ächtersgattin. Das Glücksrad surrte. Fabian ging wei­ter. "Hippodrom und Tanz" stand über einem großen Zelt. 20 Pfennig Entree. Er ging hinein. Das Lokal bestand aus zwei Kreisen. Der eine war überhöht, wie ein Pfahlbau stand er im Zelt, dort oben wurde getanzt. In der Mitte saß eine Blechkapelle und spielte, als hätten die Musiker miteinander Streit gehabt. Die Mädchen lehnten am Geländer. Die jungen Männer griffen zu. Man machte keine Umstände. Der andere Kreis war eine Sandmanege, in der, zu den Klängen der Kapelle, drei ausrangierte Gäule vor sich hintrabten. Sie wurden von einem zylin­dergeschmückten Stallmeister, der die Peitsche schwang und wiederholt "Terrab!" schrie, vom Einschlafen abge­halten. Auf einem kleinen einäugigen Schimmel saß eine Frau im Herrensitz. Der Rock war hoch über die Knie gerutscht. Sie trabte deutsch und lachte, sooft sie auf den Sattel fiel. Fabian setzte sich neben die Manege und trank ein Bier. Die Reiterin zog jedesmal, wenn sie an ihm vorbeikam, den Rock herunter. Die Beschäftigung war sinnlos. Der Rock rutschte immer wieder hoch. Als sie zum vierten Male Fabians Tisch passierte, lächelte sie ein bißchen und ließ den Rock oben. In der fünften Runde blieb der Schimmel vor dem Tisch stehen und glotzte mit dem blinden Auge ins Bierglas. "Da gibt's keinen Zucker", sagte die Frau und sah Fabian ins Gesicht. Der Stallmei­ster knallte mit der Peitsche, und der kleine Schimmel schob weiter. Kaum war die Frau vom Pferd gestiegen, setzte sie sich betont unabsichtlich an den Nebentisch, schräg vor Fabian, so daß er ihre körperlichen Vorzüge nicht übersehen konnte. Sein Blick blieb auf der Figur haften, und da erwachte sein Schmerz aus der Narkose. Wo war Cornelia? War ihr die Umarmung, in der sie jetzt lag, zuwider? Empfand sie, während er hier saß, in einem fremden Bett Vergnügen? Er sprang auf. Der Stuhl fiel um. Die Frau am Nebentisch blickte ihm wieder ins Gesicht, ihre Augen wurden groß, der Mund krümmte und öffnete sich leicht, die Zungenspitze fuhr feucht an der Oberlippe entlang. "Kommen Sie mit?" fragte er unwillig. Sie kam mit, und sie gingen, ohne viel zu reden, ins "Theater". Das war eine elende Bretterbaracke. "Auftreten der renommierten Rheingoldsänger. Rauchen erlaubt. Zu den Abendvor­stellungen haben Kinder keinen Anspruch auf Sitzplätze." Die Bude war halbvoll. Die Zuschauer hatten die Hüte auf, rauchten Zigaretten und ließen sich im Dunkel von der unüberbietbar albernen und verlogenen Romantik, die ihnen für dreißig Pfennige vorgesetzt wurde, bis zu Tränen rühren. Sie hatten mehr Mitleid mit dem ver­kitschten Kulissenzauber als mit ihrer eigenen Not. Fabian legte den Arm um die fremde Frau. Sie schmiegte sich dicht an ihn und atmete schwer, damit er es höre. Das Stück war tieftraurig. Ein flotter Student - Direktor Blasemann, grauhaarig und über fünfzig Jahre alt, spielte die Rolle persönlich - kam jeden Morgen betrunken nach Hause. Das lag an dem verdammten Sekt. Er sang Studen­tenlieder, bestellte einen sauren Hering, wurde von der Portiersfrau abgekanzelt und schenkte einer alten gichtkranken Hofsängerin, daß sie das Singen lasse, seinen letzten Taler. Doch das Schicksal schritt, so schnell es konnte. Die alte Hofsängerin war - wer hätte sie sonst sein sollen? - niemand anders als die Mutter des fünfzigjährigen Stu­denten! Zwölf Jahre hatte er sie nicht gesehen, erhielt allmonatlich Geld von ihr und glaubte, sie sei noch immer, wie einst, Hofopernsängerin. Natürlich erkann­te er sie nicht. Aber Mutteraugen sehen schärfer, sie wußte sofort: der oder keiner. Jedoch, die Zuspitzung des Dramas verzögerte sich. Eine Liebesaffäre brach herein. Der Student liebte und wurde geliebt, letzteres geschah durch Fräulein Martin, jene bildhübsche Nähe­rin, die gegenüber wohnte, die Nähmaschine trat und wie eine Lerche sang. Ellen Martin, die singende Ler­che, wog gut zwei Zentner. Sie hüpfte, daß sich die Bühne bog, aus der Kulisse und sang mit Direktor Bla­semann, dem Studenten, Couplets. Der Anfang des er­folgreichsten Duetts lautete: "Schatzi du, ach Schatzi mein, sollst mein ein und alles sein!" Das junge Paar, das zusammen an die hundert Lenze zählen mochte, schob sich wuchtig auf dem Hof, den die Szene darstellen sollte, hin und her; dann versprach er ihr die Ehe, sie aber wurde traurig, weil er alte Sängerinnen vom Hofe zu treiben pflege. Dann sangen sie das nächste Couplet. Die Leute klatschten Beifall. Die Frau, um die Fabian seine Hand liegen hatte, machte eine leichte Drehung, sie gab ihm die Brust. "Ach, ist das schön", sagte sie. Vermutlich meinte sie das Stück. Im Zuschauerraum herrschte wieder feierliche Stille. Die alte, gebeugte, gichtkranke Hofsängerin, die den Sohn Medizin studieren und einem feudalen Korps angehören ließ, wackelte aus der Kulisse, erreichte den Hof mit Müh und Not, hob den Zeigefinger, der Pianist ge­horchte, und ein rührseliges Mutterlied war im Entste­hen begriffen. "Gehen wir", sagte Fabian und ließ den Büstenhalter der fremden Frau los. "Schon?" fragte sie erstaunt, aber sie folgte ihm. "Hier wohne ich", erklärte sie vor einem großen Haus in der Müllerstraße. Sie schloß auf. Er sagte: "Ich komme mit hinauf." Sie sträubte sich, es klang nicht überzeugend. Er drückte sie in den Hausflur. "Was werden bloß meine Wirtsleute sagen? Nein, sind Sie stürmisch. Aber recht leise, ja?" An der Tür stand: Hetzer. "Wieso sind zwei Betten in deinem Zimmer?" fragte er. "Pst, man kann uns hören", flüsterte sie. "Die Wirtsleute haben keinen Platz zum Abstellen." Er zog sich aus. "Mach nicht so viel Umstände", sagte er. Sie schien Koketterie für unerläßlich zu halten und zierte sich wie eine späte Jungfrau. Schließlich lagen sie neben­einander. Sie löschte das Licht, und erst jetzt entkleidete sie sich völlig. "Einen Moment", flüsterte sie, "nicht böse sein." Sie knipste eine Taschenlampe an, breitete ein Tuch über sein Gesicht und untersuchte ihn im Schein der Taschenlampe wie ein alter Kassenarzt. "Entschuldigen Sie, man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein", erklärte sie anschließend. Und nun stand nichts mehr im Wege. "Ich bin Verkäuferin in einem Handschuhgeschäft", be­richtete sie etwas später. "Willst du bis morgen früh bleiben?" fragte sie nach einer weiteren halben Stunde. Er nickte. Sie verschwand in der Küche, er hörte, wie sie spülte. Sie brachte warmes Seifenwasser, wusch ihn sorg­fältig, mit hausfraulichem Eifer, und stieg wieder ins Bett. "Stört es deine Wirtsleute nicht, wenn du in der Küche Wasser wärmst?" fragte er. "Laß das Licht brennen!" Sie erzählte belanglose Dinge, fragte, wo er wohne, und nannte ihn "Schatz". Er musterte die Zimmereinrichtung. Außer den Betten war noch ein leidenschaftlich ge­schwungenes Plüschsofa anwesend, ferner ein Waschtisch mit Marmorplatte, ein scheußlicher Farbendruck, wo­selbst eine junge mollige Frau, im Nachthemd auf einem Eisbärenfell hockend, mit einem rosigen Baby spielte, und ein Schrank mit einem Türspiegel, der schlecht funktio­nierte. "Wo ist Cornelia?" dachte er und fiel wieder über die nackte, erschrockene Verkäuferin her. "Man sollte Angst vor dir haben", flüsterte sie danach. "Willst du mich umbringen? Aber es ist wunderbar." Sie kniete sich neben ihn, betrachtete aus geweiteten Augen sein gleichgültiges Gesicht und küßte ihn. Als sie todmüde eingeschlafen war, lag er noch immer wach, allein in einem fremden Zimmer, blickte ange­spannt ins Dunkel und dachte: "Cornelia, was haben wir getan?" SIEBZEHNTES KAPITEL Kalbsleber, aber ohne Flechsen Er sagt ihr die Meinung Ein Reisender verliert die Geduld "Ich habe gelogen", sagte die Frau am anderen Morgen. "Ich gehe gar nicht ins Geschäft. Und die Wohnung gehört mir. Und wir sind ganz allein. Komm in die Küche." Sie goß Kaffee ein, strich Brötchen, klopfte ihm zärtlich auf die Wange, band die Schürze ab und setzte sich zu ihm an den Küchentisch. "Schmeckt's?" fragte sie munter, obwohl er nicht aß. "Blaß siehst du aus, Schatz. Es ist aber auch kein Wunder. Greif tüchtig zu, damit du wieder groß und stark wirst." Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und spitzte wie ein Backfisch die Lippen. "Du hattest Angst, ich könnte dir das Sofa stehlen oder dir den Bauch aufschlitzen?" fragte Fabian. "Und wie kom­men die zwei Betten in dein Schlafzimmer?" "Ich bin verheiratet", sagte sie. "Mein Mann reist für eine Trikotagenfirma. Augenblicklich ist er im Rheinland. Dann fährt er nach Württemberg. Er ist mindestens noch zehn Tage unterwegs. Willst du so lange bleiben?" Er trank Kaffee und gab keine Antwort. "Ich brauche wen", erklärte sie heftig, als hätte ihr jemand widersprochen. "Nie ist er da, und wenn er da ist, lohnt sich's auch nicht. Bleib die zehn Tage bei mir. Mach dir's bequem. Ich koche gut. Geld habe ich auch. Was willst du heute mittag essen?" Sie begann zu wirtschaften und blickte ängstlich zu ihm hin. "Ißt du gern Kalbsleber mit Bratkartoffeln? Warum antwortest du denn gar nicht?" "Habt ihr Telefon?" fragte er. "Nein", sagte sie. "Willst du fort? Bleib doch. Es war so schön. Es war so schön wie noch nie." Sie trocknete sich die Hände und fuhr streichelnd über sein Haar. "Ich bleibe ja", meinte er. "Aber ich muß telefonieren." Sie sagte, telefonieren könne man beim Fleischer Rarisch, und ob er ein halbes Pfund frische Kalbsleber mitbringen wolle, ohne Flechsen. Dann gab sie ihm Geld, öffnete vorsichtig die Vorsaaltür, und weil die Treppe leer war, durfte er aus der Wohnung. "Ein halbes Pfund frische Kalbsleber, aber ohne Flech­sen", sagte er im Fleischerladen. Dann rief er, während man ihn bediente, Zacharias an. Das Telefon war fettig. "Nein", erklärte Zacharias, "mir ist nichts eingefallen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, das wäre doch gelacht, mein Lieber. Wissen Sie was, kommen Sie mor­gen wieder mal vorbei. Es geht manchmal schnell. Schlimmstenfalls plaudern wir ein bißchen. Ist es Ihnen recht? Wiedersehen." Fabian nahm die Kalbsleber in Empfang. Das Papier blutete. Er zahlte und trug das Fleischpaket vorsichtig ins Haus. Weil die Nachbarin die Türklinke putzte, stieg er bis zur vierten Etage hinauf. Nach einigen Minuten kam er wieder herunter. Die Frau, mit der er die Nacht zusam­mengewesen war, öffnete, ohne daß er zu klingeln brauchte, und zog ihn in die Wohnung. "Gott sei Dank", flüsterte sie. "Ich dachte schon, die Klatschtante würde uns erwischen. Setz dich ins Wohn­zimmer, Schatz. Willst du Zeitung lesen? Ich räume inzwischen auf." Er legte das Geld, das er zurückbekommen hatte, auf den Tisch, setzte sich ins Wohnzimmer und las die Zeitung. Er hörte die Frau singen. Nach einer Weile brachte sie ihm Zigaretten und Kirschwasser und blickte ihm über die Schulter. "Um eins wird gegessen", sagte sie. "Hoffentlich fühlst du dich recht behaglich." Dann verschwand sie wieder und sang draußen weiter. Er las den Polizeibericht über den Krawall in der Reinickendorfer Straße. Der Wachtmeister, der den Messerstich erhalten hatte, war im Krankenhaus gestorben. Von den Demonstranten waren drei schwer verletzt worden. Eini­ge andere hatte man verhaftet. Die Redaktion schrieb von unverantwortlichen Elementen, welche die Arbeitslosen immer wieder aufzuwiegeln versuchten, und von der bedeutenden Aufgabe, die der Polizei zufalle. Es gehe nicht an, obwohl es von gewissen Kreisen ununterbro­chen versucht werde, den Etat für die Schutzpolizei zu senken. Vorkommnisse wie das gestrige führten, hieß es, so recht vor Augen, wie notwendig es sei, prophylaktisch zu denken und zu handeln. Fabian sah sich in dem kleinen Zimmer um. Die Möbel waren, wo sich dazu die Gelegenheit bot, verschnörkelt. Auf dem Vertiko standen drei Leitzordner. Auf dem Tisch prangte ein bunter Glasteller, der schlug Wellen und enthielt Ansichtskarten. Fabian nahm die oberste Karte. Sie zeigte den Kölner Dom, und er dachte an das Zigaret­tenplakat. "Liebe Mucki", las er, "geht's dir gut, und reicht das Geld? Ich habe ganz hübsche Aufträge gemacht, morgen geht's nach Düsseldorf. Gruß und Kuß, Kurt." Er legte die Karte auf den Teller zurück und trank ein Glas Kirschwasser. Mittags aß er, um Mucki nicht zu verstimmen, den Teller leer. Sie war froh darüber, als habe ein Hund den Napf saubergefressen. Hinterher gab es Kaffee. "Willst du mir gar nichts von dir erzählen, Schatz?" fragte sie. "Nein", sagte er und ging ins Wohnzimmer. Sie lief hinter ihm her. Er stand am Fenster. "Komm aufs Sofa", bat sie. "Man könnte dich sehen. Und sei nicht böse." Er setzte sich aufs Sofa. Sie brachte den Kaffee herein, nahm neben Fabian Platz und knöpfte die Bluse auf. "Jetzt kommt der Nachtisch", sagte sie. "Aber nicht wieder beißen." Gegen drei Uhr ging er. "Wirst du auch bestimmt wiederkommen?" Sie stand vor ihm, brachte ihren Rock und die Strümpfe in Ordnung und sah ihn bittend an. "Schwöre, daß du wieder­kommst." "Wahrscheinlich komme ich", sagte er. "Versprechen kann ich es nicht." "Ich warte mit dem Abendbrot", erklärte sie, dann öffnete sie die Tür. "Rasch!" flüsterte sie. "Die Luft ist rein." Er sprang die Treppe hinunter. "Die Luft ist rein", dachte er und empfand Abscheu vor dem Haus, das er verließ. Er fuhr zum Großen Stern, durchquerte den Tiergarten bis zum Brandenburger Tor, verlor sich wieder in den Anlagen, die Rhododendren blühten. Er geriet in die Siegesallee. Die Dynastie der Hohenzollern und der Bildhauer Begas schienen unverwüstlich. Vor dem Café Schottenhaml machte Fabian kehrt. Was ließ sich hier noch besprechen ? Es war zu spät zum Reden. Er ging weiter, kam auf die Potsdamer Straße, stand unentschlossen auf dem Potsdamer Platz, lief die Bellevuestraße hinauf und befand sich wieder vor dem Café. Und jetzt trat er ein. Cornelia saß da, als warte sie seit Jahren, und winkte ein wenig. Er setzte sich. Sie nahm seine Hand. "Ich glaubte nicht, daß du kämst", sagte sie schüchtern. Er schwieg und sah an ihr vorbei. "Es war nicht recht von mir, nicht wahr?" flüsterte sie und senkte den Kopf. Tränen fielen in ihren Kaffee. Sie schob die Tasse beiseite und trocknete sich die Augen. Er blickte vom Tisch fort. Die Wände zwischen den zwei Treppen, die, barock gedrechselt, in das Obergeschoß führten, waren mit vielen bunten Papageien und Kolibris bevölkert. Die Vögel waren aus Glas. Sie hockten auf gläsernen Lianen und Zweigen und warteten auf den Abend und seine Lampen, damit der zerbrechliche Ur­wald zu leuchten beginne. Cornelia flüsterte: "Warum siehst du mich nicht an?" Dann preßte sie das Taschentuch vor den Mund. Und ihr Weinen klang, als wimmere weit entfernt ein verzweifeltes Kind. Das Lokal war leer. Die Gäste saßen draußen vor dem Haus, unter großen roten Schirmen. Nur ein Kellner stand in der Nähe, Fabian blickte ihr ins Gesicht. Ihre Augen zitterten vor Aufregung. "Sprich endlich ein Wort", sagte sie mit rauher Stimme. Sein Mund war ausgetrocknet. Die Kehle war zusammengepreßt. Er schluckte mühsam. "Sprich ein Wort", wiederholte sie ganz leise und faltete auf dem Tischtuch, zwischen dem Nickelgeschirr, die Hände. Er aß und schwieg. "Was soll bloß aus mir werden?" flüsterte sie, als spreche sie zu sich selber und er sei gar nicht mehr da. "Was soll bloß aus mir werden?" "Eine unglückliche Frau, der es gutgeht", sagte er viel zu laut. "Überrascht dich das? Kamst du nicht deswegen nach Berlin? Hier wird getauscht. Wer haben will, muß hingeben, was er hat." Er wartete eine Weile, doch sie schwieg. Sie nahm die Puderdose aus der Tasche, ließ sie dann aber ungeöffnet liegen. Er hatte sich wieder in der Gewalt. Sein leicht ermüdbares Gefühl gab Ruhe und wich dem Drang, Ordnung zu schaffen. Er blickte auf das, was geschehen war, wie auf ein verwüstetes Zimmer, und begann, kalt und kleinlich, aufzuräumen. "Du kamst mit Absichten hierher, die sich rascher erfüllt haben, als zu hoffen stand. Du hast einen einflußreichen Menschen gefunden, der dich finanziert. Er finanziert dich nicht nur, er gibt dir eine berufliche Chance. Ich bezweifle nicht, daß du Erfolg haben wirst. Dadurch verdient er das Geld zurück, das er gewissermaßen in dich hineingesteckt hat; dadurch wirst du auch selber Geld verdienen und eines Tages sagen können: Mein Herr, wir sind quitt." Fabian wunderte sich. Er erschrak vor sich selber und dachte: Es fehlt nur, daß ich die Interpunktion mitspreche. Cornelia betrachtete ihn, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Dann klappte sie die Puderdose auf, musterte sich in dem kleinen runden Spiegel und fuhr mit der weißen stäubenden Quaste über ihr verweintes, kindlich erstauntes Ge­sicht. Sie nickte, er möge fortfahren. "Was dann werden wird", sagte er, "was dann werden wird, wenn du Makart nicht mehr brauchst, läßt sich nicht vorher sagen, es steht auch nicht zur Debatte. Du wirst arbeiten, und dann bleibt von einer Frau nicht viel übrig. Der Erfolg wird sich steigern, der Ehrgeiz wird wachsen, die Absturzgefahr nimmt zu, je höher man steigt. Wahr­scheinlich wird er nicht der einzige bleiben, dem du dich ausliefern wirst. Es findet sich immer wieder ein Mann, der einer Frau den Weg versperrt und mit dem sie sich langlegen muß, wenn sie über ihn hinweg will. Du wirst dich daran gewöhnen, den Präzedenzfall hast du ja seit gestern hinter dir." "Ich weine schon, und er schlägt mich noch", dachte sie verwundert. "Aber die Zukunft ist nicht mein Thema", sagte er und machte eine abschließende Handbewegung, als erdroßle er den Gedanken. "Zu besprechen bleibt die Vergangen­heit. Du fragtest gestern nicht, als du gingst. Warum interessiert dich nun meine Antwort? Du wußtest, daß ich dich los sein wollte. Du wußtest, daß ich darauf brannte, eine Geliebte zu haben, die in anderen Betten das Geld verdient, das ich nicht besitze. Wenn du recht hattest, war ich ein Halunke. Wenn ich kein Halunke war, war alles, was du tatest, falsch." "Es war alles falsch", sagte sie und stand auf. "Leb wohl, Fabian." Er folgte ihr und war mit sich sehr zufrieden. Er kränk­te sie, weil er ein Recht dazu hatte, aber war das ein Grund? Auf der Tiergartenstraße holte er sie ein. Sie gingen schweigend und taten sich und einander leid. Er dachte noch: "Wenn sie jetzt fragt, soll ich zu dir zu­rückkommen, was werde ich antworten? Ich habe noch sechsundfünfzig Mark in der Tasche." "Es war so schrecklich gestern", sagte sie plötzlich. "Er war so widerwärtig! Was soll erst daraus werden, wenn du mich nicht mehr magst? Nun brauchten wir keine Sorgen zu haben, und sie sind größer als zuvor. Was fange ich an, wenn ich weiß, du willst mich nicht mehr sehen?" Er faßte ihren Arm. "Vor allem, nimm dich zusammen. Das Rezept ist alt, aber brauchbar. Du hast dir den Kopf abgehackt, gib acht, daß es wenigstens nicht um­sonst war. Und entschuldige, daß ich dich vorhin so gekränkt habe." "Ja, ja." Sie war noch traurig und schon wieder froh. "Und darf ich morgen nachmittag zu dir kommen?" "Es ist gut", sagte er. Da umarmte sie ihn mitten auf der Straße, küßte ihn, flüsterte: "Ich danke dir", und rannte aufschluchzend davon. Er blieb stehen. Ein Spaziergänger rief: "Sie können lachen!" Fabian wischte mit der Hand über den Mund und ekelte sich. Was hatten Cornelias Lippen inzwi­schen berührt? Half es ihm, daß sie sich die Zähne geputzt hatte? War seinem Abscheu mit Hygiene beizu­kommen? Er überschritt die Straße und trat in den Park. Moral war die beste Körperpflege. Wasserstoffsuperoxyd zum Gurgeln genügte nicht. Und erst jetzt fiel ihm ein, wo er in der vergangenen Nacht gewesen war. Er wollte nicht in die Müllerstraße zurück. Aber der bloße Gedanke an sein eigenes Zimmer, an die Neugier der Witwe Hohlfeld, an Cornelias leere Stube, an die ganze einsame Nacht, die ihn erwartete, während ihn Cornelia zum zweiten Mal betrog, trieb ihn durch die Straßen, dem Norden zu, in die Müllerstraße hinein, in jenes Haus und zu der Frau, die er nicht wiedersehen wollte. Sie strahlte. Sie war stolz, daß er wiederkam, und froh, daß sie ihn wieder hatte. "So ist's recht", sagte sie zur Begrüßung. "Komm, du wirst Hunger haben." Sie hatte im Wohnzimmer gedeckt. "Wir essen sonst in der Küche", sagte sie. "Aber wozu hat man seine Drei­zimmerwohnung?" Es gab Wurst und Schinken und Camembert. Plötzlich legte sie Messer und Gabel beiseite, murmelte "Hokuspokus!" und brachte eine Flasche Mo­sel zum Vorschein. Sie schenkte ein und stieß mit ihm an. "Auf unser Kind!" rief sie. "Wie du soll es sein, und wenn's kein Junge wird, mußt du strafexerzieren!" Sie trank das Glas leer, goß wieder ein und hatte glänzende Augen. "So ein Glück, daß ich dich traf", sagte sie und trank weiter. "Wein regt mich schrecklich auf." Sie fiel ihm um den Hals. Da klapperten draußen die Schlüssel. Schritte kamen den Korridor entlang. Die Tür ging auf. Ein mittelgroßer, untersetzter Mann trat ins Zimmer. Die Frau sprang auf. Sein Gesicht wurde düster. "Wünsche guten Appetit allerseits", sagte er und näherte sich der Frau. Sie schob sich rückwärts, und ehe er sie erreicht hatte, riß sie die Tür zum Schlafzimmer auf, sprang hinüber, schlug die Tür zu und riegelte ab. Der Mann rief: "Du kriegst schon noch den Hintern voll!" Er drehte sich zu Fabian herum, der sich verlegen erhoben hatte: "Behalten Sie bitte Platz. Ich bin der Gatte." Sie saßen einander eine Weile gegenüber, ohne zu sprechen. Dann nahm der Mann die Moselflasche in die Hand, betrachtete umständlich das Etikett und schenkte sich ein Glas voll. Er trank und meinte hinterher: "Die Züge sind um diese Zeit schrecklich überfüllt." Fabian nickte zustimmend. "Aber der Wein ist gut. Hat er Ihnen geschmeckt?" fragte der Mann. "Ich mache mir nicht viel aus Weißwein", erklärte Fabian und stand auf. Der andere folgte ihm. "Sie wollen schon gehen?" fragte er. "Ich möchte nicht länger stören", erwiderte Fabian. Plötzlich sprang ihm der Reisende an den Hals und würgte ihn. Fabian gab ihm einen Faustschlag in die Zähne. Der Mann ließ los, setzte sich und hielt die Backe. "Entschuldigen Sie vielmals", sagte Fabian betrübt. Der Mann winkte ab, spuckte rot ins Taschentuch und war vollauf mit sich beschäftigt. Fabian verließ die Wohnung. Wo sollte er jetzt noch hingehen? Er fuhr nach Hause. ACHTZEHNTES KAPITEL Er geht aus Verzweiflung nach Hause Was mag die Polizei wollen ? Ein trauriger Anblick Obwohl Fabian sehr leise aufschloß, empfing ihn Frau Hohlfeld im Korridor. Sie trug, weil es Abend war, einen Morgenrock und war außerordentlich aufgeregt. "Ich habe meine Tür offengelassen, um Sie zu hören", sagte sie. "Die Kriminalpolizei war da. Man wollte Sie holen." "Die Kriminalpolizei?" fragte er überrascht. "Wann war sie da?" "Vor drei Stunden und vor einer Stunde wieder. Sie sollen sich unverzüglich melden. Ich habe natürlich erzählt, daß Sie in der vorigen Nacht nicht zu Hause waren und daß Fräulein Battenberg gestern, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer geräumt hat und verschwunden ist." Die Witwe wollte einen Schritt näherkommen, statt dessen trat sie einen Schritt zurück. "Es ist furchtbar", flüsterte sie ergriffen, "was haben Sie da angestellt?" "Liebe Frau Hohlfeld", antwortete er. "Ihre Phantasie hat die Motten. Das möchte Ihnen passen, ein kleines Liebes­drama mit letalem Ausgang, wie? Frau Hohlfeld als Zeugin in Trauerkleidung, Ihre beiden Untermieter in allen Zeitungen abgebildet, der Mörder Fabian auf der Anklagebank, bilden Sie sich keine Schwachheiten ein!" "Nun", sagte sie, "mich geht es ja nichts an." Seine Verstocktheit kränkte sie tief. Zwei Jahre wohnte dieser Mensch bei ihr, hatte sie ihn nicht wie ihren Sohn gehegt und gepflegt? Und jetzt hielt er es nicht einmal für nötig, sein Herz auszuschütten. "Wo soll ich mich melden?" fragte er. Sie gab ihm einen Zettel. Er las die Adresse. "Da haben wir's", sagte sie triumphierend. "Warum sind Sie denn so blaß geworden?" Er riß die Tür auf und jagte die Treppe hinunter. Am Nürnberger Platz hielt er ein Auto an, nannte die Adresse und sagte: "Fahren Sie, so schnell Sie können!" Der Wagen war alt und gebrechlich und holperte sogar auf dem Asphalt. Fabian zerrte das Schiebefenster auf: "Fahren Sie doch schneller!" rief er. Dann versuchte er zu rauchen, aber seine Hand zitterte, und der Wind blies ihm die brennenden Streichhölzer aus. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Von Zeit zu Zeit öffnete er sie und sah nach, wo sie waren. Tiergarten, Tiergarten, Tiergar­ten, Brandenburger Tor. Unter den Linden. An jeder Straßenecke mußten sie halten. An jeder Verkehrsampel glühte, kurz bevor sie anlangten, das rote Licht auf. Ihm war, als führen sie durch zähen, dickflüssigen Leim. Hinter der Friedrichstraße wurde es besser. Universität, Staatsoper, Dom und Schloß lagen endlich im Rücken. Das Auto bog rechts ein. Es hielt. Fabian zahlte und lief gehetzt ins Haus. Ein fremder Mann öffnete. Fabian nannte seinen Namen. "Endlich", sagte der fremde Mann. "Ich bin Kriminalkommissar Donath. Wir kommen ohne Sie nicht weiter." Im ersten Zimmer saßen fünf junge Damen, ein Polizist stand dabei. Fabian erkannte die Selow und die Bildhauerin. "Endlich", sagte die Selow. Das Zimmer war demo­liert, Gläser und Flaschen lagen am Boden. Im nächsten Zimmer stand ein junger Mann vom Schreib­tisch auf. "Mein Assistent", erklärte der Kommissar. Fabian blickte sich um und erschrak. Auf dem Sofa lag Labude, kalkweiß, mit geschlossenen Augen, Labude hatte ein Loch in der Schläfe. Geronnenes Blut verklebte die Haare. "Stephan", sagte Fabian leise und setzte sich neben die Leiche. Er legte seine Hand auf die eisigen Hände des Freundes und schüttelte den Kopf. "Aber Stephan", sagte er, "das macht man doch nicht." Die zwei Beamten traten ans Fenster. "Doktor Labude hat für Sie einen Brief hinterlassen", berichtete der Kommissar. "Wir bitten Sie, den Brief zu lesen und uns über den Inhalt, soweit es uns interessiert, zu unterrichten. Wir teilen Ihre Vermutung, daß es sich um einen Selbstmord handelt, und die fünf jungen Da­men, die wir vorläufig in der Wohnung zurückbehalten haben, behaupten, im Nebenzimmer gewesen zu sein, als der Schuß fiel. Aber ganz aufgeklärt scheint der Vorfall nicht. Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß das Nebenzimmer demoliert worden ist. Was hat es damit für eine Bewandtnis?" Der Kriminalassistent reichte Fabian ein Kuvert. "Wollen Sie so freundlich sein und den Brief lesen? Die Damen behaupten, das Zimmer sei im Laufe einer privaten Mei­nungsverschiedenheit in Unordnung geraten. Doktor La­bude habe damit nichts zu tun gehabt. Er sei nicht einmal dabeigewesen, sondern habe gesagt, er wolle einen Brief schreiben, und dann sei er in das Zimmer hier gegangen." "Die Damen stehen, wie sich aus Andeutungen entnehmen ließ, in einigermaßen ungewöhnlichen Beziehungen zueinander. Ich vermute, es gab eine Art von Eifer­suchtsszene zwischen ihnen", erläuterte der Kommissar. "Sie haben, und auch das spricht gegen ihre konkrete Mittäterschaft, sofort die Polizei verständigt und uns hier erwartet, anstatt davonzulaufen. Wollen Sie, bitte, den Brief lesen?" Fabian öffnete das Kuvert und nahm den gefalteten Briefbogen heraus. Dabei fiel ein Banknoten­bündel zur Erde. Der Assistent hob es auf und legte es aufs Sofa. "Wir warten nebenan", sagte der Kommissar rücksichts­voll, und sie ließen Fabian allein. Er erhob sich und brannte das Licht an. Dann setzte er sich wieder und sah auf den toten Freund, dessen gelbes, in Müdigkeit erfrorenes Gesicht genau unter der Lampe lag. Der Mund war ein wenig geöffnet, der Unterkiefer gab nach. Fabian faltete den Briefbogen auseinander und las: "Lieber Jakob! Als ich heute mittag im Institut war, um mich wieder einmal zu erkundigen, war der Geheimrat wieder einmal nicht da. Aber Weckherlin, sein Assistent, war da, und er sagte mir, meine Habilitationsschrift sei abgelehnt wor­den. Der Geheimrat habe sie als völlig ungenügend cha­rakterisiert und erklärt, sie der Fakultät weiterzugeben, halte er für Belästigung. Außerdem habe es keinen Zweck, meine Blamage populär zu machen. Fünf Jahre hat mich diese Schrift gekostet, es war die fünfjährige Arbeit an einer Blamage, die man nur aus Barmherzigkeit im eng­sten Kreise begraben will. Ich dachte daran, Dich anzurufen, aber ich schämte mich. Ich habe kein Talent zum Trostempfänger, auch hierin bin ich talentlos. Das Gespräch über Leda, das wir vor Tagen miteinander hatten, überzeugte mich davon. Du hättest mich über die mikroskopische Bedeutung meines wissen­schaftlichen Unfalls aufgeklärt, ich hätte Dir zum Schein recht gegeben, wir hätten einander belogen. Die Ablehnung meiner Arbeit ist, faktisch und psycholo­gisch, mein Ruin, vor allem psychologisch. Leda wies mich zurück, die Universität weist mich zurück, von allen Seiten erhalte ich die Zensur Ungenügend. Das hält mein Ehrgeiz nicht aus, das bricht meinem Kopf das Herz und meinem Herzen das Genick, Jakob. Mir hilft keine histo­rische Statistik, wie viele bedeutende Männer schlechte Schüler und unglückliche Liebhaber waren. Mein politischer Ausflug nach Frankfurt war auch zum Bespeien. Am Schluß prügelten wir uns. Als ich gestern wiederkam, lag die Selow mit der Bildhauerin in meinem Bett, ein paar andere Frauenzimmer gaben Hilfestellung. Und jetzt, während ich schreibe, schmeißen sie im Ne­benzimmer mit Gläsern und Blumenvasen. Ich kann, wenn ich meinen augenblicklichen Zustand betrachte, sagen: Die ganze Richtung paßt mir nicht! Aus den Bezirken, in die ich gehöre, wies man mich aus. Dort, wo man mich aufnehmen will, will ich nicht hin. Sei mir nicht böse, mein Guter, ich haue ab. Europa wird auch ohne mich weiterleben oder zugrunde gehen, es hat mich nicht nötig. Wir stecken in einer Zeit, wo der ökonomische Kuhhandel nichts ändert, er wird den Zusammenbrach nur beschleunigen oder vergrößern. Wir stehen an einem der seltenen geschichtlichen Wendepunkte, wo eine neue Weltanschauung konstituiert werden muß, alles andere ist nutzlos. Ich habe nicht mehr den Mut, mich von den politischen Fachleuten auslachen zu lassen, die mit ihren Mittelchen einen Kontinent zu Tode kurieren. Ich weiß, daß ich recht habe, doch heute genügt mir das nicht mehr. Ich bin eine lächerliche Figur geworden, ein in den Fächern Liebe und Beruf durchgefallener Menschheitskandidat. Laß mich den Kerl umbringen. Der Revolver, den ich neulich am Märkischen Museum dem Kommuni­sten abnahm, kommt zu neuen Ehren. Ich nahm ihn an mich, damit kein Unglück angerichtet würde. Lehrer hätte ich werden müssen, nur die Kinder sind für Ideale reif. Also, Jakob, leb wohl. Fast hätte ich ganz ernsthaft hingeschrieben: ich werde oft an Dich denken. Aber damit ist es ja nun aus. Trag es mir nicht nach, daß ich uns so enttäusche. Du bist der einzige Mensch, den ich liebhatte, obwohl ich ihn kannte. Grüße meine Eltern, und vor allem Deine Mutter. Wenn du Leda zufällig einmal begegnen solltest, sage ihr nicht, wie schwer mich ihr Betrug traf. Sie mag glauben, ich wäre nur gekränkt gewesen. Es braucht nicht jeder alles zu wissen. Ich würde Dich bitten, meine Angelegenheiten zu regeln, aber es gibt nichts, was der Regelung bedürfte. Die Wohnung Nummer zwei sollen meine Eltern auflösen, mit den Möbeln können sie tun, was sie wollen. Meine Bücher gehören Dir. Ich fand vorhin in meinem Schreib­tisch zweitausend Mark, nimm das Geld, viel ist es nicht, zu einer kleinen Reise wird es reichen. Leb wohl, mein Freund. Lebe besser als ich. Mach's gut. Dein Stephan." Fabian strich dem Toten behutsam über die Stirn. Der Unterkiefer war noch tiefer herabgesunken. Der Mund klaffte auf. "Daß man lebt, ist Zufall; daß man stirbt, ist gewiß", flüsterte Fabian und lächelte dem Freunde zu, als wolle er ihn jetzt noch trösten. Der Kommissar öffnete leise die Tür. "Entschuldigen Sie, daß ich schon wieder störe." Fabian reichte ihm den Brief. Der Beamte las und sagte: "Da kann ich ja die Mädchen nach Hause schicken." Er gab den Brief zurück und ging ins Nebenzimmer. "Die Sache ist erledigt, ich will Sie nicht länger aufhalten", rief er. "Nur noch einen Augenblick", sagte eine weibliche Stim­me. "Ich habe ein Faible für Tote." Die fünf Frauen drängten sich durch die Tür und standen schweigend vor dem Sofa. "Man müßte ihm die Kinnlade hochbinden", sagte schließlich ein Mädchen, das Fabian nicht kannte. Die Bildhauerin lief ins andere Zimmer und kehrte mit einer Serviette wieder. Sie band Labude den Unterkiefer hoch, so daß der Mund sich schloß, und knüpfte die Enden der Serviette auf seinem Kopfhaar zu einem Knoten. "Ein Toter mit Zahnschmerzen", bemerkte die Selow und lachte bösartig. Ruth Reiter sagte: "Es ist eine Schande. Bei mir im Atelier sitzt Wilhelmy und wird von Tag zu Tag gesünder, das Schwein, obwohl die Ärzte jede Hoffnung aufgegeben haben. Und dieser kräftige junge Kerl hier bringt sich um die Ecke." Dann schob der Assistent die Frauen aus dem Zimmer. Der Kommissar setzte sich an den Schreibtisch und entwarf einen Polizeibericht. Der Assistent kam zurück. "Ist es nicht das beste, wenn wir einen Wagen bestellen und den Toten in die Villa der Eltern bringen lassen?" fragte er. Dann bückte er sich. Die Geldscheine waren vom Sofa gefallen und lagen wieder auf der Erde. Er hob sie auf und steckte sie Fabian in die Tasche. "Sind die Eltern eigentlich schon verständigt?" fragte Fabian. "Sie sind leider nicht erreichbar", erwiderte der Assistent. "Justizrat Labude befindet sich auf einer kleinen Reise, das Hauspersonal weiß nichts Näheres. Die Mutter ist in Lugano. Man hat ihr depeschiert." "Also gut", sagte Fabian. "Bringen wir ihn nach Hause!" Der Assistent telefonierte der nächsten Feuerwache. Dann warteten sie alle drei stumm, bis der Wagen kam. Sanitäter packten Labude auf eine Bahre und trugen ihn die Treppe hinunter. Vor dem Haus standen Neugierige aus der Nachbarschaft. Die Bahre wurde in den Wagen geschoben. Fabian setzte sich neben den ausgestreckten Freund. Die Beamten verabschiedeten sich. Er gab ihnen die Hand. Ein Sanitäter klappte die Leiter hoch und schloß die Tür. Fabian und Labude fuhren zum letzten Male gemeinsam durch Berlin. Das Fenster war heruntergelassen, in seinem Rahmen zeigte sich der Dom. Dann wechselte das Bild. Fabian sah die Schinkelsche Wache, die Universität, die Staatsbiblio­thek. Wie lange war das her, daß sie hier miteinander im Autobus gefahren waren? Am selben Abend hatten sie, draußen am Märkischen Museum, zwei Raufbolden die Revolver abgenommen. Nun lag Labude auf der Bahre, fuhr durchs Brandenbur­ger Tor und wußte nichts mehr davon. Zwei straffe Gurte hielten ihn fest. Der Kopf rutschte langsam schräg. "Denkst du nach?" fragte Fabian leise, schob Labudes Kopf auf dem Kissen wieder zurecht und ließ die Hand dort. "Ein Toter mit Zahnschmerzen", hatte die Selow gesagt. Als das Krankenauto vor der Grunewaldvilla hielt, stand das Dienstpersonal an der Tür. Die Haushälterin schluchzte, der Diener ging würdevoll vor den Sanitätern her, die Mädchen folgten, ihre Füße hielten mit der ernsten Stunde Schritt. Labude wurde in sein Zimmer gebracht und auf das Sofa gelegt. Der Diener öffnete die Fenster weit. "Die Leichenfrau kommt morgen früh", sagte die Haus­hälterin, und nun schluchzten auch die Mädchen. Fabian gab den Sanitätern Geld. Sie grüßten militärisch und gingen. "Der Herr Justizrat ist noch immer nicht da", bemerkte der Diener. "Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält. Aber er wird es ja in der Zeitung lesen." "Es steht schon in der Zeitung?" fragte Fabian. "Jawohl", entgegnete der Diener. "Die gnädige Frau ist benachrichtigt. Sie dürfte morgen mittag in Berlin eintref­fen, wenn ihr Zustand die Reise gestattet. Der FD-Zug ist um diese Stunde in Bellinzona." "Gehen Sie schlafen", sagte Fabian. "Ich bleibe die Nacht über hier." Er zog einen Stuhl zum Sofa. Die anderen verließen das Zimmer. Er war allein. In Bellinzona war Labudes Mutter jetzt? Fabian setzte sich neben den Freund und dachte: "Welch eine Strafe für eine schlechte Mutter!" NEUNZEHNTES KAPITEL Fabian verteidigt den Fre