r nicht erwartet... Soweit diese riesige Stadt aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang." "Und was kommt nach dem Untergang?" Fabian pflückte einen kleinen Zweig, der über ein Gitter hing, und gab zur Antwort: "Ich fürchte, die Dummheit." "In der Stadt, aus der ich bin, ist die Dummheit schon eingetroffen", sagte das Mädchen. "Aber was soll man tun?" "Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige ich nicht, denn ich verspüre nichts von jenem Tatendrang, der andere nötigt, so lange mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe zu und warte. Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen. Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf Wunder. Liebes Fräulein, ich kenne Sie noch nicht. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, möchte ich Ihnen für den Umgang mit Menschen eine Arbeitshypothese anvertrauen, die sich bewährt hat. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht richtig zu sein braucht. Aber sie führt in der Praxis zu verwendbaren Ergebnissen." "Und wie lautet Ihre Hypothese?" "Man halte hier jeden Menschen, mit Ausnahme der Kinder und Greise, bevor das Gegenteil nicht unwiderleglich bewiesen ist, für verrückt. Richten Sie sich danach, Sie werden bald erfahren, wie nützlich der Satz sein kann." "Soll ich bei Ihnen damit beginnen?" fragte sie. "Ich bitte darum", meinte er. Sie schwiegen und überquerten den Nürnberger Platz. Ein Auto bremste dicht vor ihnen. Das Mädchen zitterte. Sie gingen in die Schaperstraße. In einem verwahrlosten Garten schrien Katzen. An den Rändern der Fußsteige standen Alleebäume, bedeckten den Weg mit Dunkelheit und verbargen den Himmel. "Ich bin angelangt", sagte sie und machte vor dem Hause Nummer 17 halt. In dem Hause, in dem auch Fabian wohnte! Er verbarg seine Verwunderung und fragte, ob er sie wiedersehen dürfe. "Wollen Sie es wirklich?" "Unter einer Bedingung: daß auch Sie es wünschen." Sie nickte und legte einen Augenblick lang den Kopf an seine Schulter. "Diese Stadt ist groß", flüsterte sie und schwieg unschlüssig. "Werden Sie mich falsch verstehen, wenn ich Sie bitte, für eine halbe Stunde zu mir hinaufzukommen? Das Zimmer ist mir noch so fremd. Kein Wort klingt nach und keine Erinnerung, denn ich habe darin noch mit niemandem gesprochen, und nichts ist da, woran es mich erinnern könnte. Und vor den Fenstern schwanken des Nachts schwarze Bäume." Fabian sagte lauter, als er wollte: "Ich komme gern mit. Schließen Sie nur auf." Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte um. Doch ehe sie die Tür aufschob, wandte sie sich noch einmal zu ihm. "Ich bin sehr in Sorge, daß Sie mich mißverstehen." Er drückte die Tür auf und schaltete die Treppenbeleuchtung ein. Dann ärgerte er sich, daß er sich dadurch verraten haben könnte. Aber sie wurde nicht stutzig, schloß hinter ihm ab und ging voraus. Er folgte und amüsierte sich über die Heimlichkeit, mit der er heute dieses Haus betrat. In welcher Etage mochte sie wohnen? Sie blieb tatsächlich vor der Tür seiner Wirtin, vor der Tür der Witwe Hohlfeld, stehen und öffnete. Im Flur brannte Licht. Zwei junge Mädchen in rosa Hemdhöschen spielten mit einem grünen Luftballon Fußball. Sie erschraken und begannen vor Schreck zu kichern. Fräulein Battenberg stand starr. Da ging die Toilettentür auf, und Herr Dröger, der sinnliche Stadtreisende, erschien im Pyjama. "Halten Sie Ihren Harem besser unter Verschluß", brummte Fabian. Herr Dröger grinste, trieb die Mädchen in sein Serail und riegelte ab. Fabian legte die Hand versehentlich auf die Klinke zu seinem eigenen Zimmer. "Um Gottes willen", flüsterte Fräulein Battenberg. "Da wohnt jemand anderes." "Pardon", sagte Fabian und folgte ihr durch den Korridor in den letzten Raum. Er legte Hut und Mantel aufs Sofa, sie hängte ihren Mantel in den Schrank. "Eine fürchterliche Bude", sagte sie lächelnd. "Und achtzig Mark im Monat." "Ich zahle genausoviel", tröstete er. Nebenan wurde gelärmt. Die Sprungfedern knirschten unwillig. "Die Nachbarschaft habe ich gratis", meinte sie. "Bohren Sie ein Loch in die Wand und verlangen Sie Eintritt." "Ach, ich bin so froh", sie rieb sich die Hände wie vor einem Kamin. "Wenn ich allein bin, wirkt dieser Salon noch viel häßlicher. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Wollen Sie sich mal die schaurigen Bäume anschauen?" Sie traten ans Fenster. "Heute sind sogar die Bäume freundlicher", stellte sie fest. Dann sah sie ihn an und murmelte: "Das macht, weil ich sonst allein bin." Er zog sie behutsam an sich und gab ihr einen Kuß. Sie küßte ihn wieder. "Nun wirst du denken, daß ich dich deshalb bat, mitzukommen." "Freilich denke ich das", gab er zur Antwort. "Aber du wußtest es selber noch nicht." Sie rieb ihre Wange an der seinen und blickte durchs Fenster. "Wie heißt du eigentlich?" fragte er. "Cornelia." Als sie nebeneinander im Bett lagen, sagte er ehrlich bekümmert, während er ihr mit den Händen übers Gesicht strich und dabei die Augen schloß, um das Gepräge des Gesichts zu spüren: "Weißt du noch, daß wir heute abend einmal in einem Atelier saßen, hinter Göttinnen aus Gips, und daß du erzähltest, wie du die Männer für ihren Egoismus bestrafen willst?" Sie drückte lauter kleine Küsse auf seine Hände. Dann holte sie tief Atem und antwortete: "An dem Vorsatz hat sich nichts geändert, wirklich nicht. Aber mit dir mach ich eine Ausnahme. Mir ist ganz so, als ob ich dich liebhabe." Er setzte sich hoch. Aber sie zog ihn wieder zu sich herab. "Vorhin, als wir uns umarmten, hab ich geweint", flüsterte sie. Und als sie sich dessen erinnerte, traten ihr von neuem Tränen in die Augen, aber sie lächelte unter diesen Tränen, und er war seit langem wieder einmal beinahe glücklich. "Ich habe geweint, weil ich dich liebhabe. Aber daß ich dich liebhabe, das ist meine Sache, hörst du? Und es geht dich nichts an. Du sollst kommen und gehen, wann du willst. Und wenn du kommst, will ich mich freuen, und wenn du gehst, will ich nicht traurig sein. Das verspreche ich dir." Sie drängte sich an ihn und preßte ihren Körper an den seinen, daß beiden der Atem verging. "So", rief sie, "und jetzt hab ich Hunger!" Er zog ein so verdutztes Gesicht, daß sie lachte. Sie erklärte ihm die Sache. "Das ist so: wenn ich wen liebhabe, ich meine, wenn mich jemand liebgehabt hat - aber du verstehst mich schon, ja? -, dann habe ich hinterher immer fürchterlichen Hunger. Der Hunger hat nur einen Haken. Ich habe nichts zu essen da. Ich konnte ja nicht wissen, daß ich in dieser fürchterlichen Stadt so bald solchen Hunger bekäme." Sie lag auf dem Rücken und lächelte die Zimmerdecke an, die Engelsköpfe aus Stuck inbegriffen. Fabian stand auf und meinte: "Da müssen wir eben einbrechen." Dann hob er sie aus dem Bett, öffnete die Tür und zog die widerstrebende Cornelia in den Korridor. Sie sträubte sich, aber er faßte sie unter, und sie spazierten, Adam und Eva zum Verwechseln ähnlich, den Flur entlang, bis vor Fabians Tür. "Das ist ja entsetzlich", jammerte sie und wollte entfliehen. Aber er drückte die Klinke nieder und transportierte das Mädchen in sein Zimmer. Sie klapperte kläglich mit den Zähnen. Er machte Licht, verbeugte sich und äußerte feierlich: "Herr Doktor Fabian erlaubt sich, Fräulein Doktor Battenberg in seinen Gemächern willkommen zu heißen." Dann warf er sich auf sein Bett und biß vor Vergnügen ins Kopfkissen. "Nein!" sagte sie hinter ihm. "Das ist nicht möglich." Aber dann glaubte sie es doch und begann Schuhplattler zu tanzen. Er stand auf und sah ihr zu. "Du darfst dir nicht so laut hintendrauf klatschen", erklärte er würdevoll. "Das ist beim Schuhplattler nicht anders", meinte sie und tanzte weiter, so echt und so laut es ging. Dann schritt sie gemessen zum Tisch, setzte sich auf einen Stuhl, tat dabei, als ob sie ihr Kleid glattstriche, obwohl sie, augenfällig genug, nichts Derartiges anhatte, und sagte: "Bitte, die Speisekarte." Er schleppte Teller, Messer, Gabel, Brot und Wurst und Keks herbei und markierte, während sie aß, den aufmerksamen Oberkellner. Später stöberte sie auf seinem Bücherbrett herum, klemmte sich Lektüre unter den Arm, bot ihm den linken und befahl majestätisch: "Bringen Sie mich unverzüglich in mein Appartement zurück." Bevor sie das Licht auslöschten, verabredeten sie noch, daß sie ihn am nächsten Morgen wecken solle. Man entschied sich dafür, daß sie ihn, bis er munter sei, am Ohr zupfen werde. Abends wollten sie sich dann wieder in der Wohnung treffen. Wer zuerst da wäre, würde neben seine Türklinke ein Bleistiftkreuz kritzeln. Man nahm sich vor, die Witwe Hohlfeld nach Möglichkeit nichts merken zu lassen. Dann löschte Cornelia das Licht aus. Sie bettete sich neben ihn und sagte: "Komm!" Er streichelte ihren Körper. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände, preßte den Mund auf sein Ohr und flüsterte: "Komm! Was rief die Selow? Es lebe der kleine Unterschied!" ELFTES KAPITEL Die Überraschung in der Fabrik Der Kreuzberg und ein Sonderling Das Leben ist eine schlechte Angewohnheit Am anderen Morgen war Fabian schon eine Viertelstunde vor Bürobeginn an der Arbeit. Er pfiff vor sich hin und überflog die Notizen zu dem Preisausschreiben, das die Direktion von ihm erwartete. Die Fabrik sollte dem Einzelhandel hunderttausend sehr billige Sonderpackungen zugänglich machen. Die Schachteln sollten numeriert sein und Zigaretten sechs verschie­dener Sorten ohne jeden Schriftaufdruck enthalten. Die Käuferschaft sollte erraten, wieviel Zigaretten der sechs bekannten Marken der Firma in der Packung enthalten wären. Wer eine billige Schachtel erwarb, mußte, wenn er die Aufgabe lösen und einen der Preise gewinnen wollte, notgedrungen je eine der sechs Spezialpackungen kaufen, die seit langem im Handel waren, also sechs Packungen außer der billigen Sonderschachtel. Wenn sich hunderttausend Interessenten fanden, konnten automatisch sechshunderttausend andere Packungen, insgesamt siebenhunderttausend Schachteln, umgesetzt werden. Dazu kam die allgemeine Absatzsteigerung, die einem geschickt propagierten Kundenfang zu folgen pflegt. Fabian begann eine Kalkulation aufzustellen. Da erschien Fischer, rief: "Nanu?" und blickte dem Kollegen neugierig über die Schulter. "Der Entwurf fürs Preisausschreiben", sagte Fabian. Fischer zog das graue Lüsterjackett an, das er im Büro trug, und fragte: "Darf ich Ihnen nachher mal meine Zweizeiler zeigen?" "Gern. Heute habe ich Sinn für Lyrik." Da klopfte es. Der Hausbote Schneidereit, ein ältliches, wackliges Faktotum, auch "der Erfinder des Plattfußes" geheißen, schob sich ins Zimmer. Er legte mürrisch einen großen gelben Brief auf Fabians Schreibtisch und entfernte sich wieder. Der Brief enthielt Fabians Papiere, eine Anweisung an die Hauptkasse und ein kurzes Schreiben mit diesem Inhalt: "Sehr geehrter Herr, die Firma sieht sich veranlaßt, Ihnen unter dem heutigen Tage die Kündigung auszusprechen. Das am Monatsende zahlbare Gehalt wird Ihnen schon heute an der Kasse ausgefolgt werden. Wir haben uns erlaubt, aus freien Stücken in der Anlage ein Zeugnis beizufügen, und wollen auch an dieser Stelle gern bekunden, daß Sie für die propagandistische Tätigkeit besonders qualifiziert erscheinen. Die Kündigung ist eine bedauerliche Folge der vom Aufsichtsrat beschlossenen Senkung des Reklamebudgets. Wir danken Ihnen für die dem Unternehmen geleistete Arbeit und wünschen Ihnen für Ihr weiteres Fortkommen das Beste." Unterschrift. Aus. Fabian saß minutenlang, ohne sich zu rühren. Dann stand er auf, zog sich an, steckte den Brief in den Mantel und sagte zu Fischer: "Auf Wiedersehen. Lassen Sie sich's gutgehen." "Wo wollen Sie denn hin?" "Man hat mir eben gekündigt." Fischer sprang auf. Er war grün im Gesicht. "Was Sie nicht sagen! Mensch, da hab ich aber nochmal Glück gehabt!" "Ihr Gehalt ist kleiner", meinte Fabian. "Sie dürfen bleiben." Fischer trat auf den gekündigten Kollegen zu und drückte ihm mit feuchter Hand sein Bedauern aus. "Na, zum Glück läßt Sie die Sache kalt. Sie sind ein patenter Kerl, und zweitens haben Sie keine Frau am Hals." Plötzlich stand Direktor Breitkopf im Zimmer, zögerte, als er sah, daß Fischer nicht allein war, und wünschte schließlich einen guten Morgen. "Guten Morgen, Herr Direktor", grüßte Fischer und verbeugte sich zweimal. Fabian tat, als sehe er Breitkopf nicht, wandte sich dem Kollegen zu und sagte: "Auf dem Schreibtisch liegt mein Preisausschreibenprojekt. Ich vermache es Ihnen." Damit verließ Fabian seine Wirkungs­stätte und holte sich an der Kasse zweihundertsiebzig Mark. Bevor er auf die Straße trat, blieb er minutenlang im Tor stehen. Lastautos ratterten vorbei. Ein Depeschenbote sprang vom Rad und eilte ins gegenüberliegende Ge­bäude. Das Nebenhaus war von einem Gerüst vergittert. Maurer standen auf den Laufbrettern und verputzten den grauen, bröckeligen Bewurf. Eine Reihe bunter Möbelwagen bog schwerfällig in die Seitenstraße. Der Depe­schenbote kam zurück, stieg hastig auf sein Rad und fuhr weiter. Fabian stand im Torbogen, griff in die Tasche, ob das Geld noch drin sei, und dachte: "Was wird mit mir?" Dann ging er, da er nicht arbeiten durfte, spazieren. Er lief kreuz und quer durch die Stadt, trank gegen Mittag, Hunger hatte er nicht, bei Aschinger eine Tasse Kaffee und setzte sich von neuem in Bewegung, obwohl er sich lieber traurig in den tiefen Wald verkrochen hätte. Aber wo war hier ein tiefer Wald? Er lief und lief und rannte sich den Kummer in den Stiefelsohlen ab. Auf der Belle-Alliance-Straße erkannte er das Haus wieder, in dem er zwei Semester lang als Student gelebt hatte. Es stand wie ein alter Bekannter da, den man lange nicht gesehen hat und der verlegen abwartet, ob man ihn grüßen wird oder nicht. Fabian stieg die Treppe hinauf und sah nach, ob die alte Geheimratswitwe noch immer hier wohnte. Aber da war ein fremdes Schild an der Tür. Er kehrte um. Die alte Dame war ganz weißhaarig und sehr schön gewesen. Er entsann sich des regelmäßigen dummen Greisinnenge­sichts. Im Inflationswinter hatte er kein Geld zum Heizen gehabt. Er hatte, im Mantel vergraben, dort oben gehockt und an einem Vortrag über Schillers moralästhetisches System gearbeitet. Sonntags war er gelegentlich von der alten Dame zum Mittagessen eingeladen und über die familiären Vorgänge in ihrem umfangreichen Bekannten­kreis aufgeklärt worden. Vorher, damals und heute, er war stets ein armes Luder gewesen, und er hatte große Aussichten, eines zu bleiben. Seine Armut war schon eine schlechte Angewohnheit, wie bei anderen das Krummsit­zen oder das Nägelkauen. Gestern nacht, bevor er einschlief, hatte er noch gedacht: Vielleicht sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in dieser Stadt, wo Ehrgeiz so rasch Früchte trug; vielleicht sollte man sich doch ein wenig ernster nehmen und in dem wackligen Weltgebäude, als ob alles in Ordnung sei, eine lauschige Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war es Sünde, das Leben zu lieben und kein seriöses Verhältnis mit ihm zu haben. Cornelia, der weibliche Referendar, hatte danebengelegen und ihm noch im Schlaf die Hand gedrückt. Mitten in der Nacht, hatte sie ihm am Morgen berichtet, sei sie zusammengefahren und erwacht. Denn er habe sich im Bett aufgesetzt und energisch erklärt: "Ich werde die Annoncen leuchten lassen!" Dann sei er wieder zurückgesunken. Er stieg langsam auf das Plateau des Kreuzberges und setzte sich auf eine Bank, die der Pflege des Publikums empfohlen war. Auf einem Schild stand: "Bürger, schont eure Anlagen!" Der Magistrat hatte den außerordentlich zweideutigen Satz unterschrieben, der Magistrat mußte es wissen. Fabian betrachtete den riesigen Stamm eines Baumes. Die Rinde war von tausend senkrechten Falten zerpflückt. Sogar die Bäume hatten Sorgen. Zwei kleine Schüler gingen an der Bank vorbei. Der eine, der die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt, fragte gerade empört: "Soll man sich das gefallen lassen?" Der andere ließ sich mit der Antwort Zeit: "Gegen die Bande kannst du gar nichts machen", meinte er schließlich. Was sie weiter sprachen, war nicht mehr zu hören. Von der anderen Seite des Platzes näherte sich eine merkwürdige Gestalt: ein alter Herr, mit einem weißen Knebelbart und mit einem schlechtgerollten Schirm. Statt eines Mantels trug er eine grünliche, verschossene Pelerine, und der Kopf gipfelte in einem steifen grauen Hut, der vor Jahren schwarz gewesen sein mochte. Der Pelerinen­träger steuerte auf die Bank zu, ließ sich, eine Begrü­ßungsformel murmelnd, neben Fabian nieder, hustete umständlich und zeichnete mit dem Schirm Kreise in den Sand. Er machte einen der Kreise zu einem Zahnrad, brachte dessen Mittelpunkt mit dem Zentrum eines ande­ren Kreises durch eine Gerade in Verbindung, kompli­zierte die Skizze durch Kurven und Linien immer mehr, schrieb Formeln daneben und darüber, rechnete, strich durch, rechnete von neuem, unterstrich eine Zahl zweimal und fragte: "Verstehen Sie was von Maschinen?" "Bedaure", sagte Fabian. "Wer mich sein Grammophon aufziehen läßt, kann sicher sein, daß es nie mehr funktio­niert. Mechanische Feuerzeuge, mit denen ich mich befas­se, brennen nicht. Bis zum heutigen Tage halte ich den elektrischen Strom, wie mir der Name zu bestätigen scheint, für eine Flüssigkeit. Und wie es möglich ist, auf der einen Seite geschlachtete Ochsen in elektrisch betrie­bene Metallgehäuse zu sperren und auf der Rückseite Cornedbeef herauszudestillieren, werde ich niemals be­greifen. - Übrigens erinnert mich Ihre Pelerine an meine Internatszeit. Jeden Sonntag marschierten wir in solchen Pelerinen und mit grünen Mützen nach der Martin-Luther-Kirche zum Gottesdienst. Während der Predigt schliefen wir alle bis auf den, der die anderen wecken mußte, wenn der Organist den Choral intonierte oder wenn der Hauslehrer auf die Empore kam." Fabian blickte auf die Pelerine des Nachbarn und spürte, wie dieses Kleidungsstück die Vergangenheit alarmierte. Er sah den blassen, dicken Direktor vor sich, wie der jeden Morgen, zu Beginn der Andacht, bevor er sich setzte und das Gesangbuch aufschlug, die Knie einknickte und mit der Hand an die Hose faßte, um sich zu vergewissern, ob der sündige Erdenrest noch anwesend sei. Und er sah sich selber abends durchs Tor der Anstalt schleichen, durch die dämmerigen Straßen, an den Kasernen vorbei, über den Exerzierplatz rennen, die Treppe eines Mietshauses hin­aufjagen und auf eine Klingel drücken. Er hörte die zitternde Stimme seiner Mutter hinter der Tür: "Wer ist denn draußen?" Und er hörte sich, außer Atem, rufen: "Ich bin's, Mama! Ich wollte bloß mal nachsehen, ob's dir heute besser geht." Der alte Herr fuhr mit der Spitze seines schlechtgerollten Schirmes so lange über den Sand, bis die Rechnung weggewischt war. "Vielleicht verstehen Sie mich, da Sie von Maschinen nichts verstehen", sagte er. "Ich bin ein sogenannter Erfinder, Ehrenmitglied von fünf wissen­schaftlichen Akademien. Die Technik verdankt mir er­hebliche Fortschritte. Ich habe der Textilindustrie dazu verholfen, pro Tag fünfmal soviel Tuch herzustellen als früher. An meinen Maschinen haben viele Leute Geld verdient, sogar ich." Der alte Herr hustete und zupfte sich nervös am Spitzbart. "Ich erfand friedliche Maschi­nen und merkte nicht, daß es Kanonen waren. Das konstante Kapital wuchs unaufhörlich, die Produktivität der Betriebe nahm zu, aber, mein Herr, die Zahl der beschäftigten Arbeiter nahm ab. Meine Maschinen waren Kanonen, sie setzten ganze Armeen von Arbeitern außer Gefecht. Sie zertrümmerten den Existenzanspruch von Hunderttausenden. Als ich in Manchester war, sah ich, wie die Polizei auf Ausgesperrte losritt. Man schlug mit Säbeln auf ihre Köpfe. Ein kleines Mädchen wurde von einem Pferd niedergetrampelt. Und ich war daran schuld." Der alte Herr schob den steifen Hut aus der Stirn und hustete. "Als ich zurückkam, stellte mich meine Familie unter Kuratel. Es paßte ihnen nicht, daß ich Geld wegzuschenken begann und daß ich erklärte, ich wolle mit Maschinen nichts mehr zu schaffen haben. Und dann ging ich fort. Sie haben zu leben, sie wohnen in meinem Haus am Starnberger See, ich bin seit einem halben Jahr ver­schollen. Vorige Woche las ich in der Zeitung, daß meine Tochter ein Kind geboren hat. So bin ich nun Großvater geworden und laufe wie ein Strolch durch Berlin." "Alter schützt vor Klugheit nicht", sagte Fabian. "Leider sind nicht alle Erfinder so sentimental." "Ich dachte daran, nach Rußland zu fahren und mich zur Verfügung zu stellen. Aber ohne Paß darf man nicht hinüber. Und wenn man meinen Namen erfährt, hält man mich erst recht zurück. In meiner Brusttasche sind Skizzen und Berechnungen für eine Webstuhlanlage, die alle bisherigen Textilmaschinen in den Schatten stellt. Millionenwerte stecken in meiner geflickten Tasche. Aber lieber will ich verhungern." Der alte Herr schlug sich stolz an die Brust und hustete wieder. "Heute abend übernachte ich Yorckstraße 93. Kurz bevor das Tor geschlossen wird, betrete ich das Haus. Wenn der Portier fragt, wohin ich will, sage ich, ich besuche Grünbergs. Die Leute wohnen in der vierten Etage. Der Mann ist Oberpostschaffner. Ich steige hinauf. Ich gehe an der Wohnung der Familie Grünberg vorbei und klettere zum Dachboden. Dort setze ich mich auf die Treppe. Viel­leicht ist die Bodentür offen. Manchmal liegt gar eine alte Matratze in irgendeiner Ecke. Morgen früh verschwinde ich dann wieder." "Woher kennen Sie Grünbergs?" "Aus dem Adreßbuch", antwortete der Erfinder. "Ich muß doch einen Hausbewohner nennen können, falls sich der Portier nach meinen Absichten erkundigt. Am näch­sten Morgen kommt der Schwindel häufig heraus. Aber die jahrtausendealte Aufforderung, vor einem grauen Haupt aufzustehen und die Alten zu ehren, hat Früchte getragen, bis zu den Portiers hinab. Außerdem wechsle ich täglich meine Adresse. Im Winter erteilte ich an einer Privatschule Physikunterricht. Es wurde leider ein Auf­klärungskurs gegen die Wunder der Technik daraus. Das gefiel weder den Schülern noch dem Direktor. Ich zog es vor, mich ein Vierteljahr lang in Postämtern zu wärmen. Jetzt brauche ich die Postämter nicht mehr. Es ist warm. Jetzt sitze ich stundenlang auf den Bahnhöfen und schaue den Menschen zu, die fortreisen, ankommen und zurück­bleiben. Das ist alles sehr unterhaltend. Ich sitze da und bin froh, daß ich lebe." Fabian notierte seine Adresse und gab sie dem alten Mann. "Heben Sie sich den Zettel gut auf. Und wenn Sie mal ein Portier vorzeitig von der Stiege holt, kommen Sie zu mir. Sie können auf meinem Sofa schlafen." Der alte Herr las den Zettel und fragte: "Was wird Ihre Wirtin dazu sagen?" Fabian zuckte die Achseln. "Wegen meines Hustens brauchen Sie sich nicht zu ängsti­gen", meinte der Alte. "Wenn ich nachts in den dunklen Treppenhäusern sitze, huste ich überhaupt nicht. Ich nehme mich dann zusammen, um die Hausbewohner nicht zu erschrecken. Eine komische Lebensführung, was? Ich habe arm angefangen, ich war später ein reicher Mann, ich bin jetzt wieder ein armer Teufel, es spielt keine Rolle. Wie's kommt, wird's gefressen. Ob mich die Sonne auf meiner Terrasse in Leoni bescheint oder hier auf dem Kreuzberg, das ist mir so egal wie der Sonne." Der alte Herr hustete und streckte die Beine weit von sich. Fabian stand auf und sagte, er müsse weiter. "Was sind Sie eigentlich von Beruf?" fragte der Erfinder. "Arbeitslos", erwiderte Fabian und schritt einer Allee zu, die in die Straßen Berlins zurückführte. Als er am Abend, taumelig von dem vielstündigen Marsch, die Wohnung betrat, wollte er sofort zu Cornelia und ihr sein Malheur berichten. Schon die bloße Vorstel­lung von der kommenden Szene rührte ihn tief. Vielleicht hatte er auch Hunger. Frau Hohlfeld, die Wirtin, vereitelte sein Vorhaben. Sie stand im Korridor und flüsterte, unnötig geheimnisvoll, aber das war ihre Art, Labude sei da. Labude saß in Fabians Zimmer und hatte offensichtlich Kopfschmerzen. Er sei gekommen, sich zu entschuldigen, weil er gestern nacht ohne Gruß den Tisch und das Lokal verlassen habe. Faktisch wollte er etwas ganz anderes. Er wollte wissen, wie Fabian über die Sache mit der Selow dachte. Labude war ein moralischer Mensch, und es war immer schon sein Ehrgeiz gewesen, seinen Lebenslauf ohne Konzept und ohne Fehler gleich ins reine zu schreiben. Er hatte als Kind niemals Löschblätter bekritzelt. Sein Sinn für Moral war eine Konsequenz der Ordnungsliebe. Die Hamburger Enttäuschung hatte sein privates Ordnungs­system und in der Folge seine Moral lädiert. Der seelische Stundenplan war gefährdet. Dem Charakter fehlte das Geländer. Nun kam er, der die Ziele liebte und brauchte, zu Fabian, dem Fachmann der Planlosigkeit. Er hoffte, von ihm zu lernen, wie man Unruhe erfahren und trotz­dem ruhig bleiben kann. "Du siehst schlecht aus", sagte Fabian. "Ich habe die Nacht kein Auge zugemacht", gestand der Freund. "Diese Selow ist schwermütig und ordinär, beides in einem Atem. Sie kann stundenlang auf dem Diwan sitzen und Schweinereien vor sich hinmurmeln, als bete sie eine Litanei. Es ist nicht zum Anhören. Alkohol trinkt sie in solchen Mengen, daß man vom bloßen Zuschauen besoffen wird. Dann fällt ihr wieder ein, daß sie mit einem Mann allein in der Wohnung ist, und man möchte sich gegen Hagelschlag versichern. Dabei empfindet sie bestimmt nicht wie eine normale Frau. Für lesbisch halte ich sie aber auch nicht. Ich glaube, obwohl das komisch klingt, sie ist homosexuell." Fabian ließ den Freund reden. Und weil er sich über nichts wunderte, wurde der andere ruhig. "Morgen fahre ich auf zwei Tage nach Frankfurt", erzählte Labude noch, bevor er sich verabschiedete. "Rassow kommt auch hin, wir wollen dort eine Initiativgruppe einrichten. Inzwischen mag das Mädchen in der Wohnung Nummer Zwei bleiben. Ihr ist's in den letzten Monaten verdammt dreckig gegangen. Sie soll sich mal ausschlafen. Auf Wiedersehen, Jakob." Dann ging er. Fabian betrat Cornelias Zimmer. Was würde sie zu der Kündigung sagen? Aber Ruth Reiter, die Bildhauerin, saß da, sah elend aus, war gar nicht erstaunt, ihm hier zu begegnen, und resümierte, was sie der Battenberg aus­führlich schon berichtet hatte. Die kleine Kulp war in die Charité gebracht worden. Sie hatte innere Verletzungen davongetragen, und Wilhelmy, der Todeskandidat mit dem Holzbein, lag seit gestern nacht im Atelier, kriegte keine Luft, keuchte und beschäftigte sich mit dem Sterben. Cornelia hatte ein paar Tassen, Teller und Bestecke aus ihrem Koffer geholt, etwas zum Essen besorgt und den Tisch hübsch garniert. Sogar eine weiße Decke und ein Blumenstrauß waren vorrätig. Die Reiter sagte, sie gehe jetzt. Aber ehe sie es vergesse: ob denn niemand wisse, wo der junge Labude wohne. Es war klar, daß sie nur deshalb gekommen war. Sie hatte gehofft, von ihrer Schulfreundin Fabians Adresse und durch Fabian Labudes Wohnung zu erfahren, da ihr das Personal der Grunewaldvilla keine Auskunft hatte geben können. "Ich weiß, wo er wohnt", meinte Fabian. "Außerdem hat er bis vor wenigen Minu­ten nebenan in meinem Zimmer gesessen. Die Adresse darf ich nicht sagen." "Er war hier?" rief die Bildhauerin. "Auf Wiedersehen!" Sie rannte davon. "Ihr fehlt die Selow", sagte Cornelia. "Ihr fehlt die schlechte Behandlung", sagte Fabian. "Mir nicht." Sie küßte ihn und zog ihn an den Tisch, daß er ihre Vorbereitungen zum Abendessen bewundere. "Gefällt dir das?" fragte sie. "Großartig. Sehr schön. Sei übrigens so nett und sage mir immer, wenn es etwas zum Bewundern gibt. Hast du etwa ein neues Kleid an? Kenne ich diese Ohrringe schon? Trugst du auch gestern den Scheitel in der Mitte? Was mir gefällt, merke ich nicht. Du mußt mich mit der Nase darauf stoßen." "Du hast nichts als Fehler", rief sie. "Jeden einzelnen deiner Fehler könnte ich hassen, alle miteinander habe ich lieb." Während des Essens erzählte sie, daß sie morgen ihren Posten antreten solle. Sie war heute einer Reihe von Kollegen, Dramaturgen, Produktionsleitern und Direk­toren vorgestellt worden und beschrieb das merkwürdige, weitläufige Haus, in dem bis unters Dach wichtige Leute saßen, aus einer Konferenz in die andere stürzten und der Entwicklung des Tonfilms das Leben sauer machten. Fabian verschob die Mitteilung auf später. Als sie mit dem Essen fertig waren, stellte sie einen Teller mit zwei belegten Broten beiseite und sagte lächelnd: "Die eiserne Ration." "Du bist rot geworden", rief er. Sie nickte. "Manchmal merkst du also doch, wenn es etwas zum Bewundern gibt." Er schlug einen kleinen Spaziergang vor. Sie zog sich an. Er überlegte inzwischen, wie er ihr die Kündigung bei­bringen wollte. Aber der Spaziergang kam nicht zustande. Als sie vor dem Haus standen, hustete jemand hinter ihnen, und ein fremder Mann wünschte guten Abend. Es war der Erfinder mit der Pelerine. "Die Beschreibung, die Sie mir von Ihrem Sofa gegeben haben, hat mir für heute den Spaß an sämtlichen Treppen und Dachböden verdor­ben", erzählte er. "Ich habe um die Yorckstraße einen Bogen gemacht und bin hierhergekommen. Eigentlich mache ich mir Vorwürfe, daß ich Sie behellige, denn schließlich sind Sie selber arbeitslos." "Arbeitslos bist du?" fragte Cornelia. "Ist das wahr?" Der alte Herr entschuldigte sich umständlich, er habe gedacht, die junge Dame wisse Bescheid. "Heute morgen hat man mir gekündigt." Fabian ließ Cornelias Arm los. "Zum Abschied bekam ich zweihundertsiebzig Mark in die Hand gedrückt. Wenn ich meine Miete vorausbezahlt habe, bleiben uns noch hundertneunzig Mark. Gestern hätte ich darüber gelacht." Als sie den alten Herrn aufs Sofa gepackt und ihm die Stehlampe danebengestellt hatten, denn er wollte an seiner geheimen Maschine herumrechnen, wünschten sie ihm gute Nacht und gingen in Cornelias Zimmer. Fabian kam noch einmal zurück und brachte dem Gast ein paar belegte Brote. "Ich verspreche, nicht zu husten", flüsterte der Alte. "Hier darf gehustet werden. Ihr Zimmernachbar geht noch ganz anderen Vergnügungen nach, ohne daß die Wirtin, eine gewisse Frau Hohlfeld, die es früher nicht nötig gehabt hat, deshalb aus dem Bett kippte. Nur wie wir's morgen früh machen, weiß ich noch nicht. Die Wirtin findet ihre Möbel reizend, und daß ein Fremder die ganze Nacht auf ihrem Sofa biwakiert, würde sie ernstlich erzürnen. Schlafen Sie gut. Ich wecke Sie morgen früh. Bis dahin wird mir schon was Passendes einfallen." "Gute Nacht, junger Freund", bemerkte der Alte und holte seine kostbaren Papiere aus der Tasche. "Empfehlen Sie mich dem Fräulein Braut." Cornelia schien so glücklich, daß Fabian sich wunderte. Eine Stunde später fraß sie bereits die eiserne Ration auf. "Ach, ist das Leben schön!" sagte sie. "Wie denkst du über die Treue?" "Kau erst fertig, bevor du so große Worte aussprichst!" Er saß neben ihr, hielt seine Knie umschlungen und blickte auf das ausgestreckte Mädchen nieder. "Ich glaube, ich warte nur auf die Gelegenheit zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern, ich wäre dafür verdorben." "Das ist ja eine Liebeserklärung", sagte sie leise. "Wenn du jetzt heulst, zieh ich dir die Hosen stramm!" sagte er. Sie kugelte aus dem Bett, zog ihren kleinen rosafarbenen Schlüpfer an und stellte sich vor Fabian hin. Sie lächelte unter Tränen. "Ich heule", murmelte sie. "Nun halte auch du dein Versprechen." Dann bückte sie sich. Er zog sie aufs Bett. Sie sagte: "Mein Lieber, mein Lieber! Mach dir keine Sorgen." ZWÖLFTES KAPITEL Der Erfinder im Schrank Nicht arbeiten ist eine Schande Die Mutter gibt ein Gastspiel Als er am nächsten Morgen den Erfinder wecken wollte, war der schon aufgestanden, gewaschen und angezogen, saß am Tisch und rechnete. "Haben Sie gut geschlafen?" Der alte Mann war vorzüglicher Laune und schüttelte ihm die Hand. "Das geborene Schlafsofa", sagte er und streichelte die braune Sofalehne, als handle sich's um einen Pferderücken. "Muß ich jetzt verschwinden?" "Ich will Ihnen einen Vorschlag machen", meinte Fa­bian. "Während ich bade, bringt die Wirtin das Früh­stück ins Zimmer, und da darf sie Ihnen nicht begegnen, sonst gibt's Krach. Wenn sie wieder draußen ist, sind Sie mir wieder willkommen. Dann können Sie ruhig noch ein paar Stunden hierbleiben. Ich werde Sie allerdings allein lassen, weil ich mich um Arbeit kümmern muß." "Das macht nichts", erklärte der Alte. "Ich werde in den Büchern blättern, wenn Sie erlauben. Wohin gehe ich aber, während Sie baden?" "Ich dachte, in den Schrank", sagte Fabian. "Der Schrank als Wohnstätte, das war bis heute ein Privileg der Ehebruchslustspiele. Brechen wir mit der Tradition, verehrter Gastfreund! Ist Ihnen mein Vorschlag ange­nehm?" Der Erfinder öffnete den Schrank, blickte skeptisch hin­ein und fragte: "Pflegen Sie sehr lange zu baden?" Fabian beruhigte ihn, schob den zweiten Anzug, den er besaß, beiseite und hieß den Gast einsteigen. Der alte Herr nahm seine Pelerine um, setzte den Hut auf, klemmte den Schirm unter den Arm und kroch in den Schrank, der in allen Fugen krachte. "Und wenn sie mich hier findet?" "Dann ziehe ich am Ersten aus." Der Erfinder stützte sich auf den Schirm, nickte und sagte: "Nun scheren Sie sich in die Wanne!" Fabian schloß den Schrank zu, nahm vorsichtshalber den Schlüssel an sich und rief im Korridor: "Frau Hohlfeld, das Frühstück!" Als er das Badezimmer betrat, saß schon Cornelia, über und über eingeseift, in der Wanne und lachte. "Du mußt mir den Rücken abreiben", flüsterte sie. "Ich habe so entsetzlich kurze Ärmchen." "Die Reinlichkeit wird mir zum Vergnügen", bemerkte Fabian und seifte ihr den Rücken. Später vergalt sie ihm Gleiches mit Gleichem. Zum Schluß saßen sich beide im Wasser gegenüber und spielten hohen Seegang. "Schrecklich", sagte er, "in meinem Schrank steht inzwi­schen der König der Erfinder und wartet auf seine Befrei­ung. Ich muß mich beeilen." Sie kletterten aus der Wan­ne und frottierten einander, bis die Haut brannte. Dann trennten sie sich. "Auf Wiedersehen am Abend", flüsterte sie. Er küßte sie. Er verabschiedete sich von ihren Augen, von ihrem Mund und Hals, von jedem Körperteil ein­zeln. Dann lief er in sein Zimmer. Das Frühstück war eingetroffen. Er sperrte den Schrank auf. Der alte Herr stieg mit steifen Beinen heraus und hustete lange, um das Versäumte nachzuholen. "Nun der zweite Teil der Komödie", sagte Fabian, ging in den Korridor, öffnete die Flurtür, schlug sie wieder zu und rief: "Großartig, Onkel, daß du mich mal besuchst. Tritt bitte näher!" Er komplimentierte die imaginäre Person ins Zimmer und nickte dem verwunderten Erfin­der zu. "So, nun sind Sie offiziell eingetroffen. Nehmen Sie Platz. Hier ist eine zweite Tasse." "Und Ihr Onkel bin ich außerdem." "Verwandtschaftliche Beziehungen wirken auf Wirtinnen immer schmerzstillend", erläuterte Fabian. "Aber der Kaffee ist gut. Darf ich mir ein Brötchen nehmen?" Der alte Herr begann den Schrank zu verges­sen. "Wenn ich nicht unter Kuratel stünde, machte ich Sie zu meinem Universalerben, geehrter Herr Neffe", sagte er und aß mit großer Andacht. "Ihr hypothetischer Antrag ehrt mich", entgegnete Fa­bian. Sie stießen auf Drängen des neuen Onkels mit den Kaffeetassen an und riefen: "Prost!" "Ich liebe das Leben", gestand der Alte und wurde fast verlegen. "Ich liebe das Leben erst recht, seit ich arm bin. Manchmal könnte ich vor Freude in den Sonnenschein hineinbeißen, oder in die Luft, die in den Parks weht. Wissen Sie, woran das liegt? Ich denke oft an den Tod, und wer tut das heute? Niemand denkt an den Tod. Jeder läßt sich von ihm überraschen wie von einem Eisenbahn­zusammenstoß oder einer anderen unvorhergesehenen Katastrophe. So dumm sind die Menschen geworden. Ich denke täglich an ihn, denn täglich kann er winken. Und weil ich an ihn denke, liebe ich das Leben. Es ist eine herrliche Erfindung, in Erfindungen bin ich sachver­ständig." "Und die Menschen?" "Der Globu