wir wollten nichts versäumen, und wir hatten einen gefährlichen Lebenshunger, weil wir glaubten, es sei die Henkersmahlzeit." Labude lehnte am Geländer und blickte auf die Spree hinunter. Fabian ging hin und her, als liefe er in seinem Zimmer auf und ab. "Erinnerst du dich?" fragte er. "Und ein halbes Jahr später waren wir marschbereit. Ich bekam acht Tage Urlaub und fuhr nach Graal. Ich fuhr hin, weil ich als Kind einmal dort gewesen war. Ich fuhr hin, es war Herbst, ich lief melancholisch über den schwankenden Boden der Erlenwälder. Die Ostsee war verrückt, und die Kurgäste konnte man zählen. Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit sechsen schlief ich. Die nächste Zukunft haltenden Entschluß gefaßt, mich zu Blutwurst zu verarbeiten. Was sollte ich bis dahin tun? Bücher lesen? An meinem Charakter feilen ? Geld verdienen ? Ich saß in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. Acht Tage später fuhr der Zug. Das wußte ich. Aber wohin er fuhr, und was aus mir werden sollte, das wußte kein Mensch. Und jetzt sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende!" "Zum Donnerwetter!" rief Labude, "wenn alle so denken wie du, wird nie stabilisiert! Empfinde ich vielleicht den provisorischen Charakter der Epoche nicht? Ist dieses Mißvergnügen dein Privileg? Aber ich sehe nicht zu, ich versuche, vernünftig zu handeln." "Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen", sagte Fabian, "und die Gerechten noch weniger." "So?" Labude trat dicht vor den Freund und packte ihn mit beiden Händen am Mantelkragen. "Aber sollten sie es nicht trotzdem wagen?" In diesem Augenblick hörten beide einen Schuß und einen Aufschrei und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung. Labude rannte ins Dunkel, die Brücke entlang, auf das Museum zu. Wieder klang ein Schuß. "Viel Spaß!" sagte Fabian zu sich selber, während er lief, und suchte, obwohl sein Herz schmerzte, Labude zu erreichen. Am Fuße des Märkischen Roland kauerte ein Mann, fuchtelte mit dem Revolver und brüllte: "Warte nur, du Schwein!" Und dann schoß er wieder über die Straße weg auf einen unsichtbaren Gegner. Eine Laterne zerbrach. Glas klirrte aufs Pflaster. Labude nahm dem Mann die Waffe aus der Hand, und Fabian fragte: "Warum schießen Sie eigentlich im Sitzen?" "Weil mich's am Bein erwischt hat", knurrte der Mann. Es war ein junger stämmiger Mensch, und er trug eine Mütze. "So ein Mistvieh", brüllte er. "Aber ich weiß, wie du heißt." Und er drohte der Dunkelheit. "Quer durch die Wade", stellte Labude fest, kniete nieder, zog ein Taschentuch aus dem Mantel und probierte einen Notverband. "Drüben in der Kneipe ging's los", lamentierte der Verwundete. "Er schmierte ein Hakenkreuz aufs Tischtuch. Ich sagte was. Er sagte was. Ich knallte ihm eine hinter die Ohren. Der Wirt schmiß uns raus. Der Kerl lief mir nach und schimpfte auf die Internationale. Ich drehte mich um, da schoß er schon." "Sind Sie nun wenigstens überzeugt?" fragte Fabian und blickte auf den Mann hinunter, der die Zähne zusammenbiß, weil Labude an der Schußwunde hantierte. "Die Kugel ist nicht mehr drin", bemerkte Labude. "Kommt denn hier gar kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf." "Nicht einmal ein Schutzmann ist da", stellte Fabian bedauernd fest. "Der hätte mir gerade noch gefehlt!" Der Verletzte versuchte aufzustehen. "Damit sie wieder einen Proleten einsperren, weil er so unverschämt war, sich von einem Nazi die Knochen kaputtschießen zu lassen." Labude hielt den Mann zurück, zog ihn wieder zu Boden und befahl dem Freund, ein Taxi zu besorgen. Fabian rannte davon, quer über die Straße, um die Ecke, den nächtlichen Uferweg entlang. In der nächsten Nebenstraße standen Wagen. Er gab dem Chauffeur den Auftrag, zum Märkischen Museum zu fahren, am Roland gäbe es eine Fuhre. Das Auto verschwand. Fabian folgte zu Fuß. Er atmete tief und langsam. Das Herz schlug wie verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals. Es pochte unterm Schädel. Er blieb stehen und trocknete die Stirn. Dieser verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein krankes Herz dabei erwischt zu haben, war zwar eine Kinderei, aber Fabian genügte das Andenken. In der Provinz zerstreut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer verstümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Männer mit furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor nichts zurückschreckten, füllten diesen entstellten Kreaturen Nahrung ein, durch dünne Glasröhren, die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher spießten, wo früher einmal ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte lachen und sprechen und schreien können. Fabian bog um die Ecke. Drüben war das Museum. Das Auto hielt davor. Er schloß die Augen und entsann sich schrecklicher Fotografien, die er gesehen hatte und die mitunter in seinen Träumen auftauchten und ihn erschreckten. Diese armen Ebenbilder Gottes! Noch immer lagen sie in jenen von der Welt isolierten Häusern, mußten sich füttern lassen und mußten weiterleben. Denn es war ja Sünde, sie zu töten. Aber es war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu zerfressen. Die Familien wußten nichts von diesen Männern und Vätern und Brüdern. Man hatte ihnen gesagt, sie wären vermißt. Das war nun fünfzehn Jahre her. Die Frauen hatten wieder geheiratet. Und der Selige, der irgendwo in der Mark Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde, lebte zu Hause nur noch als hübsche Fotografie überm Sofa, ein Sträußchen im Gewehrlauf, und darunter saß der Nachfolger und ließ sich's schmecken. Wann gab es wieder Krieg? Wann würde es wieder soweit sein? Plötzlich rief jemand "Hallo!" Fabian öffnete die Augen und suchte den Rufer. Der lag auf der Erde, hatte sich auf den Ellenbogen gestützt und preßte seine Hand aufs Gesäß. "Was ist denn mit Ihnen los?" "Ich bin der andere", sagte der Mann. "Mich hat's auch erwischt." Da stellte sich Fabian breitbeinig hin und lachte. Von der anderen Seite her, aus dem Gemäuer des Museums, lachte ein Echo mit. "Entschuldigen Sie", rief Fabian, "meine Heiterkeit ist nicht gerade höflich." Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Grimasse, betrachtete die Hände, die voll Blut waren, und sagte verbissen: "Wie's beliebt. Der Tag wird kommen, wo Ihnen das Lachen vergeht." "Warum stehst du denn da herum?" schrie Labude und kam ärgerlich über die Straße. "Ach, Stephan", sagte Fabian, "hier sitzt die andere Hälfte des Duells mit einem Steckschuß im Allerwertesten." Sie riefen den Chauffeur und transportierten den Nationalsozialisten ins Auto, neben den kommunistischen Spielgefährten. Die Freunde kletterten hinterdrein und gaben dem Chauffeur Anweisung, sie zum nächsten Krankenhaus zu bringen. Das Auto fuhr los. "Tut's sehr weh?" fragte Labude. "Es geht", antworteten die beiden Verwundeten gleichzeitig und musterten sich finster. "Volksverräter!" sagte der Nationalsozialist. Er war größer als der Arbeiter, etwas besser gekleidet und sah etwa wie ein Handlungsgehilfe aus. "Arbeiterverräter!" sagte der Kommunist. "Du Untermensch!" rief der eine. "Du Affe!" rief der andere. Der Kommis griff in die Tasche. Labude faßte sein Handgelenk. "Geben Sie den Revolver her!" befahl er. Der Mann sträubte sich. Fabian holte die Waffe heraus und steckte sie ein. "Meine Herren", sagte er. "Daß es mit Deutschland so nicht weitergehen kann, darüber sind wir uns wohl alle einig. Und daß man jetzt versucht, mit Hilfe der kalten Diktatur unhaltbare Zustände zu verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihre Strafe finden wird. Trotzdem hat es keinen Sinn, wenn Sie einander Reservelöcher in die entlegensten Körperteile schießen. Und wenn Sie besser getroffen hätten und nun ins Leichenschauhaus führen, statt in die Klinik, wäre auch nichts Besonderes erreicht. Ihre Partei", er meinte den Faschisten, "weiß nur, wogegen sie kämpft, und auch das weiß sie nicht genau. Und Ihre Partei", er wandte sich an den Arbeiter, "Ihre Partei..." "Wir kämpfen gegen die Ausbeuter des Proletariats", erklärte dieser, "und Sie sind ein Bourgeois." "Freilich", antwortete Fabian, "ich bin ein Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort." Der Handlungsgehilfe hatte Schmerzen, saß, zur Seite geneigt, auf der heilen Sitzfläche und hatte Mühe, mit seinem Kopf nicht an den des Gegners zu stoßen. "Das Proletariat ist ein Interessenverband", sagte Fabian. "Es ist der größte Interessenverband. Daß ihr euer Recht wollt, ist eure Pflicht. Und ich bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil ich die Gerechtigkeit liebe. Ich bin euer Freund, obwohl ihr darauf pfeift. Aber, mein Herr, auch wenn Sie an die Macht kommen, werden die Ideale der Menschheit im verborgenen sitzen und weiterweinen. Man ist noch nicht gut und klug, bloß weil man arm ist." "Unsere Führer..." begann der Mann. "Davon wollen wir lieber nicht reden", unterbrach ihn Labude. Das Auto hielt. Fabian klingelte am Portal des Krankenhauses. Der Portier öffnete. Krankenwärter kamen und trugen die Verletzten aus dem Wagen. Der wachhabende Arzt gab den Freunden die Hand. "Sie bringen mir zwei Politiker?" fragte er lächelnd. "Heute nacht sind insgesamt neun Leute eingeliefert worden, einer mit einem schweren Bauchschuß. Lauter Arbeiter und Angestellte. Ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß es sich meist um Bewohner von Vororten handelt, um Leute, die einander kennen? Diese politischen Schießereien gleichen den Tanzbodenschlägereien zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort um Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat man den Eindruck, sie wollen die Arbeitslosenziffer senken, indem sie einander totschießen. Merkwürdige Art von Selbsthilfe." "Man kann es verstehen, daß das Volk erregt ist", meinte Fabian. "Ja, natürlich." Der Arzt nickte. "Der Kontinent hat den Hungertyphus. Der Patient beginnt bereits zu phantasieren und um sich zu schlagen. Leben Sie wohl!" Das Portal schloß sich. Labude gab dem Chauffeur Geld und schickte den Wagen weg. Sie gingen schweigend nebeneinander. Plötzlich blieb Labude stehen und sagte: "Ich kann jetzt noch nicht nach Hause gehen. Komm, wir fahren ms Kabarett der Anonymen." "Was ist das?" "Ich kenne es auch noch nicht. Ein findiger Kerl hat Halbverrückte aufgelesen und läßt sie singen und tanzen. Er zahlt ihnen ein paar Mark, und sie lassen sich dafür vom Publikum beschimpfen und auslachen. Wahrscheinlich merken sie es gar nicht. Das Lokal soll sehr besucht sein. Das ist ja auch verständlich. Es gehen sicher Leute hin, die sich darüber freuen, daß es Menschen gibt, die noch verrückter sind als sie selber." Fabian war einverstanden. Er blickte noch einmal zum Krankenhaus zurück, über dem der Große Bär funkelte. "Wir leben in einer großen Zeit", sagte er, "und sie wird jeden Tag größer." SIEBENTES KAPITEL Verrückte auf dem Podium Die Todesfahrt von Paul Müller Ein Fabrikant in Badewannen Vor dem Kabarett parkten viele Privatautos. Ein rotbärtiger Mann, der einen Pleureusenhut trug und eine riesige Hellebarde hielt, lehnte an der Tür des Lokals und rief: "Immer herein in die Gummizelle!" Labude und Fabian traten ein, gaben die Garderobe ab und fanden nach langem Suchen in dem überfüllten, verqualmten Raum an einem Ecktisch Platz. Auf der wackligen Bühne machte ein zwecklos vor sich hinlächelndes Mädchen Sprünge. Es handelte sich offenbar um eine Tänzerin. Sie trug ein giftgrünes selbstge­schneidertes Kleid, hielt eine Ranke künstlicher Blumen und warf sich und die Ranke in regelmäßigen Zeitabständen in die Luft. Links von der Bühne saß ein zahnloser Greis an einem verstimmten Klavier und spielte die Ungarische Rhapsodie. Ob der Tanz und das Klavierspiel miteinander in Beziehung standen, war nicht ersichtlich. Das Publikum, ausnahmslos elegant gekleidet, trank Wein, unterhielt sich laut und lachte. "Fräulein, Sie werden dringend am Telefon verlangt!" schrie ein glatzköpfiger Herr, der mindestens Generaldirektor war. Die anderen lachten noch mehr als vorher. Die Tänzerin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und fuhr fort zu lächeln und zu springen. Da hörte das Klavierspiel auf. Die Rhapsodie war zu Ende. Das Mädchen auf der Bühne warf dem Klavierspieler einen bösen Blick zu und hüpfte weiter, der Tanz war noch nicht aus. "Mutter, dein Kind ruft!" kreischte eine Dame, die ein Monokel trug. "Ihr Kind auch", bemerkte jemand von einem entfernten Tisch. Die Dame drehte sich um. "Ich habe keine Kinder." "Da können Sie aber lachen!" rief man aus dem Hintergrund. "Ruhe!" brüllte jemand anders. Der Wortwechsel hörte auf. Das Mädchen tanzte noch immer, obwohl ihr längst die Beine wehtun mußten. Schließlich fand sie selber, es sei genug, landete in einem mißlungenen Knicks, lächelte noch alberner als vorher und breitete die Arme aus. Ein dicker Herr im Smoking stand auf. "Gut, sehr gut! Sie können morgen zum Teppichklopfen kommen!" Das Publikum lärmte und klatschte. Das Mädchen knickste wieder und wieder. Da kam ein Mann aus der Kulisse, zog die Tänzerin, die sich heftig sträubte, von der Bühne und trat selber an die Rampe. "Bravo, Caligula!" rief eine Dame aus der ersten Tischreihe. Caligula, ein rundlicher junger Jude mit Hornbrille, wandte sich an den Herrn, der neben der Ruferin saß. "Ist das Ihre Frau?" fragte er. Der Herr nickte. "Dann sagen Sie Ihrer Frau, sie soll die Schnauze halten!" sagte Caligula. Man applaudierte. Der Mann m der ersten Tischreihe wurde rot. Seine Frau fühlte sich geschmeichelt. "Ruhe, ihr Armleuchter!" rief Caligula und hob die Hände. Es wurde ruhig. "War die Tanzdarbietung nicht geradezu ein Erlebnis?" "Jawohl", brüllten alle. "Aber es kommt noch besser. Jetzt schicke ich einen heraus, der Paul Müller heißt. Er ist aus Tolkewitz. Das liegt in Sachsen. Paul Müller spricht sächsisch und gibt vor, Rezitator zu sein. Er wird Ihnen eine Ballade vortragen. Machen Sie sich auf das Äußerste gefaßt. Paul Müller aus Tolkewitz ist, wenn nicht alles täuscht, verrückt. Ich habe keine Kosten gescheut, diese wertvolle Kraft für mein Kabarett zu gewinnen. Denn ich kann es nicht dulden, daß nur im Zuschauerraum Verrückte sind." "Das geht entschieden zu weit!" rief ein Besucher, dessen Gesicht mit Schmißnarben verziert war. Er war aufgesprungen und zog sich empört das Jackett straff. "Hin­setzen!" sagte Caligula und verzog den Mund. "Wissen Sie, was Sie sind? Ein Idiot!" Der Akademiker rang nach Luft. "Im übrigen", fuhr der Kabarettinhaber fort, "im übrigen meine ich Idiot nicht in beleidigendem Sinn, sondern als Charakteristikum." Die Leute lachten und klatschten. Der Herr mit den Schmissen und der Empörung wurde von seinen Bekannten auf den Stuhl gezogen und beschwichtigt. Caligula nahm eine Klingel in die Hand, schellte wie ein Nachtwächter und rief: "Paul Müller, erscheine!" Dann ver­schwand er. Aus dem Hintergrund nahte ein langaufgeschossener, ungewöhnlich blasser Mensch in abgerissener Kleidung. "Tag, Müller!" brüllte man. "Er ist zu schnell gewachsen", meinte jemand. Paul Müller verbeugte sich, zeigte herausfordernden Ernst im Gesicht, fuhr sich durch die Haare und preßte dann die Hände vor die Augen. Er sammelte sich. Plötzlich zog er die Hände vom Gesicht fort, streckte sie weit von sich, spreizte die Finger, riß die Augen auf und sagte: "Die Todesfahrt von Paul Müller." Dann trat er noch einen Schritt vor. "Fall nicht runter!" rief die Dame, der von Caligula eigentlich befohlen worden war, die Schnauze zu halten. Paul Müller machte aus Trotz noch ein Schrittchen, blickte verächtlich auf das Publikum da unten und begann wieder: "Die Todesfahrt von Paul Müller." "Das war der Graf von Hohenstein. Der sperrte seine Tochter ein. Sie liebte einen Offizier. Der Vater sprach: "Du bleibst bei mir"!" In diesem Augenblick warf jemand aus dem Publikum ein Stück Würfelzucker auf die Bühne. Paul Müller bückte sich, steckte den Zucker ein und fuhr mit unheilschwangerer Stimme fort: "Da half nur Flucht, und die Komteß entfloh in ihrem zehn PS. Sie steuerte durch Nacht und Not. Doch auf dem Kühler saß der Tod!" Wieder warf man Zucker auf die Bühne. Vermutlich saßen Stammgäste in dem Raum, die den Gewohnheiten der Künstler Rechnung trugen. Andere Gäste folgten dem Beispiel, und allmählich kam ein Würfelzuckerbombardement zustande, dem Müller dadurch zu begegnen wußte, daß er sich dauernd bückte. Es entwickelte sich ein Balladenvortrag mit Kniebeugen. Auch mit aufgerissenem Mund versuchte Müller, den ihm zufliegenden Zucker aufzufangen. Sein Gesicht wurde immer drohender. Seine Stimme klang immer schwärzer. Man entnahm der Rezitation, daß in jener schrecklichen Nacht nicht nur die Komteß Hohenstein Auto fuhr, um zu ihrem Offizier zu gelangen, sondern daß auch der Geliebte in seinem Wagen unterwegs war und sich dem Schloß näherte, wo er das Fräulein vermutete, während sie ihm doch entgegeneilte. Da die zwei Liebenden die gleiche Landstraße benutzten, da es sich ferner um eine ausgesprochen regnerische, neblige Nacht handelte, und da das Gedicht "Todesfahrt" hieß, war mit großer Wahrscheinlichkeit zu befürchten, daß die beiden Autos zusammen­stoßen würden. Paul Müller beseitigte auch den letzten Zweifel darüber. "Mach den Mund zu, sonst fallen dir die Sägespäne aus dem Schädel!" brüllte eine Stimme. Aber das Autounglück war nicht mehr aufzuhalten. "Das Auto jenes Offiziers kam links gefahren, rechts kam ihrs. Der Nebel war entsetzlich dick. Und so vollzog sich das Geschick. Von links ein Schrei, von rechts ein Schrei - " "Das macht nach Adam Riese zwei!" schrie jemand. Die Leute johlten und klatschten. Sie hatten von Paul Müller genug und waren auf den Ausgang der Tragödie nicht länger neugierig. Er deklamierte weiter. Aber man sah nur, daß er den Mund bewegte. Zu hören war nichts, die Todesfahrt ging im Lärm der Überlebenden unter. Da packte den dürren Balladendichter die blasse Wut. Er sprang vom Podium und rüttelte die Dame derartig an den Schultern, daß ihr die Zigarette aus dem Mund und in den blauseidenen Schoß fiel. Sie sprang schreiend auf. Ihr Begleiter erhob sich ebenfalls und schimpfte. Es klang, als belle ein Hund. Paul Müller gab dem Kavalier einen Stoß, daß er in den Stuhl zurücktaumelte. Da tauchte Caligula auf. Er war wütend und glich einem knirschenden Tierbändiger, zog den Mann aus Tolkewitz an der Krawatte und führte ihn ins Künstler­zimmer. "Pfui Teufel", sagte Labude, "unten Sadisten und oben Verrückte." "Dieser Sport ist international", meinte Fabian, "in Paris gibt es dieselbe Sache. Dort schreien die Zuschauer: "Tue-le!" und dann schiebt sich eine riesengroße hölzerne Hand aus der Kulisse und schaufelt den Ärmsten aus dem Gesichtskreis. Er wird weggefegt!" "Caligula nennt sich der Bursche. Er kennt sich aus. Sogar in der römischen Geschichte." Labude stand auf und ging. Er hatte genug. Auch Fabian erhob sich. Da schlug ihn jemand derb auf die Schulter. Er drehte sich um. Der Mann strahlte über das ganze Gesicht und rief vergnügt: "Alter Junge, wie geht's dir denn?" "Danke, gut." "Nein, wie ich mich freue, dich altes Haus mal wiederzusehen!" Der Akademiker gab Fabian einen Freuden­stoß vor den Brustkasten, genau auf einen der Hemdknöpfe. "Kommen Sie", meinte Fabian, "prügeln wir uns draußen weiter!" Dann drängte er sich, zwischen Stühlen hindurch, in den Vorraum. "Mein Lieber", sagte er zu Labude, der sich den Mantel anzog, "wir wol­len schnell machen. Eben hat mich einer ununterbrochen geduzt." Sie nahmen die Hüte. Aber es war schon zu spät. Der Mann mit den Schmissen schob eine sommersprossige Frau vor sich her, als könne sie nicht allein laufen, und sagte zu ihr: "Siehst du, Meta, der Herr war auf dem Pennal unser Primus." Und zu Fabian sagte er: "Das ist meine Frau, alter Knabe. Meine bessere Hälfte gewissermaßen. Wir leben in Remscheid. Ich habe den Assessor an den Nagel gehängt und bin im Geschäft meines Schwiegervaters. Wir machen Badewannen. Wenn du mal eine brauchen solltest, kannst du sie zum Engrospreis haben! Haha! Ja, es geht mir gut. Danke, glückliche Ehe, Wohnung in einem Zweifamilienhaus, großer Garten dahinter, nicht ganz ohne Bargeld, Kind haben wir auch, aber noch nicht lange." "Es ist erst so groß", entschuldigte sich Meta und zeigte mit den Händen, wie klein das Kind war. "Es wird schon noch wachsen", tröstete Labude. Die Frau blickte ihn dankbar an und hängte sich bei ihrem Mann ein. "Also, alter Schwede", fing der Akademiker wieder an, "nun erzähle mal, was du die ganze Zeit über gemacht hast." "Nichts Besonderes", bemerkte Fabian. "Augenblicklich bastle ich an einer Weltraumrakete. Ich will mir mal den Mond ansehen." "Ausgezeichnet", rief der Mann, der in die Badewannen eingeheiratet hatte. "Deutschland allen voran! Und wie geht's deinem Bruder?" "Sie überschütten mich mit frohen Neuigkeiten, mein Herr", sagte Fabian. "Ein Brüderchen habe ich mir schon lange gewünscht. Nur eine bescheidene Zwischenfrage: Wo sind Sie eigentlich aufs Gymnasium gegangen?" "In Marburg natürlich." Fabian hob bedauernd die Schultern. "Es soll eine bezaubernde Stadt sein, aber ich kenne Marburg leider gar nicht." "Dann entschuldigen Sie vielmals", knarrte der andere. "Kleine Verwechslung, täuschende Ähnlichkeit, nichts für ungut." Er knallte die Absätze zusammen, befahl: "Komm, Meta!" und entfernte sich. Meta blickte Fabian verlegen an, nickte Labude zu und folgte dem Gemahl. "So ein dämlicher Affe!" Fabian war entrüstet. "Spricht wildfremde Leute an und tut familiär. Ich habe diesen Caligula im Verdacht, daß die Anpöbelei zu seiner Kabarettregie gehört." "Das glaube ich nicht", meinte Labude. "Die Badewannen waren sicher echt, und das entsetzlich kleine Kind auch." Sie gingen heimwärts. Labude schaute trübselig aufs Pflaster. "Es ist eine Schande", sagte er nach einer Weile. "Dieser gewesene Assessor hat eine Wohnung, einen Garten, einen Beruf, eine Frau mit Sommersprossen und was noch alles. Und unsereins vegetiert herum wie ein Landstreicher ohne Land, man hat noch keinen festen Beruf, man hat kein festes Einkommen, man hat kein festes Ziel und nicht mal eine feste Freundin." "Du hast doch Leda." "Und was mich besonders aufbringt", fuhr Labude fort, "so ein Kerl hat ein eigenes, selbstgemachtes Kind." "Sei nicht neidisch", sagte Fabian, "dieser juristisch vorgebildete Badewannenfabrikant ist ein Ausnahmefall. Wer von den Leuten, die heute dreißig Jahre alt sind, kann heiraten? Der eine ist arbeitslos, der andere verliert morgen seine Stellung. Der dritte hat noch nie eine gehabt. Unser Staat ist darauf, daß Generationen nachwachsen, momentan nicht eingerichtet. Wem es dreckig geht, der bleibt am besten allein, statt Frau und Kind an seinem Leben proportional zu beteiligen. Und wer trotzdem andere mit hineinzieht, der handelt mindestens fahrlässig. Ich weiß nicht, von wem der Satz stammt, daß geteiltes Leid halbes Leid sei, aber wenn der Quatschkopf noch leben sollte, dann wünsche ich ihm zweihundert Mark monatlich und eine achtköpfige Familie. Da soll er sein Leid so lange durch acht dividieren, bis er schwarz wird." Fabian sah den Freund von der Seite an. "Übrigens, wozu bedrückt dich das? Dein Vater gibt dir doch Geld. Und wenn du die Venia legendi hast, wirst du noch ein paar Groschen dazuverdienen. Dann heiratest du Leda, und deinen Vaterfreuden steht nichts mehr im Wege." "Es gibt ja auch andere Schwierigkeiten außer den ökonomischen", sagte Labude, blieb stehen und winkte einem Taxi. "Sei mir nicht böse, wenn ich jetzt allein sein will. Kannst du mich morgen bei meinen Eltern abholen? Ich muß dir verschiedenes erzählen." Er drückte dem Freund etwas in die Hand und stieg in den wartenden Wagen. "Handelt es sich um Leda?" fragte Fabian durchs offene Fenster. Labude nickte und senkte den Kopf. Das Auto fuhr an. Der andere blickte dem Wagen nach. "Ich komme!" rief er. Doch das Auto war schon weit weg, und das rote Schlußlicht konnte ein Glühwürmchen sein. Dann besann er sich und stellte fest, was er in der Hand hielt. Es war ein Fünfzigmarkschein. ACHTES KAPITEL Studenten treiben Politik Labude sen. liebt das Leben Die Ohrfeige an der Außenalster Labudes Eltern bewohnten im Grunewald einen großen griechischen Tempel. Eigentlich war es kein Tempel, sondern eine Villa. Und eigentlich bewohnten sie die Villa gar nicht. Die Mutter war viel auf Reisen, meist im Süden, in einem Landhaus bei Lugano. Erstens gefiel es ihr am Lago di Lugano besser als am Grunewaldsee. Und zweitens fand Labudes Vater, die zarte Gesundheit seiner Frau erfordere südlichen Aufenthalt. Er liebte seine Frau sehr, besonders in ihrer Abwesenheit. Seine Zuneigung wuchs im Quadrat der Entfernung, die zwisch