s hat die Krätze", knurrte der Alte. "Das Leben lieben und zugleich die Menschen verachten, das geht selten gut aus", sagte Fabian und stand auf. Er verließ den Gast, der noch immer Kaffee trank, bat Frau Hohlfeld, den Onkel nicht zu stören, und ging zum Arbeitsamt seines Bezirks. Nachdem er drei Beamte absolviert hatte, das heißt nach zwei Stunden, erfuhr er, daß er fehl am Ort sei und sich an eine westliche Filiale zu wenden habe, die speziell für Büroangestellte bestimmt war. Er fuhr mit dem Autobus zum Wittenbergplatz und ging in das angegebene Lokal. Die Auskunft war falsch gewesen. Er geriet mitten in eine Schar arbeitsloser Krankenschwestern, Kindergärtnerin­nen und Stenotypistinnen und erregte, als einziger männ­licher Besucher, die größte Aufmerksamkeit. Er zog sich zurück, trat auf die Straße und fand, ein paar Hausnummern weiter, einen Laden, der wie das Geschäft eines Konsumvereins aussah, jetzt aber eben jene Filiale des Arbeitsamtes darstellte, in der er sich melden sollte. Hinter dem ehemaligen Ladentisch saß ein Beamter, davor standen, in langer Kette, erwerbslose Angestellte, legten, einer nach dem anderen, die Stempelkarte vor und erhielten den erforderlichen Kontrollvermerk. Fabian war erstaunt, wie sorgfältig diese Arbeitslosen gekleidet waren, manche konnten geradezu elegant ge­nannt werden, und wer ihnen auf dem Kurfürstendamm begegnet wäre, hätte sie fraglos für freiwillige Müßiggänger gehalten. Vermutlich verbanden die Leute den morgendlichen Gang zur Stempelstelle mit einem Bummel durch die vornehmen Geschäftsstraßen. Vor den Schau­fenstern stehen zu bleiben, kostete noch immer nichts, und wer wollte erkennen, ob sie nichts kaufen konnten, oder ob sie es nur nicht wollten? Sie trugen ihre Feiertags­anzüge, und sie taten recht daran, denn wer hatte so viele Feiertage wie sie? Ernst und auf Haltung erpicht, standen sie in Reih und Glied und warteten, bis sie ihre Stempelkarte wieder einstecken durften. Dann gingen sie hinaus, als verließen sie eine zahnärztliche Klinik. Manchmal schimpfte der Beamte und legte eine Karte beiseite. Ein Gehilfe trug sie in den Nebenraum. Dort thronte ein Inspektor und zog unregelmäßige Besucher der Kontrollstelle zur Rechenschaft. Von Zeit zu Zeit trat eine Art von Portier aus der Tür und rief einen Namen. Fabian las die Druckschriften, die an den Wänden hingen. Es war verboten, Armbinden zu tragen. Es war verboten, Umsteigebilletts der Straßenbahn von den Erstinhabern zu übernehmen und weiter zu benutzen. Es war verboten, politische Debatten hervorzurufen und sich an ihnen zu beteiligen. Es wurde mitgeteilt, wo man für dreißig Pfennige ein ausgesprochen nahrhaftes Mittagessen erhal­ten könne. Es wurde mitgeteilt, für welche Anfangsbuch­staben sich die Kontrolltage verschoben hatten. Es wurde mitgeteilt, für welche Berufszweige die Nachweisadressen und die Auskunftszeiten geändert worden waren. Es wurde mitgeteilt. Es war verboten. Es war verboten. Es wurde mitgeteilt. Das Lokal leerte sich allmählich. Fabian legte dem Beam­ten seine Papiere vor. Der Mann sagte, Propagandisten seien hier nicht üblich, und er empfehle Fabian, sich an die Stelle zu wenden, die für freie Berufe, Wissenschaftler und Künstler zuständig sei. Er nannte die Adresse. Fabian fuhr mit dem Autobus bis zum Alexanderplatz. Es war fast Mittag. Er geriet in der neuen Filiale in eine sehr gemischte Gesellschaft. Den Anschlägen entnahm er, daß es sich möglicherweise um Ärzte, Juristen, Ingenieure, Diplomlandwirte und Musiklehrer handelte. "Ich bin jetzt bei der Krisenfürsorge", sagte ein kleiner Herr. "Ich kriege 24,50 Mark. Auf jeden Kopf meiner Familie kom­men in der Woche 2,72 Mark, und auf einen Tag für einen Menschen 38 Pfennige. Ich habe es in meiner chronischen Freizeit genau ausgerechnet. Wenn das so weitergeht, fange ich nächstens an, einzubrechen." "Wenn das so leicht wäre", seufzte sein Nachbar, ein kurzsichtiger Jüngling. "Sogar Stehlen will gelernt sein. Ich habe ein Jahr im Gefängnis gesessen. Also, es gibt erfreulichere Milieus." "Es ist mir egal, wenigstens vorher", erklärte der kleine Herr erregt. "Meine Frau kann den Kindern nicht mal ein Stück Brot in die Schule mitgeben. Ich sehe mir das nicht länger mit an." "Als ob Stehlen Sinn hätte", sagte ein großer, breiter Mensch, der am Fenster lehnte. "Wenn der Kleinbürger nichts zu fressen hat, will er gleich zum Lumpenproleta­riat übergehen. Warum denken Sie nicht klassenbewußt, Sie kleine häßliche Figur? Merken Sie noch immer nicht, wo Sie hingehören? Helfen Sie die politische Revolution vorbereiten." "Bis dahin sind meine Kinder verhungert." "Wenn man Sie einsperrt, weil Sie geklaut haben, verhungern Ihre werten Herren Kinder noch rascher", sagte der Mann am Fenster. Der kurzsichtige Jüngling lachte und schaukelte entschuldigend mit der Schulter. "Meine Soh­len sind völlig zerrissen", sagte der kleine Herr. "Wenn ich jedesmal hierherlaufe, sind die Schuhe in einer Woche hin, und zum Fahren habe ich kein Geld." "Kriegen Sie keine Stiefel von der Wohlfahrt?" fragte der Kurzsichtige. "Ich habe so empfindliche Füße", erklärte der kleine Herr. "Hängen Sie sich auf!" meinte der Mann am Fenster. "Er hat einen so empfindlichen Hals", sagte Fabian. Der Jüngling hatte ein paar Münzen auf den Tisch gelegt und zählte sein Vermögen. "Die Hälfte des Geldes geht regelmäßig für Bewerbungsschreiben drauf. Porto braucht man. Rückporto braucht man. Die Zeugnisse muß ich mir jede Woche zwanzigmal abschreiben und beglaubigen lassen. Kein Mensch schickt die Papiere zurück. Nicht einmal Antwort erhält man. Die Bürofrit­zen legen sich vermutlich mit meinem Rückporto Brief­markensammlungen an." "Aber die Behörden tun, was sie tun können", sagte der Mann am Fenster. "Unter anderem haben sie Gratiszeichenkurse für Arbeitslose eingerichtet. Das ist eine wahre Wohltat, meine Herren. Erstens lernt man Äpfel und Beefsteaks malen, und zweitens wird man davon satt. Die Kunsterziehung als Nahrungsmittel." Der kleine Herr, dem jeder Humor abhanden gekommen zu sein schien, sagte bedrückt: "Das nützt mir gar nichts. Ich bin nämlich Zeichner." Dann ging ein Beamter durch den Warteraum, und Fabian erkundigte sich, vorsichtig geworden, ob er Aussicht habe, hier abgefertigt zu werden. Der Beamte fragte nach dem Ausweis des regionalen Arbeitsamts. "Sie haben sich noch nicht gemeldet? Das müssen Sie vorher erledigen." "Jetzt geh ich wieder dorthin, wo ich vor fünf Stunden die Tournee begonnen habe", sagte Fabian. Aber der Beamte war nicht mehr da. "Die Bedienung ist zwar höflich", meinte der Jüngling, "aber daß die Auskünfte immer stimmen, kann kein Mensch behaupten." Fabian fuhr mit dem Autobus zum Arbeitsamt seines Wohnbezirks. Er hatte bereits eine Mark Fahrgeld ver­braucht und blickte vor Wut nicht aus dem Fenster. Als er ankam, war das Amt geschlossen. "Zeigen Sie mal Ihre Papiere her", sagte der Portier. "Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein." Fabian gab dem Biedermann das Zettelpaket: "Aha", erklärte der Türsteher nach eingehender Lektüre. "Sie sind ja gar nichts arbeitslos." Fabian setzte sich auf einen der bronzenen Meilensteine, welche die Einfahrt zierten. "Sie haben bis zum Monatsende gewissermaßen bezahlten Urlaub. Das Geld haben Sie doch von Ihrer Firma er­halten?" Fabian nickte. "Dann kommen Sie mal in vierzehn Tagen wieder", schlug der andere vor. "Bis dahin können Sie es ja mit Bewerbungsschreiben probieren. Lesen Sie die Stellenan­gebote in den Zeitungen. Viel Sinn hat es nicht, aber man soll's nicht beschreien." "Glückliche Reise", sprach Fabian, nahm die Papiere in Empfang und begab sich in den Tiergarten, wo er ein paar Brötchen verzehren wollte. Zu guter Letzt verfütterte er sie aber an die Schwäne, die mit ihren Jungen im Neuen See spazieren fuhren. Als er gegen Abend das Zimmer betrat, fand er seine Mutter vor. Sie saß auf dem Sofa, legte ein Buch beiseite und sagte: "Da staunst du, mein Junge." Man umarmte sich. Sie fuhr fort: "Ich mußte nachsehen, was du machst. Vater paßt inzwischen auf, daß niemand ins Geschäft kommt. Ich hatte Sorgen um dich. Du beantwortest meine Briefe nicht mehr. Zehn Tage hast du nicht geschrieben. Es ließ mir keine Ruhe, Jakob." Er setzte sich neben die Mutter, streichelte ihre Hände und erklärte, es gehe ihm gut. Sie betrachtete ihn prüfend. "Komme ich dir ungelegen?" Er schüttelte den Kopf. Sie stand auf. "Die Wäsche habe ich dir schon in den Schrank geräumt. Deine Wirtin könnte mal reinemachen. Ist sie noch immer zu fein dazu? Was denkst du, was ich mitgebracht habe." Sie öffnete den Spankorb und legte Pakete auf den Tisch. "Blutwurst", sagte sie, "ein Pfund, aus der Breiten Straße, du weißt schon. Kaltes Schnitzel. Leider kann man hier nicht in die Küche, sonst würde ich's aufbraten. Schinkenspeck. Eine halbe Salamiwurst. Tante Martha läßt grüßen. Ich war gestern bei ihr im Garten. Ein paar Stück Seife aus dem Laden. Wenn das Geschäft bloß nicht so schlecht ginge. Ich glaube, die Leute waschen sich nicht mehr. Und hier eine Krawatte, gefällt sie dir?" "Du bist so gut", sagte Fabian. "Aber du sollst nicht so viel Geld für mich ausgeben." "Quatsch mit Sauce", sagte die Mutter und legte die Eßwaren auf einen Teller. "Sie mag uns ein bißchen Tee kochen, deine Gnädige. Ich hab's ihr schon erzählt. Morgen abend fahre ich zurück. Ich bin mit dem Perso­nenzug gekommen. Die Zeit verging schnell. Ein Kind war im Abteil. Wir haben viel gelacht. Was macht dein Herz? Du rauchst zu viel? Überall stehen leere Zigaretten­schachteln herum." Fabian sah der Mutter zu. Sie hantierte vor lauter Rührung wie ein Gendarm. "Ich mußte gestern daran denken", sagte er, "wie das damals war, als ich im Internat steckte, und du warst krank, und ich rannte abends davon, über den Exerzier­platz, nur um zu sehen, wie es dir ginge. Einmal, das weiß ich noch, schobst du einen Stuhl vor dir her und stütztest dich darauf, sonst hättest du mir gar nicht öffnen können." "Du hast viel durchgemacht mit deiner Mutter", sagte sie. "Man müßte sich öfter sehen. Wie geht's in der Fabrik?" "Ich habe ihnen ein Preisausschreiben vorgeschlagen. Daran können sie eine Viertelmillion verdienen." "Für zweihundertsiebzig Mark im Monat, diese Bande." Die Mutter war empört. Dann klopfte es. Frau Hohlfeld brachte den Tee, stellte das Tablett auf den Tisch und sagte: "Ihr Onkel ist schon wieder da." "Dein Onkel?" fragte die Mutter erstaunt. "Ich habe mich schon gewundert", erklärte die Wirtin. "Hoffentlich haben Sie sich dabei keinen Schaden getan, gnädige Frau", erwiderte Fabian, und Frau Hohlfeld entfernte sich gekränkt. Fabian holte den Erfinder ins Zimmer und sagte: "Mama, das ist ein alter Freund von mir. Er hat gestern auf dem Sofa geschlafen, und ich habe ihn zu meinem Onkel ernannt, um das Verfahren abzu­kürzen." Er wandte sich an den Erfinder. "Das ist meine Mutter, lieber Onkel. Die beste Frau des Jahrhunderts. Nehmen Sie Platz. Aus dem Sofa wird heute freilich nichts. Aber ich möchte Sie für morgen einladen, wenn es Ihnen recht ist." Der alte Herr setzte sich, hustete, stülpte den Hut auf den Schirmknauf und drückte Fabian ein Kuvert in die Hand. "Stecken Sie das rasch ein", bat er. "Es ist meine Maschine. Man ist hinter mir her. Meine Familie will mich wieder einmal ins Irrenhaus bringen. Sie hofft wahrscheinlich, mir dabei die Notizen abzujagen und zu Geld zu machen." Fabian steckte den Briefumschlag ein. "Man will Sie ins Irrenhaus sperren?" "Ich habe nichts dagegen", bemerkte der Alte. "Man hat seine Ruhe dort. Der Park ist wundervoll. Der leitende Arzt ist ein erträglicher Kerl, selber ein bißchen verrückt und spielt ausgezeichnet Schach. Ich war schon einmal dort. Wenn mir's zu dumm wird, rück ich wieder aus. Entschuldigen Sie, meine Dame", sagte er zu der Mutter. "Ich mache Ihnen Ungelegenheiten. Erschrecken Sie nicht, wenn man mich abholt. Es wird gleich klingeln. Ich bin soweit. Die Papiere sind gut aufgehoben. Verrückt bin ich übrigens nicht, ich bin meinen werten Angehörigen zu vernünftig. Lieber Freund, schreiben Sie mir ein paar Zeilen nach Bergendorf in die Heilanstalt." Es klingelte. "Da sind sie schon", rief der Alte. Frau Hohlfeld ließ zwei Herren eintreten. "Ich bitte, die Störung zu entschuldigen", sagte der eine und verbeugte sich. "Vollmachten, die Sie gern einsehen können, veranlassen mich, Herrn Professor Kollrepp aus Ihrem Kreise zu entfernen. Unten wartet mein Auto." "Wozu die Umstände, lieber Sanitätsrat? Sie sind dünner geworden. Ich merkte es schon gestern, daß ihr mir auf der Spur wart. Tag, Winkler. Da wollen wir mal in Ihren Wagen klettern. Wie geht's meiner lieben Familie?" Der Arzt hob die Schultern. Der Alte ging zum Schrank hinüber, öffnete ihn, sah hinein und schloß die Tür wieder. Dann trat er zu Fabian und nahm dessen Hand. "Ich danke Ihnen sehr." Er schritt zur Tür. "Sie haben einen guten Sohn", sagte er zu der alten Frau. "Das kann nicht jeder von sich behaup­ten." Dann verließ er das Zimmer. Der Arzt und der Wärter folgten ihm. Fabian und seine Mutter blickten durchs Fenster. Ein Auto stand vor dem Haus. Die drei Männer traten aus der Tür. Der Chauffeur half dem alten Erfinder in einen Staubmantel. Die Pelerine wurde ver­staut. "Ein komischer Mann", sagte die Mutter, "aber verrückt ist er nicht." Das Auto fuhr davon. "Warum sah er eigentlich in den Schrank?" "Ich habe ihn heute früh in den Schrank gesperrt, damit die Wirtin nichts merkte", sagte der Sohn. Die Mutter goß Tee ein. "Aber leichtsinnig ist es trotzdem von dir, wildfremde Menschen hier schlafen zu lassen. Wie schnell kann etwas passieren. Hoffentlich hat er deine Sachen im Schrank nicht schmutzig gemacht." Fabian schrieb sich die Adresse der Irrenanstalt auf das Kuvert und schloß es weg. Dann setzte er sich zum Essen. Nach dem Abendbrot sagte er: "Komm, mach dich fertig. Wir gehen ins Kino." Während sich die Mutter anzog, besuchte er Cornelia und erzählte ihr, daß seine Mutter da sei. Die Freundin war müde und lag schon im Bett. "Ich schlafe, bis du aus dem Kino zurück bist", meinte sie. "Siehst du dann noch einmal zu mir herein?" Er versprach es. Der Tonfilm, den Fabian und seine Mutter sahen, war ein albernes Theaterstück, das in zwei Dimensionen verlief. Abgesehen davon war nicht gespart worden, der vorge­führte Luxus überschritt jede Grenze. Man hatte, obwohl dergleichen anstandshalber nicht gezeigt wurde, den Ein­druck, unter den Betten stünden goldene Nachttöpfe. Die Mutter lachte wiederholt, und das freute Fabian so sehr, daß er mitlachte. Nach Hause gingen sie zu Fuß. Die Mutter war vergnügt. "Wenn ich früher so gesund gewesen wäre wie heute, mein Junge, dann hättest du es besser gehabt", meinte sie nach einiger Zeit. "Es war auch so nicht übel", sagte er. "Und außerdem ist es vorbei." Zu Hause stritten sie sich ein bißchen, wer im Bett und wer auf dem Sofa schlafen solle. Endlich siegte Fabian. Die Mutter bereitete das Sofa zur Nacht. Er müsse erst einmal nebenan, sagte er dann. "Dort wohnt eine junge Dame, und ich bin mit ihr befreundet." Er verabschiedete sich für alle Fälle, gab der Mutter einen Kuß und öffnete leise die Tür. Eine Minute später kam er wieder. "Sie schläft schon", flüsterte er und bestieg sein Sofa. "Früher wäre das nicht möglich gewesen", bemerkte Frau Fabian. "Das hat ihre Mutter auch gesagt", meinte der Sohn und drehte sich nach der Wand. Plötzlich, kurz vor dem Einschlafen, stand er noch einmal auf, tappte durchs dunkle Zimmer, beugte sich über das Bett und sagte wie einst: "Schlaf gut, Muttchen." "Du auch", murmelte sie und öffnete die Augen. Er konnte das nicht sehen. Er tastete sich im Finstern zum Sofa zurück. DREIZEHNTES KAPITEL Das Kaufhaus und Arthur Schopenhauer Das reziproke Bordell Die zwei Zwanzigmarkscheine Am anderen Morgen wurde er von seiner Mutter geweckt. "Aufstehen, Jakob! Du kommst zu spät ins Büro!" Er machte sich rasch fertig, trank den Kaffee im Stehen und verabschiedete sich. "Ich werde inzwischen Ordnung schaffen", sagte sie. "Sowas von Staub überall. Und an deinem Mantel ist der Henkel abgerissen. Geh ohne Mantel. Es ist ja warm draußen." Fabian lehnte an der Tür und sah zu, wie die Mutter hantierte. Ihr aus Nervosität und Ordnungsliebe addierter Fleiß wirkte anheimelnd. Das Zimmer war erfüllt davon, es erinnerte plötzlich an zu Hause. "Daß du dich ja nicht fünf Minuten hinsetzt und die Hände in den Schoß legst", warnte er. "Wäre es nicht schöner, wenn ich jetzt Zeit hätte? Wir könnten in den Tiergarten gehen. Oder ins Aquarium. Oder wir blieben hier, und du würdest mir wieder einmal davon erzählen, wie komisch ich als Kind war. Als ich die Bettstelle mit der Stecknadel zerkratzte und dich dann bei der Hand nahm, um dir das herrliche Gemälde zu zeigen. Oder als ich dir zum Geburtstag weißen und schwarzen Zwirn und ein Dutzend Nähnadeln und Druckknöpfe schenkte." "Und ein Heft Stecknadeln und weiße und schwarze Nähseide. Es ist mir noch wie heute", sagte die Mutter und strich sein Jackett glatt. "Der Anzug müßte gebügelt werden." "Und eine Frau müßte ich haben und sieben kleine ulkige Kinder", ergänzte er in weiser Voraussicht. "Scher dich an die Arbeit!" Die Mutter stemmte die Arme in die Hüften. "Arbeiten ist gesund. Übrigens, ich hole dich am Nachmittag vom Büro ab. Ich warte vor der Tür. Dann bringst du mich zum Bahnhof." "Es ist sehr schade, daß du nur einen Tag bleiben kannst." Er kam noch einmal zurück. Die Mutter sah ihn nicht an. Sie machte sich am Sofa zu schaffen. "Ich hielt es drüben nicht mehr aus", murmelte sie. "Aber nun geht's schon wieder, du mußt nur länger schlafen, und du darfst das Leben nicht zu schwer neh­men, mein Junge. Es wird dadurch nicht leichter." "Nun gehe ich aber, sonst komme ich wirklich noch zu spät", sagte er. Sie blickte ihm vom Fenster aus nach und nickte. Er winkte und lachte und lief schnell, bis das Haus nicht mehr zu sehen war. Dann verlangsamte er den Schritt und blieb schließlich stehen. Ein hübsches Versteckspiel trieb er da mit der alten Frau! Rannte auf und davon, obwohl er nichts zu tun hatte. Ließ sie da oben allein in dem fremden, häßlichen Zimmer, obwohl er wußte, daß sie jede Stunde, die sie mit ihm Zusammensein durfte, bereit war, gegen ein ganzes Jahr ihres Lebens einzutauschen. Am Nachmittag würde sie ihn vom Büro abholen. Er mußte ihr eine Komödie vorspielen. Sie durfte nicht wissen, daß er entlassen war. Der Anzug, den er trug, war der einzige, den er sich in zweiunddreißig Jahren selber gekauft hatte. Ihr Leben lang hatte sie deswegen geschuf­tet und gespart. Sollte das denn nie ein Ende nehmen? Weil es zu regnen anfing, ging er im Kaufhaus des Westens spazieren. Kaufhäuser sind, obwohl das gar nicht in ihrer Absicht liegt, außerordentlich geeignet, Leuten, die kein Geld und keinen Schirm haben, Unterhaltung zu bieten. Er höre einer Verkäuferin zu, die sehr gewandt Klavier spielte. Aus der Lebensmittelabteilung vertrieb ihn der Fischgeruch, den er seit seiner Kindheit, vielleicht auf Grund einer embryonalen Erinnerung, nicht ausstehen konnte. In der Möbeletage wollte ihm ein junger Mann unbedingt einen großen Kleiderschrank verkaufen. Das Stück sei preiswert, die Gelegenheit unwiederbringlich. Fabian entzog sich der unerhörten Zumutung und wan­derte in die Buchabteilung. Er geriet an einem der Anti­quariatstische über einen Auswahlband von Schopenhau­er, blätterte und las sich fest. Der Vorschlag dieses verbiesterten Onkels der Menschheit, Europa mit Hilfe einer indischen Heilpraxis zu veredeln, war freilich eine Kateridee, wie bisher alle positiven Vorschläge, ob sie nun von Philosophen des neunzehnten oder von Nationalöko­nomen des zwanzigsten Jahrhunderts stammten. Aber davon abgesehen war der Alte unübertrefflich. Fabian fand eine typologische Erörterung und las: "Eben dieser Unterschied ist es, den Plato durch die Ausdrücke ̉έυχολος und δύσχολος bezeichnete. Dersel­be läßt sich zurückführen auf die bei verschiedenen Menschen sehr verschiedene Empfänglichkeit für ange­nehme und unangenehme Eindrücke, infolge welcher der eine noch lacht bei dem, was den anderen fast zur Verzweiflung bringt, und zwar pflegt die Empfänglichkeit für angenehme Eindrücke desto schwächer zu sein, je stärker sie für unangenehme ist, und umgekehrt. Nach gleicher Möglichkeit des glücklichen und unglück­lichen Ausgangs einer Angelegenheit wird der δύσχολος bei dem unglücklichen sich ärgern oder grämen, bei dem glücklichen sich aber nicht freuen; der ̉έυχολος hingegen wird über den glücklichen sich freuen. Wenn dem δύσχολος von zehn Vorhaben neun gelingen, so freut er sich nicht über diese, sondern ärgert sich über das eine mißlungene: der ̉έυχολος weiß, im umgekehrten Fall, sich doch mit dem einen gelungenen zu trösten und auf­zuheitern. Wie nun aber nicht leicht ein Übel ohne alle Kompensa­tionen ist, so ergibt sich auch hier, daß die δύσχολοι, also die finsteren und ängstlichen Charaktere, im ganzen zwar imaginäre, dafür aber weniger reale Unfälle und Leiden zu überstehen haben werden als die heiteren und sorglosen; denn wer alles schwarz sieht, stets das Schlimmste befürchtet und demnach seine Vorkehrun­gen trifft, wird sich nicht so oft verrechnet haben, als wer stets den Dingen die heitere Farbe und Aussicht leiht." "Was darf ich Ihnen verkaufen?" fragte ein ältliches Fräulein. "Haben Sie baumwollene Socken?" fragte Fabian. Das ältliche Fräulein betrachtete ihn entrüstet und sagte: "Im Erdgeschoß." Fabian legte das Buch auf den Tisch und stieg eine Treppe abwärts. Hatte Schopenhauer damit recht, daß er, gerade er, jene zwei menschlichen Gattun­gen als einander ebenbürtig gegenüberstellte? Hatte nicht gerade er in seiner Psychologie behauptet: die Lustempfindung sei nichts anderes als ein seelisches Minimum an Unlust? Hatte er in diesem Satz die Anschauung der δύσχολοι wider besseres Wissen verabsolutiert? In der Abteilung für Porzellan und keramisches Kunstgewerbe war ein Auflauf. Fabian trat hinzu. Käufer, Verkäuferin­nen und Bummler umstanden ein kleines verheultes Mäd­chen, das zehn Jahre sein mochte, einen Schulranzen trug und ärmlich angezogen war. Das Kind zitterte am ganzen Körper und blickte entsetzt in die bösen, aufgeregten Gesichter der Erwachsenen ringsum. Der Abteilungschef kam. "Was ist los?" "Ich habe das freche Ding erwischt, wie es einen Aschen­becher stahl", erklärte eine alte Jungfer. "Hier!" Sie hob eine kleine bunte Schale hoch und zeigte sie dem Vorge­setzten. "Marsch zum Direktor!" kommandierte der Cutaway. "Jugend von heute", sagte eine aufgetakelte Gans. "Marsch zum Direktor!" rief eine der Verkäuferinnen und packte die Kleine an der Schulter. Das Kind weinte sehr. Fabian schob sich durch die Versammlung. "Lassen Sie auf der Stelle das Kind los!" "Erlauben Sie mal", meinte der Abteilungsleiter. "Was fällt Ihnen ein, sich einzumischen?" fragte jemand. Fabian gab der Verkäuferin einen Klaps auf die Finger, daß sie das Kind losließ, dann zog er das kleine Mädchen an seine Seite. "Warum hast du denn ausgerechnet einen Aschenbecher weggenommen?" fragte er. "Rauchst du schon Zigarren?" "Ich hatte kein Geld", sagte das Mädchen. Dann hob es sich auf die Zehenspitzen. "Mein Papa hat heute Ge­burtstag." "Einfach stehlen, weil man kein Geld hat. Es wird immer schöner", bemerkte die aufgetakelte Gans. "Schreiben Sie uns einen Kassenzettel aus", sagte Fabian zu der Verkäuferin. "Wir behalten den Aschenbecher." "Das Kind verdient aber Strafe", behauptete der Abtei­lungsleiter. Fabian trat auf den Mann zu. "Wenn Sie sich meinem Vorschlag widersetzen wollen, schmeiße ich Ihnen den ganzen Porzellanladen kaputt." Der Cutaway zuckte mit den Schultern, die Verkäuferin schrieb einen Zettel aus und brachte den Aschenbecher zur Auslieferung. Fabian ging zur Kasse, zahlte und nahm das Päckchen in Empfang. Dann begleitete er das Kind bis zum Ausgang. "Hier hast du deinen Aschenbecher", sagte er. "Aber paß gut auf, daß er nicht entzweigeht. Es war einmal ein kleiner Junge, der kaufte einen großen Koch­topf, um ihn seiner Mutter am Heiligen Abend zu schen­ken. Als es soweit war, nahm er den Topf in die Hand und segelte durch die halb offene Tür. Der Christbaum schim­merte großartig. "Da, Mutter, da hast du..." sagte er und wollte sagen: "Da hast du den Topf." Es gab aber einen Krach, der Topf zerbrach an der Tür. "Da, Mutter, da hast du den Henkel", sagte der Junge nun, denn er hatte nur noch den Henkel in der Hand." Das kleine Mädchen sah zu ihm auf, hielt das Paket mit beiden Händen fest und meinte: "Mein Aschenbecher hat ja gar keinen Henkel." Sie knickste und lief fort. Dann drehte sie sich noch einmal um, rief: "Danke schön!" und verschwand. Fabian trat auf die Straße. Es regnete nicht mehr. Er stellte sich an die Bordschwelle und sah den Autos zu. Ein Wagen hielt. Eine alte Dame, mit Paketen behangen, schob sich schwerfällig vom Sitz und wollte aussteigen. Fabian öffnete den Wagenschlag, half der Dame vom Trittbrett, zog höflich den Hut und trat zur Seite. "Da!" sagte jemand neben ihm. Es war die alte Dame. Sie drückte ihm etwas in die Hand, nickte und ging ins Kaufhaus. Fabian machte die Hand auf. Er hielt einen Groschen. Er hatte unfreiwillig einen Groschen verdient. Sah er bereits wie ein Bettler aus? Er steckte die Münze ein, trat trotzig an den Straßenrand und öffnete einen zweiten Wagen. "Da!" sagte jemand und gab ihm wieder einen Groschen. "Das wächst sich zu einem Beruf aus", dachte Fabian und hatte eine Viertel­stunde später fünfundsechzig Pfennig verdient. "Wenn jetzt Labude vorbeikäme und den literarhistorisch vorge­bildeten Autoöffner sähe", überlegte er. Aber der Gedan­ke erschreckte ihn nicht. Nur der Mutter hätte er nicht begegnen mögen und auch Cornelia nicht. "Eine milde Gabe gefällig?" fragte eine Frau und gab ihm ein größeres Geldstück. Es war Frau Irene Moll. "Ich habe dich lange Zeit beobachtet, mein Junge", sagte sie und lächelte schadenfroh. "Wir begegnen einander, wo wir können. Geht's dir so dreckig? Du warst voreilig, als du das Angebot meines Mannes ablehntest, und auch die Schlüssel hättest du behalten können. Ich wartete darauf, dich in meinem Bett wiederzusehen. Deine Zurückhal­tung macht sinnlich. Hier, hilf mir die Pakete tragen. Das Trinkgeld hast du schon." Fabian ließ sich die Pakete aufladen und folgte schweigsam. "Was kann ich für dich tun?" fragte sie nachdenklich. "Stellung eingebüßt, was? Ich bin nicht nachtragend. Auf Moll ist leider nicht mehr zu zählen. Er ist zu Schiff nach Frankreich oder sonstwohin. Und jetzt wohnt die Krimi­nalpolizei bei uns. Moll hat die seinem Notariat übergebenen Gelder unterschlagen. Seit Jahren schon, nie hätte ich ihm das zugetraut. Wir haben ihn unterschätzt." "Wovon leben Sie denn nun?" fragte Fabian. "Ich habe eine Pension eröffnet. Große Wohnungen sind jetzt billig. Die Möbel hat mir ein alter Bekannter ge­schenkt, das heißt, die Bekanntschaft ist jung, der Be­kannte ist alt. Ihm gehören nur ein paar Gucklöcher in den Türen." "Und wer wohnt in dieser übersichtlichen Pension?" "Junge Männer, mein Herr. Wohnung und Verpflegung gratis. Außerdem erhalten sie dreißig Prozent der Ein­nahmen." "Welche Einnahmen?" "Mein Verein unchristlicher Männer wird von Damen der besten Gesellschaft mit wahrer Leidenschaft frequentiert. Die Damen sind nicht immer schön und schlank, und daß sie mal jung waren, glaubt ihnen kein Mensch. Aber sie haben Geld. Und wieviel ich auch verlange, sie zahlen. Und wenn sie vorher ihre Herren Ehemänner bestehlen oder ermorden sollten, sie kommen. Meine Pensionäre verdienen. Der Möbelhändler sieht zu. Die Damen gehen ihren Passionen nach. Drei junge Leute sind mir schon abgekauft worden. Sie haben beträchtliche Einkünfte, eigene Wohnung und kleine Freundinnen nebenher, heimlich, versteht sich. Der eine, ein Ungar, wurde von der Frau eines Industriellen erworben. Er lebt wie ein Prinz. Wenn er klug ist, hat er in einem Jahr ein Vermö­gen. Dann kann er die alte Schießbudenfigur abschaffen." "Also ein Männerbordell", sagte Fabian. "So ein Institut hat heute viel mehr Existenzberechti­gung als ein Frauenhaus", erklärte Irene Moll. "Außer­dem träumte ich schon als junges Mädchen davon, Be­sitzerin eines solchen Etablissements zu werden. Ich bin sehr zufrieden. Ich habe Geld, ich engagiere fast täglich neue Kräfte für das Unternehmen, und jeder, der sich um eine Pensionärstelle bewirbt, muß bei mir eine Art Aufnahmeprüfung bestehen. Ich nehme nicht jeden! Wirkliche Talente sind selten. Naturbegabungen gibt es schon eher. Ich werde Fortbildungskurse einrichten müssen." Sie blieb stehen. "Ich bin angelangt." Die Pension lag in einem großen eleganten Mietshaus. "Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Als Pensionär kommst du nicht in Frage, mein Lieber. Du bist zu wählerisch, du bist auch schon zu alt für die Branche, meine Kundschaft bevorzugt Zwanzigjährige. Außerdem leidest du an falschem Stolz. Ich könnte dich als Sekretär verwenden. Allmählich wird eine geordnete Buchführung notwendig. Du könntest in meinen Privaträumen arbeiten, wohnen könntest du auch dort. Wie denkst du darüber?" "Hier sind die Pakete", sagte Fabian. "Ich möchte mei­nem Brechreiz nicht zuviel zumuten." In diesem Augenblick kamen zwei junge Burschen aus dem Haus. Sie waren schick angezogen, zögerten, als sie Frau Moll erblickten, und nahmen die Hüte ab. "Gaston, hast du heute Ausgang?" fragte sie. "Mackie meinte, ich soll mir mal das Auto ansehen, das ihm Nummer Sieben versprochen hat. In zwanzig Minu­ten bin ich wieder da." "Gaston, du gehst sofort auf dein Zimmer. Was ist das denn für eine Wirtschaft? Mackie geht allein. Marsch! Für drei Uhr hat sich Nummer Zwölf angemeldet. Bis dahin schläfst du, los!" Der junge Mann ging ins Haus zurück, der andere setzte, nochmals grüßend, seinen Weg fort. Frau Moll wandte sich Fabian zu. "Du willst wieder nicht?" Sie nahm ihm die Pakete ab. "Ich gebe dir eine Woche Bedenkzeit. Die Adresse weißt du nun. Überlege dir's. Verhungern ist Geschmackssache. Außerdem tätest du mir einen persönlichen Gefallen. Wirklich. Je mehr du dich sträubst, um so mehr reizt mich der Gedanke. Es eilt nicht, Zeitvertreib habe ich mittlerweile genug." Sie ging ins Haus. "Das grenzt an Zwangsläufigkeit", murmelte Fabian und kehrte um. Er aß in einer Kneipe Bockwurst mit Kartoffelsalat. Dazu las er die Zeitungen, die im Lokal aushingen, und notierte sich Stellenangebote. Dann kaufte er in einem muffigen Papierladen Schreibmaterial und verfaßte vier Bewer­bungsschreiben. Als er sie in den Kasten gesteckt hatte, fand er, es sei Zeit. Und er pilgerte, recht müde, zu der Zigarettenfabrik. "Sieht man Sie auch mal wieder?" fragte der Portier. "Ich will mich mit meiner Mutter hier treffen", antwortete Fabian. Der Portier kniff ein Auge zu. "Verlassen Sie sich ganz auf mich." Es war Fabian peinlich, daß der Mann die Komödie zu durchschauen schien. Er ging rasch ins Verwaltungsge­bäude, setzte sich in eine Fensternische und sah alle fünf Minuten auf die Uhr. Sooft er Schritte hörte, drückte er sich dicht an den Fensterrahmen. In zehn Minuten war Büroschluß. Die Angestellten hatten es eilig. Sie bemerk­ten ihn nicht. Er wollte sein Versteck gerade verlassen, als er wieder Schritte und Stimmen vernahm, die sich näherten. "Ich werde morgen in der Direktionssitzung von dem Preisausschreiben berichten, das Sie da vorbereitet haben, lieber Fischer", sagte die eine Stimme. "Der Vorschlag ist beachtlich, man wird Sie würdigen lernen." "Herr Direktor sind sehr gütig", erwiderte die andere Stimme. "Eigentlich habe ich das Projekt ja nur von Herrn Fabian geerbt." "Erbmasse ist ein Besitz wie jeder andere, Herr Fischer!" Der Ton des Direktors war unfreundlich. "Ist Ihnen mein Vorschlag unangenehm? Wäre Ihnen eine Gehaltszulage so zuwider? Nun also! Außerdem bedarf das Projekt einiger Verbesserungen. Ich werde gleich, unter Zugrun­delegung Ihres Materials, ein Expose in die Maschine diktieren. Glauben Sie mir, es wird Effekt machen, unser Preisausschreiben. Sie können jetzt nach Hause gehen. Sie haben es gut." "Meister muß sich immer plagen. Von Schiller", bemerkte Fischer. Fabian trat aus der Nische. Fischer sprang er­schrocken einen Schritt zurück. Direktor Breitkopf fin­gerte im Kragen. "Ich bin weniger überrascht als Sie", sagte Fabian und ging zur Treppe. "Da kommt er ja schon", meinte der Portier, der sich mit Fabians Mutter unterhielt. Sie hatte den Koffer abgestellt, die Reisetasche, die Handtasche und den Schirm auf den Koffer gelegt und nickte dem Sohn zu. "Hübsch fleißig gewesen?" fragte sie. Der Portier lächelte gutmütig und spazierte in seinen Verschlag. Fabian gab der Mutter die Hand. "Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit", sagte er und nahm das Gepäck auf. Als sie einen Eckplatz im Zug belegt hatten (im mittelsten Wagen, denn Frau Fabian hielt es für angebracht, die üblen Folgen eines etwaigen Eisenbahnunglücks von vornherein zu reduzieren), bummelten sie vor dem Kupee auf und ab. "Nicht so weit weg." Sie hielt den Sohn am Ärmel. "Wie leicht wird ein Koffer gestohlen. Kaum dreht man sich um, fort ist er." Schließlich wurde Fabian mißtrauischer als die Mutter und spähte unentwegt durchs Fenster zum Gepäcknetz. "Nun kann's wieder abgehen", sagte sie. "Der Henkel vom Mantel ist angenäht. Im Zimmer sieht's wieder menschlich aus. Frau Hohlfeld ist beleidigt. Darauf kann man aber keine Rücksicht nehmen." Fabian lief zu einem der fahrbaren Büfetts und brachte eine Schinkensemmel, eine Packung Keks und zwei Apfelsinen. "Junge, bist du leichtsinnig", sagte sie. Er lachte, kletterte ins Abteil, schob ihr heimlich einen Zwanzigmarkschein in die Handtasche und kletterte wieder auf den Bahnsteig. "Wann wirst du endlich mal wieder nach Hause kommen?" fragte sie. "Ich koche alle deine Lieblingsgerichte, jeden Tag ein anderes, und wir gehen zu Tante Martha in den Garten. Im Geschäft ist ja so wenig los." "Ich komme, sobald ich kann", versicherte er. Als sie aus dem Kupeefenster blickte, meinte sie: "Bleib recht gesund, Jakob. Und wenn's hier nicht vorwärts gehen will, pack dein Bündel und komm heim." Er nickte. Sie sahen einander an und lächelten, wie man auf Bahnsteigen zu lachen pflegt, ähnlich wie beim Foto­grafen, nur daß weit und breit kein Fotograf zu sehen ist. "Laß dir's gutgehen", flüsterte er. "Es war schön, daß du da warst." Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öffnete ihn. Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus, und ein Zettel. "Wenig mit Liebe, Deine Mutter", war daraufge­schrieben. In der unteren Ecke war noch etwas zu lesen. "Iß das Schnitzel zuerst. Die Wurst hält sich in dem Pergamentpapier mehrere Tage." Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter im Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzig­markschein finden, den er ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch gesehen war das Ergebnis gleich Null. Denn nun besaßen beide dieselbe Summe wie vorher. Aber gute Taten lassen sich nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft anders als die arithmetische. Am selben Abend bat ihn Cornelia um hundert Mark. Im Korridor des Filmkonzerns sei ihr Makart begegnet. Er war wegen Verleihverhandlungen ins Gebäude der Kon­kurrenz gekommen. Er hatte sie angesprochen. Sie sei der Typ, den er schon lange suche. Für den nächsten Film seiner Firma, versteht sich. Sie solle ihn morgen im Büro aufsuchen. Der Produktionsleiter und der Regisseur wä­ren auch da. Vielleicht probiere man's mal mit ihr. "Ich muß mir über Mittag einen neuen Jumper und einen Hut besorgen, Fabian. Ich weiß, du hast fast gar kein Geld mehr. Aber ich kann mir diese Chance nicht entgehen lassen. Denke dir, wenn ich jetzt Filmschau