Îöåíèòå ýòîò òåêñò:


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     Ãóñòàâ Ìàéðèíê. Ãîëåì. Íà íåìåöêîì ÿçûêå).
     Äàòà ñîçäàíèå ïðîèçâåäåíèÿ: 1915 ã.
     Ïå÷àòíûé èñòî÷íèê: Gustav Meyrink. Der Golem, Leipzig, 1916
     OCR, Spellcheck: Serge Winitzki
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         Leipzig
         Kurt Wolff Verlag
         1916
         Vierter Abdruck. Dezember 1915
         Copyright 1915 by Kurt Wolff Verlag Leipzig
         Kapitelverzeichnis
     Schlaf
     Tag
     I
     Prag
     Punsch
     Nacht
     Wach
     Schnee
     Spuk
     Licht
     Not
     Angst
     Trieb
     Weib
     List
     Qual
     Mai
     Mond
     Frei
     Schluß
         Schlaf
     Das Mondlicht  fällt  auf das  Fußende meines Bettes und liegt dort wie
ein großer, heller, flacher Stein.
     Wenn der  Vollmond in seiner Gestalt  zu schrumpfen  beginnt  und seine
rechte Seite  fängt an  zu verfallen,  -  wie  ein  Gesicht,  das dem  Alter
entgegengeht,  zuerst  an  einer  Wange  Falten  zeigt und abmagert,  - dann
bemächtigt  sich meiner um solche  Zeit des  Nachts  eine  trübe,  qualvolle
Unruhe.
     Ich schlafe nicht und wache nicht, und im  Halbtraum vermischt  sich in
meiner   Seele  Erlebtes  mit   Gelesenem   und  Gehörtem,  wie  Ströme  von
verschiedener Farbe und Klarheit zusammenfließen.
     Ich  hatte  über  das Leben  des  Buddha  Gotama gelesen, ehe ich  mich
niedergelegt, und in tausend Spielarten zog der Satz immer wieder  von vorne
beginnend durch meinen Sinn:
     "Eine Krähe flog zu einem Stein hin, der wie ein Stück Fett aussah, und
dachte: vielleicht ist  hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die  Krähe  dort
nichts  Wohlschmeckendes  fand, flog sie fort. Wie die Krähe,  die sich  dem
Stein genähert, so verlassen wir - wir, die Versucher, - den Asketen Gotama,
da wir den Gefallen an ihm verloren haben."
     Und  das Bild von dem Stein, der  aussah wie ein Stück Fett, wächst ins
Ungeheuerliche in meinem Hirn:
     Ich schreite durch ein ausgetrocknetes Flußbett  und hebe glatte Kiesel
auf.
     Graublaue mit eingesprengtem glitzerndem Staub, über die ich nachgrüble
und nachgrüble  und doch mit  ihnen nichts anzufangen weiß, -  dann schwarze
mit  schwefelgelben Flecken wie  die steingewordenen Versuche  eines Kindes,
plumpe, gesprenkelte Molche nachzubilden.
     Und  ich will sie weit  von mir werfen, diese Kiesel, doch immer fallen
sie mir  aus der Hand, und ich kann sie aus dem Bereich  meiner Augen  nicht
bannen.
     Alle jene Steine, die je in meinem  Leben eine Rolle  gespielt, tauchen
auf rings um mich her.
     Manche  quälen sich  schwerfällig  ab,  sich  aus dem  Sande  ans Licht
emporzuarbeiten  -  wie große  schieferfarbene Taschenkrebse, wenn  die Flut
zurückkommt, - und als wollten sie alles daransetzen, meine Blicke auf  sich
zu lenken, um mir Dinge von unendlicher Wichtigkeit zu sagen.
     Andere - erschöpft - fallen kraftlos zurück in ihre Löcher und geben es
auf, je zu Worte zu kommen.
     Zuweilen  fahre ich empor aus dem Dämmer  dieser halben Träume und sehe
für einen  Augenblick  wiederum  den Mondschein  auf dem gebauschten Fußende
meiner Decke liegen wie  einen  großen, hellen, flachen  Stein, um blind von
neuem hinter meinem schwindenden Bewußtsein  herzutappen, ruhelos nach jenem
Stein suchend,  der mich quält - der  irgendwo verborgen  im  Schutte meiner
Erinnerung liegen muß und aussieht wie ein Stück Fett.
     Eine Regenröhre muß einst neben ihm auf  der  Erde gemündet haben, male
ich mir aus - stumpfwinklig abgebogen, die Ränder von Rost zerfressen, - und
trotzig  will  ich  mir  im  Geiste  ein  solches Bild  erzwingen, um  meine
aufgescheuchten Gedanken zu belügen und in Schlaf zu lullen.
     Es gelingt mir nicht.
     Immer  wieder und immer  wieder mit alberner  Beharrlichkeit  behauptet
eine   eigensinnige   Stimme  in  meinem  Innern   -   unermüdlich  wie  ein
Fensterladen,  den  der  Wind in regelmäßigen  Zwischenräumen an  die  Mauer
schlagen läßt: es sei das ganz anders, das sei gar nicht der Stein, der  wie
Fett aussehe.
     Und es ist von der Stimme nicht loszukommen.
     Wenn ich hundertmal einwende, alles das sei doch ganz nebensächlich, so
schweigt  sie  wohl eine kleine Weile, wacht aber dann unvermerkt wieder auf
und beginnt  hartnäckig von neuem: gut, gut, schon  recht, es ist  aber doch
nicht der Stein, der wie ein Stück Fett aussieht. -
     Langsam beginnt sich meiner ein unerträgliches Gefühl von Hilflosigkeit
zu bemächtigen.
     Wie es weiter gekommen ist, weiß  ich  nicht. Habe ich freiwillig jeden
Widerstand aufgegeben, oder haben sie mich  überwältigt und geknebelt, meine
Gedanken?
     Ich weiß nur, mein Körper liegt schlafend im Bett, und meine Sinne sind
losgetrennt und nicht mehr an ihn gebunden. -
     Wer ist  jetzt  "ich", will ich plötzlich fragen;  da besinne ich mich,
daß  ich doch  kein  Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen  könnte;
dann fürchte ich, die dumme Stimme werde  wieder aufwachen und von neuem das
endlose Verhör über den Stein und das Fett beginnen.
     Und so wende ich mich ab.

     Da  stand ich  plötzlich in  einem düsteren  Hofe  und  sah durch einen
rötlichen Torbogen  gegenüber - jenseits  der  engen,  schmutzigen  Straße -
einen jüdischen Trödler an einem Gewölbe lehnen, das an den Mauerrändern mit
altem Eisengerümpel, zerbrochenen  Werkzeugen,  verrosteten  Steigbügeln und
Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war.
     Und  dieses  Bild trug  das quälend Eintönige  an sich,  das  alle jene
Eindrücke  kennzeichnet,  die  tagtäglich so und so oft  wie  Hausierer  die
Schwelle unserer Wahrnehmung  überschreiten, und rief in mir weder Neugierde
noch Überraschung hervor.
     Ich wurde mir bewußt, daß ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung
zu Hause war.
     Auch  diese Empfindung hinterließ mir trotz ihres  Gegensatzes zu  dem,
was ich doch  vor  kurzem  noch wahrgenommen und  wie ich  hierher  gelangt,
keinerlei tieferen Eindruck. - -
     Ich muß einmal von einem sonderbaren Vergleich zwischen einem Stein und
einem  Stück Fett gehört  oder gelesen haben, drängte sich mir plötzlich der
Einfall auf, als  ich die ausgetretenen  Stufen zu  meiner Kammer emporstieg
und mir über  das  speckige Aussehen  der  Steinschwellen flüchtige Gedanken
machte.
     Da hörte ich Schritte die oberen Treppen über mir vorauslaufen, und als
ich zu meiner  Tür  kam, sah  ich,  daß  es die  vierzehnjährige, rothaarige
Rosina des Trödlers Aaron Wassertrum gewesen war.
     Ich mußte dicht an ihr vorbei,  und sie stand mit dem Rücken gegen  das
Stiegengeländer und bog sich lüstern zurück.
     Ihre  schmutzigen Hände hatte sie um die Eisenstange gelegt, - zum Halt
-  und ich sah, wie ihre nackten Unterarme bleich aus dem trüben  Halbdunkel
hervorleuchteten.
     Ich wich ihren Blicken aus.
     Mich ekelte  vor ihrem  zudringlichen  Lächeln  und  diesem  wächsernen
Schaukelpferdgesicht.
     Sie  muß  schwammiges,  weißes Fleisch haben  wie der Axolotl, den  ich
vorhin im Salamanderkäfig bei dem Vogelhändler gesehen habe, fühlte ich.
     Die Wimpern Rothaariger sind mir widerwärtig wie die eines Kaninchens.
     Und ich sperrte auf und schlug rasch die Tür hinter mir zu. - -
     Von meinem  Fenster  aus  konnte ich den Trödler Aaron  Wassertrum  vor
seinem Gewölbe stehen sehen.
     Er lehnte  am  Eingang  der  dunklen  Wölbung  und  zwickte  mit  einer
Beißzange an seinen Fingernägeln herum.
     War  die  rothaarige Rosina  seine Tochter  oder seine Nichte? Er hatte
keine Ähnlichkeit mit ihr.
     Unter  den Judengesichtern,  die ich Tag  für  Tag  in der Hahnpaßgasse
auftauchen sehe,  kann ich  deutlich verschiedene Stämme unterscheiden,  die
sich  so  wenig  durch  die  nahe Verwandtschaft  der  einzelnen  Individuen
verwischen lassen, wie sich öl und Wasser vermengen wird. Da darf man  nicht
sagen: die dort sind Brüder oder Vater und Sohn.
     Der gehört zu  jenem Stamm und dieser  zu einem andern,  das ist alles,
was sich aus den Gesichtszügen lesen läßt.
     Was bewiese es auch, wenn selbst Rosina dem Trödler ähnlich sähe!
     Diese Stämme hegen  einen heimlichen Ekel und  Abscheu voreinander, der
sogar die Schranken der engen Blutsverwandtschaft  durchbricht,  - aber  sie
verstehen  ihn  geheimzuhalten vor der Außenwelt, wie  man  ein gefährliches
Geheimnis hütet.
     Kein  einziges läßt ihn  durchblicken,  und  in dieser  Übereinstimmung
gleichen  sie haßerfüllten Blinden, die  sich  an ein schmutzgetränktes Seil
klammern: der eine mit beiden Fäusten, ein anderer nur widerwillig mit einem
Finger, alle aber von abergläubischer Furcht besessen, daß sie dem Untergang
verfallen müssen, sobald sie den gemeinsamen Halt aufgeben und sich von  den
übrigen trennen.
     Rosina ist von jenem Stamme, dessen  rothaariger Typus noch abstoßender
ist, als der der andern. Dessen Männer engbrüstig sind und lange Hühnerhälse
haben mit vorstehendem Adamsapfel.
     Alles scheint an ihnen sommersprossig, und ihr  ganzes Leben leiden sie
unter  brünstigen Qualen,  diese Männer, - und kämpfen  heimlich  gegen ihre
Gelüste  einen  ununterbrochenen,  erfolglosen  Kampf,  von   immerwährender
widerlicher Angst um ihre Gesundheit gefoltert.
     Ich   war   mir   nicht   klar,   wieso   ich   Rosina   überhaupt   in
verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Trödler Wassertrum bringen konnte.
     Nie habe  ich sie doch in der Nähe des Alten gesehen  oder bemerkt, daß
sie jemals einander etwas zugerufen hätten.
     Auch  war sie  fast  immer in unserem  Hofe  oder drückte sich  in  den
dunklen Winkeln und Gängen unseres Hauses umher.
     Sicherlich  halten sie alle  meine Mitbewohner für  eine nahe Verwandte
oder zumindest Schutzbefohlene des Trödlers, und doch bin ich überzeugt, daß
kein einziger einen Grund für solche Vermutungen anzugeben vermöchte.
     Ich wollte meine Gedanken von Rosina losreißen und sah von  dem offenen
Fenster meiner Stube hinab auf die Hahnpaßgasse.
     Als  habe  Aaron Wassertrum meinen Blick  gefühlt, wandte er  plötzlich
sein Gesicht zu mir empor.
     Sein  starres, gräßliches  Gesicht  mit  den runden Fischaugen  und der
klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist.
     Wie eine menschliche Spinne kam er  mir  vor, die die feinste Berührung
ihres Netzes spürt, so teilnahmslos sie sich auch stellt.
     Und wovon er nur leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben?
     Ich wußte es nicht.
     An  den  Mauerrändern seines Gewölbes hängen unverändert  Tag für  Tag,
jahraus jahrein dieselben toten wertlosen Dinge.
     Mit geschlossenen  Augen  hätte  ich  sie hinzeichnen können:  hier die
verbogene  Blechtrompete ohne Klappen, das vergilbte Bild auf Papier gemalt,
mit  den  so  sonderbar  zusammengestellten  Soldaten.  Dann  eine  Girlande
verrosteter  Sporen  an  einem  schimmligen  Lederriemen  und  anderes  halb
vermodertes Gerümpel.
     Und  vorne  auf  dem  Boden,  dicht nebeneinander  geschichtet, so  daß
niemand  die  Schwelle  des Gewölbes überschreiten kann,  eine Reihe  runder
eiserner Herdplatten. -
     Alle diese Dinge nahmen an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirklich hier
und da einmal ein Vorübergehender stehen und fragte nach dem Preis des einen
oder andern, geriet der Trödler in heftige Erregung.
     In grauenerregender Weise zog er dann seine Lippen mit der Hasenscharte
empor  und  sprudelte  gereizt   irgend  etwas  Unverständliches  in   einem
gurgelnden, stolpernden Baß hervor, daß dem Käufer die Lust weiter zu fragen
verging und er abgeschreckt seinen Weg fortsetzte.
     Der Blick  des  Aaron  Wassertrum war  blitzschnell  von  meinen  Augen
abgeglitten und  ruhte jetzt mit  gespanntem Interesse an den kahlen Mauern,
die vom Nebenhause an mein Fenster stoßen.
     Was konnte er dort nur sehen?
     Das Haus steht doch mit dem Rücken  gegen  die  Hahnpaßgasse, und seine
Fenster blicken in den Hof! Nur eines ist in die Straße gekehrt.
     Zufällig schienen die Räume, die nebenan in derselben Stockhöhe wie die
meinigen liegen - ich  glaube, sie gehören zu  einem winkligen Atelier -  in
diesem  Moment betreten  worden zu sein,  denn  durch  die Mauern hörte  ich
plötzlich eine männliche und eine weibliche Stimme miteinander reden.
     Unmöglich konnte das aber der Trödler von unten aus wahrgenommen haben!
- -
     Vor  meiner  Tür bewegte sich jemand, und ich erriet: es ist immer noch
Rosina,  die draußen im  Dunkeln steht in begehrlichem Warten,  daß ich  sie
doch vielleicht zu mir hereinrufen wolle.
     Und  unten, ein halbes  Stockwerk  tiefer,  lauert  der blatternarbige,
halbwüchsige Loisa  auf  den Stiegen mit  angehaltenem Atem, ob  ich die Tür
öffnen  werde, und  ich  spüre  förmlich den  Hauch seines Hasses und  seine
schäumende Eifersucht bis herauf zu mir.
     Er fürchtet sich näher zu  kommen und von Rosina bemerkt zu werden.  Er
weiß  sich von ihr  abhängig  wie  ein hungriger Wolf  von seinem Wärter und
möchte doch am liebsten  aufspringen und besinnungslos seiner Wut  die Zügel
schießen lassen! - - -
     Ich  setzte mich an meinen Arbeitstisch und suchte meine Pinzetten  und
Stichel hervor.
     Aber ich konnte  nichts fertigbringen und  meine  Hand war  nicht ruhig
genug, die feinen japanischen Gravierungen auszubessern.
     Das  trübe, düstere Leben, das an diesem Hause  hängt, läßt mein  Gemüt
nicht stillwerden, und immer tauchen alte Bilder in mir auf.
     Loisa  und sein Zwillingsbruder Jaromir  sind wohl kaum ein  Jahr älter
als Rosina.
     An ihren Vater, der Hostienbäcker  gewesen,  konnte  ich mich kaum mehr
erinnern, und jetzt sorgt für sie, glaube ich, ein altes Weib.
     Ich  wußte nur nicht, welche es  war unter den vielen, die versteckt im
Hause wohnen wie Kröten in ihrem Schlupfwinkel.
     Sie  sorgt  für  die  beiden  Jungen,  das  heißt:  sie  gewährt  ihnen
Unterkunft; dafür müssen sie ihr  abliefern,  was  sie gelegentlich  stehlen
oder erbetteln. -
     Ob sie ihnen wohl auch zu essen gibt? Ich  konnte  es mir nicht denken,
denn erst spät abends kommt die Alte heim.
     Leichenwäscherin soll sie sein.
     Loisa, Jaromir und  Rosina  sah ich, als  sie  noch Kinder  waren,  oft
harmlos im Hof zu dritt spielen.
     Die Zeit aber ist lang vorbei.
     Den ganzen Tag ist Loisa jetzt hinter dem rothaarigen Judenmädel her.
     Zuweilen sucht er sie lange  umsonst, und  wenn er  sie nirgends finden
kann,  dann schleicht  er  sich  vor  meine Tür  und  wartet  mit verzerrtem
Gesicht, daß sie heimlich hierher komme.
     Da sehe ich ihn, wenn ich bei meiner Arbeit sitze, im Geiste draußen in
dem winkligen Gange lauern,  den Kopf mit dem ausgemergelten Genick horchend
vorgebeugt.
     Manchmal bricht dann durch die Stille plötzlich ein wilder Lärm.
     Jaromir,  der  taubstumm   ist,   und   dessen   ganzes   Denken   eine
ununterbrochene wahnsinnige Gier nach  Rosina erfüllt,  irrt wie  ein wildes
Tier im Hause umher, und sein unartikuliertes heulendes Gebell,  das er, vor
Eifersucht und Argwohn halb von Sinnen, ausstößt, klingt so schauerlich, daß
einem das Blut in den Adern stockt.
     Er sucht die beiden, die er stets  beieinander vermutet -  irgendwo  in
einem der tausend schmutzigen Schlupfwinkel  versteckt - in blinder Raserei,
immer  von dem  Gedanken gepeitscht,  seinem  Bruder  auf den Fersen sein zu
müssen, daß nichts mit Rosina vorgehe, von dem er nicht wisse.
     Und gerade  diese unaufhörliche Qual  des Krüppels ist, ahnte  ich, das
Reizmittel,  das  Rosina  antreibt,  sich  stets  von neuem mit  dem  andern
einzulassen.
     Wird  ihre  Neigung oder Bereitwilligkeit  schwächer,  so ersinnt Loisa
immer  wieder  besondere  Scheußlichkeiten, um Rosinas  Gier  von  neuem  zu
entfachen.
     Da lassen sie sich scheinbar oder wirklich von dem Taubstummen ertappen
und locken den Rasenden heimtückisch hinter sich her in dunkle Gänge, wo sie
aus  rostigen Faßreifen, die in die Höhe  schnellen, wenn man auf sie tritt,
und eisernen Rechen  - mit den Spitzen nach oben  gekehrt - bösartige Fallen
errichtet haben, in die er stürzen muß und sich blutig fällt.
     Von  Zeit  zu  Zeit  denkt  sich  Rosina, um  die Folter  aufs äußerste
anzuspannen, auf eigene Faust etwas Höllisches aus.
     Dann ändert sie mit einem Schlage  ihr Benehmen zu Jaromir und tut, als
fände sie plötzlich Gefallen an ihm.
     Mit ihrer ewig lächelnden Miene teilt sie dem Krüppel hastig Dinge mit,
die ihn  in eine fast irrsinnige  Erregung  versetzen, und sie hat sich dazu
eine   geheimnisvoll   scheinende,  nur   halbverständliche   Zeichensprache
ersonnen,  die  den Taubstummen rettungslos  in ein unentwirrbares Netz  von
Ungewißheit und verzehrenden Hoffnungen verstricken muß. -
     Einmal  sah ich ihn im  Hofe  vor  ihr stehen,  und sie  sprach mit  so
heftigen Lippenbewegungen und Gestikulationen  auf ihn ein, daß ich glaubte,
jeden Augenblick würde er in wilder Aufregung zusammenbrechen.
     Der Schweiß lief  ihm  übers Gesicht vor übermenschlicher  Anstrengung,
den Sinn der absichtlich so unklaren, hastigen Mitteilungen zu erfassen.
     Und den ganzen folgenden Tag lauerte er dann fiebernd in  Erwartung auf
den finsteren Stiegen eines  halb versunkenen Hauses, das in der Fortsetzung
der engen, schmutzigen Hahnpaßgasse liegt, - bis er die Zeit versäumt hatte,
sich an den Ecken ein paar Kreuzer zu erbetteln.
     Und als er spät  abends halbtot vor Hunger und Aufregung  heim  wollte,
hatte ihn die Pflegemutter längst ausgesperrt. - - -
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     Ein fröhliches Frauenlachen drang aus dem anstoßenden Atelier durch die
Mauern herüber zu mir.
     Ein Lachen! - In diesen Häusern ein fröhliches Lachen?  Im ganzen Getto
wohnt niemand, der fröhlich lachen könnte.
     Da fiel mir ein, daß mir vor einigen Tagen  der alte Marionettenspieler
Zwakh  anvertraute, ein junger,  vornehmer Herr hätte ihm  das Atelier teuer
abgemietet  - offenbar,  um  mit der  Erwählten  seines  Herzens unbelauscht
zusammenkommen zu können.
     Nach  und  nach, jede Nacht, müßten nun,  damit niemand im Hause  etwas
merke,  die  kostbaren  Möbel des neuen  Mieters  heimlich  Stück  für Stück
hinaufgeschafft werden.
     Der gutmütige Alte hatte sich vor Vergnügen die Hände gerieben,  als er
es  mir erzählte,  und sich kindlich  gefreut,  wie  er  alles so  geschickt
angefangen habe:  keiner der  Mitbewohner könne auch nur eine Ahnung von dem
romantischen Liebespaar haben.
     Und von drei Häusern aus  sei es möglich, unauffällig in das Atelier zu
gelangen. - Sogar durch eine Falltüre gäbe es einen Zugang!
     Ja, wenn man die eiserne  Tür des Bodenraumes aufklinke, - und das  sei
von  drüben aus sehr  leicht, - könne man  an  meiner Kammer, vorbei zu  den
Stiegen unseres Hauses gelangen und diese als Ausgang benützen ...
     Wieder  klingt  das  fröhliche  Lachen  herüber und  läßt  in  mir  die
undeutliche Erinnerung an  eine luxuriöse Wohnung und an eine adlige Familie
auftauchen, zu der ich oft gerufen wurde, um an kostbaren Altertümern kleine
Ausbesserungen vorzunehmen. -
     Plötzlich  höre  ich   nebenan  einen  gellenden  Schrei.   Ich  horche
erschreckt.
     Die eiserne Bodentür  klirrt heftig, und  im nächsten Augenblick stürzt
eine Dame in mein Zimmer.
     Mit aufgelöstem Haar, weiß wie  die Wand,  einen  goldenen  Brokatstoff
über die bloßen Schultern geworfen.
     "Meister  Pernath,  verbergen Sie mich, - um  Gottes Christi willen!  -
fragen Sie nicht, verbergen Sie mich hier!"
     Ehe ich noch antworten konnte, wurde meine Tür abermals aufgerissen und
sofort wieder zugeschlagen. -
     Eine Sekunde lang hatte  das Gesicht des Trödlers Aaron  Wassertrum wie
eine scheußliche Maske hereingegrinst. -
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     Ein runder, leuchtender Fleck taucht vor  mir auf,  und  im  Schein des
Mondlichtes erkenne ich wiederum das  Fußende meines Bettes. Noch liegt  der
Schlaf auf mir wie ein schwerer, wolliger Mantel und der Name  Pernath steht
in goldenen Buchstaben vor meiner Erinnerung.
     Wo nur habe ich diesen Namen gelesen? - Athanasius Pernath?
     Ich glaube, ich glaube vor langer, langer Zeit habe ich einmal irgendwo
meinen  Hut verwechselt, und ich wunderte  mich damals, daß  er mir so genau
passe, wo ich doch eine höchst eigentümliche Kopfform habe.
     Und ich sah  in den fremden  Hut hinein -  damals und - - ja,  ja, dort
hatte es gestanden in goldenen Papierbuchstaben auf dem weißen Futter:
     ATHANASIUS PERNATH.
     Ich hatte mich  vor dem Hut  gescheut und gefürchtet,  ich  wußte nicht
warum.
     Da fährt plötzlich  die  Stimme, die ich vergessen hatte, und die immer
von mir wissen wollte, wo der Stein ist, der wie  Fett  ausgesehen habe, auf
mich los, gleich einem Pfeil.
     Schnell male ich mir  das  scharfe, süßlich grinsende  Profil der roten
Rosina aus, und es  gelingt mir auf diese Weise, dem Pfeil auszuweichen, der
sich sogleich in der Finsternis verliert.
     Ja,  das  Gesicht  der  Rosina!  Das  ist  doch  noch stärker  als  die
stumpfsinnige  plappernde  Stimme;  und gar,  wo ich jetzt gleich  wieder in
meinem Zimmer in  der Hahnpaßgasse geborgen  sein werde, kann ich ganz ruhig
sein.

     Wenn  ich  mich  nicht getäuscht habe in der Empfindung, daß  jemand in
einem gewissen,  gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt,
in der Absicht, mich zu  besuchen, so  muß er jetzt ungefähr auf dem letzten
Stiegenabsatz stehen.
     Jetzt  biegt er um  die Ecke,  wo  der Archivar Schemajah Hillel  seine
Wohnung  hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen  auf den Flur des
oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
     Nun tastet er sich an der  Wand entlang,  und jetzt, gerade jetzt,  muß
er, mühsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem Türschild lesen.
     Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und  blickte zum
Eingang.
     Da öffnete sich die Türe, und er trat ein.
     Nur wenige Schritte  machte er  auf mich  zu und nahm weder den Hut ab,
noch sagte er ein Wort der Begrüßung.
     So benimmt er sich, wenn  er zu Hause ist, fühlte ich,  und ich fand es
ganz selbstverständlich, daß er so und nicht anders handelte.
     Er griff in die Tasche und nahm ein Buch heraus.
     Dann blätterte er lange drin herum.
     Der Umschlag des  Buches war  aus Metall, und die Vertiefungen  in Form
von Rosetten und Siegeln waren mit Farbe und kleinen Steinen ausgefüllt.
     Endlich  hatte  er  die Stelle  gefunden,  die er  suchte, und  deutete
darauf.
     Das Kapitel hieß "Ibbur", "die Seelenschwängerung", entzifferte ich.
     Das große, in Gold und Rot ausgeführte Initial "I" nahm fast die Hälfte
der  ganzen Seite ein,  die ich  unwillkürlich  überflog, und  war am  Rande
verletzt.
     Ich sollte es ausbessern.
     Das Initial war nicht  auf das Pergament geklebt, wie ich es  bisher in
alten  Büchern gesehen,  schien  vielmehr aus zwei  Platten dünnen Goldes zu
bestehen, die im Mittelpunkte zusammengelötet waren und mit den Enden um die
Ränder des Pergaments griffen.
     Also mußte,  wo der Buchstabe stand, ein Loch in  das Blatt geschnitten
sein?
     Wenn  das der Fall war, mußte  auf der nächsten Seite  das "I" verkehrt
stehen?
     Ich blätterte um und fand meine Annahme bestätigt.
     Unwillkürlich las ich auch diese Seite durch und die gegenüberliegende.
     Und ich las weiter und weiter.
     Das Buch sprach  zu mir, wie  der Traum  spricht,  klarer  nur und viel
deutlicher. Und es rührte mein Herz an wie eine Frage.
     Worte strömten aus einem unsichtbaren  Munde, wurden lebendig und kamen
auf mich zu. Sie  drehten sich und  wandten sich vor mir wie  buntgekleidete
Sklavinnen,  sanken dann in den  Boden  oder verschwanden  wie  schillernder
Dunst in  der  Luft und gaben der nächsten  Raum.  Jede  hoffte eine  kleine
Weile, daß  ich sie  erwählen  würde  und  auf  den  Anblick  der  Kommenden
verzichten.
     Manche  waren unter  ihnen, die gingen  prunkend einher  wie Pfauen, in
schimmernden Gewändern, und ihre Schritte waren langsam und gemessen.
     Manche  wie  Königinnen,  doch gealtert  und  verlebt,  die  Augenlider
gefärbt, -  mit  dirnenhaftem Zug um den Mund  und die Runzeln mit häßlicher
Schminke verdeckt.
     Ich sah an ihnen vorbei und  nach den  kommenden, und mein  Blick glitt
über  lange   Züge  grauer  Gestalten  mit  Gesichtern,  so  gewöhnlich  und
ausdrucksarm, daß es unmöglich schien, sie dem Gedächtnis einzuprägen.
     Dann  brachten  sie  ein  Weib  geschleppt, das war  splitternackt  und
riesenhaft wie ein Erzkoloß.
     Eine Sekunde blieb das Weib  vor mir stehen und beugte  sich  nieder zu
mir.
     Ihre Wimpern waren  so lang wie  mein  ganzer Körper,  und sie  deutete
stumm auf den Puls ihrer linken Hand.
     Der  schlug wie ein  Erdbeben, und ich fühlte, es war  das Leben  einer
ganzen Welt in ihr.
     Aus der Ferne raste ein Korybantenzug heran.
     Ein Mann und  ein Weib umschlangen sich. Ich sah sie von weitem kommen,
und immer näher brauste der Zug.
     Jetzt hörte  ich den hallenden Gesang der Verzückten dicht vor mir, und
meine Augen suchten das verschlungene Paar.
     Das aber hatte sich verwandelt  in  eine einzige Gestalt und  saß, halb
männlich,  halb  weiblich,  -  ein  Hermaphrodit  -  auf  einem  Throne  von
Perlmutter.
     Und die Krone des Hermaphroditen  endete in einem Brett aus rotem Holz;
darein hatte der Wurm der Zerstörung geheimnisvolle Runen genagt.
     In einer Staubwolke kam eilig hinterdreingetrappelt eine Herde kleiner,
blinder Schafe: die  Futtertiere,  die der  gigantische  Zwitter  in  seinem
Gefolge führte, seine Korybantenschar am Leben zu erhalten.
     Zuweilen waren unter  den  Gestalten,  die  aus  dem unsichtbaren Munde
strömten, etliche, die kamen aus Gräbern, - Tücher vor dem Gesicht.
     Und blieben sie vor mir stehen, ließen sie plötzlich ihre Hüllen fallen
und  starrten  mit  Raubtieraugen hungrig  auf mein Herz,  daß  ein  eisiger
Schreck mir ins Hirn fuhr und sich mein Blut zurückstaute  wie ein Strom, in
den  Felsblöcke vom Himmel herniedergefallen  sind - plötzlich und mitten in
sein Bette. -
     Eine Frau schwebte an mir vorbei. Ich sah ihr Antlitz nicht, sie wandte
es ab, und sie trug einen Mantel aus fließenden Tränen. -
     Maskenzüge tanzten vorüber, lachten und kümmerten sich nicht um mich.
     Nur ein Pierrot  sieht sich  nachdenklich um nach mir und kehrt zurück.
Pflanzt sich vor mich hin  und blickt in mein Gesicht hinein, als sei es ein
Spiegel.
     Er schneidet  so  seltsame  Grimassen, hebt und bewegt seine Arme, bald
zögernd,   bald  blitzschnell,  daß  sich  meiner  ein  gespenstiger   Trieb
bemächtigt ihn nachzuahmen, mit den  Augen zu zwinkern,  mit den  Achseln zu
zucken und die Mundwinkel zu verziehen.
     Da stoßen ihn  ungeduldig  nachdrängende Gestalten  zur Seite, die alle
vor meine Blicke wollen.
     Doch keines der Wesen hat Bestand.
     Gleitende Perlen sind sie, auf eine Seidenschnur gereiht, die einzelnen
Töne nur einer Melodie, die dem unsichtbaren Mund entströmen.
     Das war kein Buch mehr, das zu  mir sprach.  Das war  eine Stimme. Eine
Stimme, die etwas von mir wollte, was  ich nicht begriff; wie  sehr ich mich
auch abmühte. Die mich quälte mit brennenden, unverständlichen Fragen.
     Die Stimme aber, die diese sichtbaren Worte redete, war abgestorben und
ohne Widerhall.
     Jeder Laut, der in  der Welt der Gegenwart erklingt,  hat  viele Echos,
wie jegliches Ding einen großen Schatten hat und viele kleine Schatten, doch
diese  Stimme  hatte  keine Echos mehr,  - lange, lange schon sind  sie wohl
verweht und verklungen. - - -
     Und bis zu Ende  hatte ich das  Buch gelesen  und  hielt es noch in den
Händen,  da war mir, als hätte ich suchend in  meinem Gehirn  geblättert und
nicht in einem Buche! - -
     Alles, was  mir  die  Stimme gesagt, hatte ich, seit  ich lebte, in mir
getragen, nur  verdeckt war es gewesen und  vergessen  und  hatte  sich  vor
meinem Denken versteckt gehalten bis auf den heutigen Tag. -
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     Ich blickte auf.
     Wo war der Mann, der mir das Buch gebracht hatte?
     Fortgegangen!?
     Wird er es holen, wenn es fertig ist?
     Oder sollte ich es ihm bringen? -
     Aber ich konnte mich nicht erinnern, daß er gesagt hätte, wo er wohne.
     Ich wollte mir seine  Erscheinung  ins Gedächtnis zurückrufen,  doch es
mißlang.
     Wie war er nur gekleidet gewesen? War er alt, war er jung? - Und welche
Farben hatten sein Haar und sein Bart gehabt?
     Nichts, gar nichts  mehr konnte ich mir vorstellen. -  Alle Bilder, die
ich  mir von  ihm  schuf,  zerrannen haltlos, noch  ehe ich  sie  im  Geiste
zusammenzusetzen vermochte.
     Ich  schloß die  Augen  und  preßte die Hand auf die  Lider,  um  einen
winzigen Teil nur seines Bildnisses zu erhaschen.
     Nichts, nichts.
     Ich stellte  mich hin,  mitten ins Zimmer, und blickte auf die Tür, wie
ich es getan - vorhin, als er gekommen war,  und malte mir aus:  jetzt biegt
er um  die Ecke,  jetzt schreitet er über den Ziegelsteinboden, liest  jetzt
draußen mein Türschild "Athanasius Pernath" und jetzt tritt er herein.
     Vergebens.
     Nicht die leiseste Spur einer Erinnerung, wie seine Gestalt ausgesehen,
wollte in mir erwachen.
     Ich  sah das Buch auf dem Tische liegen und wünschte mir im Geiste  die
Hand dazu, die es aus der Tasche gezogen und mir gereicht hatte.
     Nicht einmal, ob sie einen Handschuh getragen, ob sie entblößt gewesen,
ob jung  oder runzlig,  mit Ringen  geschmückt oder nicht,  konnte  ich mich
entsinnen.
     Da kam mir ein seltsamer Einfall.
     Wie eine Eingebung war es, der man nicht widerstehen darf.
     Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus auf den
Gang  und die  Treppen  hinab. Dann  kam ich  langsam wieder  zurück in mein
Zimmer.
     Langsam, ganz langsam, so wie er, als er gekommen war. Und als  ich die
Tür öffnete, da sah  ich, daß meine Kammer voll  Dämmerung lag.  War es denn
nicht heller Tag noch gewesen, als ich soeben hinausging?
     Wie lange mußte ich  da gegrübelt haben,  daß ich  nicht bemerkte,  wie
spät es ist!
     Und  ich versuchte den Unbekannten  nachzuahmen in Gang und  Mienen und
konnte mich an sie doch gar nicht erinnern. -
     Wie  sollte es  mir  auch  glücken, ihn  nachzuahmen, wenn  ich  keinen
Anhaltspunkt mehr hatte, wie er ausgesehen haben mochte.
     Aber es kam anders. Ganz anders, als ich dachte.
     Meine Haut, meine  Muskeln, mein Körper erinnerten sich plötzlich, ohne
es dem Gehirn zu  verraten. Sie machten Bewegungen,  die ich  nicht wünschte
und nicht beabsichtigte.
     Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehörten!
     Mit einem  Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, als  ich
ein paar Schritte im Zimmer machte.
     Das ist  der  Gang  eines  Menschen, der  beständig  im  Begriffe  ist,
vornüber zu fallen, sagte ich mir.
     Ja, ja, ja, so war sein Gang!
     Ganz deutlich wußte ich: so ist er.
     Ich   trug   ein   fremdes,  bartloses   Gesicht   mit  hervorstehenden
Backenknochen und schaute aus schrägstehenden Augen.
     Ich fühlte es und konnte mich doch nicht sehen.
     Das ist nicht mein  Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien, wollte es
betasten, doch meine Hand folgte meinem Willen nicht und senkte sich  in die
Tasche und holte ein Buch hervor.
     Ganz so, wie er es vorhin getan hatte. -
     Da plötzlich sitze ich wieder ohne  Hut, ohne Mantel, am Tische und bin
ich. Ich, ich.
     Athanasius Pernath.
     Grausen   und  Entsetzen   schüttelten  mich,  mein  Herz   raste   zum
Zerspringen, und ich fühlte: gespenstische Finger, die soeben noch in meinem
Gehirn herumgetastet, haben von mir abgelassen.
     Noch spürte ich im Hinterkopf die kalten Spuren ihrer Berührung. -
     Nun  wußte ich, wie der  Fremde war, und  ich  hätte  ihn wieder in mir
fühlen können, - jeden Augenblick -  wenn ich  nur gewollt hätte;  aber sein
Bild  mir vorzustellen, daß  ich  es vor mir sehen  würde Auge in Auge - das
vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie können.
     Es ist  wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren
Linien ich nicht erfassen kann - in die ich selber hineinschlüpfen muß, wenn
ich mir ihrer Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich  bewußt werden will
- -
     In der Schublade meines Tisches stand eine eiserne Kassette; - in diese
wollte  ich  das  Buch sperren und erst,  wenn  der  Zustand  der  geistigen
Krankheit  von mir gewichen sein würde, wollte ich es wieder hervorholen und
an die Ausbesserung des zerbrochenen Initialen "I" gehen.
     Und ich nahm das Buch vom Tisch.
     Da war mir, als hätte ich es gar nicht angefaßt; ich griff die Kassette
an: dasselbe  Gefühl. Als müßte das Tastempfinden  eine lange, lange Strecke
voll tiefer Dunkelheit durchlaufen, ehe es in meinem Bewußtsein mündete, als
seien  die  Dinge  durch eine jahresgroße  Zeitschicht  von mir entfernt und
gehörten einer Vergangenheit an, die längst an mir vorübergezogen!
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     Die Stimme,  die nach mir suchend in der Finsternis kreist, um mich mit
dem fettigen Stein zu quälen,  ist  an mir vorbeigekommen und hat mich nicht
gesehen. Und ich weiß, daß sie  aus dem Reiche des Schlafes stammt. Aber was
ich erlebt, das war  wirkliches Leben, -  darum konnte sie mich  nicht sehen
und sucht vergeblich nach mir, fühle ich.

     Neben  mir  stand der  Student Charousek,  den  Kragen  seines  dünnen,
fadenscheinigen Überziehers aufgeschlagen, und ich  hörte, wie ihm vor Kälte
die Zähne aufeinanderschlugen.
     Er kann sich  den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen,  sagte
ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinüber in meine Wohnung zu kommen.
     Er aber lehnte ab.
     "Ich danke Ihnen, Meister Pernath," murmelte er fröstelnd, "leider habe
ich nicht mehr so viel Zeit übrig;  - ich muß  eilends in die Stadt. -  Auch
würden wir bis auf die Haut naß, wenn wir jetzt auf die Gasse treten wollten
- schon  nach wenigen  Schritten!  - -  Der Platzregen will nicht  schwächer
werden!"
     Die  Wasserschauer  fegten  über  die  Dächer hin  und  liefen  an  den
Gesichtern der Häuser herunter wie ein Tränenstrom.
     Wenn ich  den Kopf ein wenig vorbog, konnte  ich da  drüben im  vierten
Stock  mein  Fenster  sehen, das, vom Regen  überrieselt,  aussah, als seien
seine  Scheiben  aufgeweicht, -  undurchsichtig  und  höckerig  geworden wie
Hausenblase.
     Ein  gelber  Schmutzbach floß die Gasse herab, und  der Torbogen füllte
sich mit  Vorübergehenden,  die alle  das Nachlassen  des Unwetters abwarten
wollten.
     "Dort schwimmt ein  Brautbukett", sagte plötzlich Charousek und deutete
auf einen Strauß aus welken Myrten, der in dem Schmutzwasser vorbeigetrieben
kam.
     Darüber lachte jemand hinter uns laut auf.
     Als ich  mich umdrehte, sah ich, daß es  ein alter, vornehm gekleideter
Herr mit weißem Haar und einem aufgedunsenen,  krötenartigen Gesicht gewesen
war.
     Charousek  blickte  ebenfalls einen Augenblick zurück und brummte etwas
vor sich hin.
     Unangenehmes ging von dem Alten aus; - ich wandte  meine Aufmerksamkeit
von ihm ab und musterte  die mißfarbigen Häuser, die da vor meinen Augen wie
verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten.
     Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!
     Ohne  Überlegung hingebaut standen  sie  da,  wie Unkraut, das aus  dem
Boden dringt.
     An  eine   niedrige,  gelbe  Steinmauer,  den  einzigen  standhaltenden
Überrest  eines früheren, langgestreckten  Gebäudes, hat man sie angelehnt -
vor zwei,  drei  Jahrhunderten, wie es  eben  kam,  ohne  Rücksicht  auf die
übrigen   zu   nehmen.   Dort   ein   halbes,   schiefwinkliges   Haus   mit
zurückspringender Stirn; - ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn.
     Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, und man
spülte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen
ausstrahlt,  wenn  der Nebel der  Herbstabende in den  Gassen liegt und  ihr
leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.
     In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck  in
mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des
Nachts  und im frühesten Morgengrauen  für  sie  gäbe,  wo  sie  erregt eine
lautlose,  geheimnisvolle  Beratung  pflegen.  Und  manchmal  fährt  da  ein
schwaches Beben durch  ihre Mauern, das sich  nicht erklären läßt, Geräusche
laufen über  ihre Dächer  und fallen  in den Regenrinnen  nieder, - und  wir
nehmen  sie mit stumpfen  Sinnen  achtlos hin,  ohne nach ihrer  Ursache  zu
forschen.
     Oft träumte mir, ich hätte diese  Häuser  belauscht in ihrem spukhaften
Treiben  und  mit angstvollem  Staunen  erfahren,  daß  sie die  heimlichen,
eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäußern
und es wieder an sich ziehen können,  - es  tagsüber den Bewohnern, die hier
hausen,  borgen,  um  es  in   kommender  Nacht   mit  Wucherzinsen   wieder
zurückzufordern.
     Und lasse ich die seltsamen Menschen, die  in ihnen wohnen wie Schemen,
wie Wesen - nicht von Müttern geboren, - die in ihrem Denken und Tun wie aus
Stücken wahllos zusammengefügt scheinen, im Geiste an mir vorüberziehen,  so
bin ich mehr denn  je  geneigt zu glauben, daß solche Träume  in sich dunkle
Wahrheiten bergen, die  mir im Wachsein nur noch wie Eindrücke  von farbigen
Märchen in der Seele fortglimmen.
     Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem
künstlichen   Menschen,   wieder   auf,  den   einst  hier  im   Getto   ein
kabbalakundiger  Rabbiner  aus   dem  Elemente  formte  und  ihn   zu  einem
gedankenlosen  automatischen  Dasein  berief,  indem  er  ihm ein  magisches
Zahlenwort hinter die Zähne schob.
     Und wie jener Golem zu einem Lehmbild  in derselben Sekunde  erstarrte,
in der die geheime  Silbe des  Lebens  aus seinem  Munde  genommen ward,  so
müßten auch, dünkt mich,  alle  diese Menschen entseelt  in einem Augenblick
zusammenfallen,    löschte    man   irgendeinen    winzigen   Begriff,   ein
nebensächliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen,
bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gänzlich Unbestimmtes,
Haltloses - in ihrem Hirn aus.
     Was  ist dabei für  ein immerwährendes, schreckhaftes  Lauern in diesen
Geschöpfen!
     Niemals  sieht  man sie arbeiten, diese  Menschen, und dennoch sind sie
früh beim ersten Leuchten  des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem
- wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.
     Und hat  es wirklich  einmal den Anschein,  als  träte jemand in  ihren
Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern könnten, dann fällt
plötzlich eine lähmende  Angst  über sie  her,  scheucht  sie in ihre Winkel
zurück und läßt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.
     Niemand scheint schwach genug, daß ihnen noch  so viel Mut bliebe, sich
seiner zu bemächtigen.
     "Entartete,  zahnlose  Raubtiere,  von  denen die Kraft und  die  Waffe
genommen ist", sagte Charousek zögernd und sah mich an. -
     Wie konnte er wissen, woran ich dachte? -
     So  stark  facht man zuweilen seine Gedanken an, daß sie imstande sind,
auf  das  Gehirn  des  Nebenstehenden überzuspringen wie  sprühende  Funken,
fühlte ich.
     "- - - wovon sie nur leben mögen?" sagte ich nach einer Weile.
     "Leben? Wovon? Mancher unter ihnen ist ein Millionär!"
     Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen!
     Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken.
     Für  einen   Augenblick  hatte  das  Stimmengemurmel  in  dem  Torbogen
gestockt, und man hörte bloß das Zischen des Regens.
     Was er nur damit sagen will: "Mancher unter ihnen ist ein Millionär!?"
     Wieder war es, als hätte Charousek meine Gedanken erraten. Er wies nach
dem Trödlerladen neben uns, an dem das Wasser den Rost des Eisengerümpels in
fließenden, braunroten Pfützen vorbeispülte.
     "Aaron  Wassertrum! Er zum  Beispiel ist  Millionär, - fast ein Drittel
der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen Sie es denn nicht, Herr Pernath?!"
     Mir blieb  förmlich der  Atem im Mund  stecken. "Aaron Wassertrum!  Der
Trödler Aaron Wassertrum Millionär?!"
     "Oh, ich kenne ihn genau", fuhr Charousek verbissen fort, und als hätte
er nur darauf gewartet, daß ich ihn frage. "Ich kannte auch seinen Sohn, den
Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm  gehört? Von Dr. Wassory, dem - berühmten
- Augenarzt?  -  Vor einem Jahr noch hat  die ganze Stadt begeistert von ihm
gesprochen,  - von dem großen - -  Gelehrten.  Niemand wußte damals,  daß er
seinen  Namen  abgelegt und  früher Wassertrum geheißen. -  Er spielte  sich
gerne auf den weitabgewandten Mann der Wissenschaft  hinaus, und wenn einmal
auf Herkunft die Rede kam, warf er bescheiden und tiefbewegt  so  mit halben
Worten hin,  daß  sein  Vater  noch aus dem  Getto  stamme,  - sich aus  den
niedrigsten Anfängen  heraus unter  Kummer aller  Art und unsäglichen Sorgen
empor ans Licht habe arbeiten müssen.
     Ja! Unter Kummer und Sorgen!
     Unter  wessen  Kummer  und  unsäglichen  Sorgen  aber  und mit  welchen
Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt!
     Ich aber weiß, was es mit dem Getto für eine Bewandtnis hat!" Charousek
faßte meinen Arm und schüttelte ihn heftig.
     "Meister Pernath, ich bin so arm, daß ich es selbst kaum mehr begreife;
ich  muß halbnackt gehen wie ein Vagabund,  sehen Sie  her, und ich bin doch
Student der Medizin, - bin doch ein gebildeter Mensch!"
     Er riß seinen  Überzieher  auf und ich sah zu meinem Entsetzen, daß  er
weder Hemd noch Rock anhatte und den Mantel über der nackten Haut trug.
     "Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allmächtigen,
angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte,  - und noch heute  ahnt keiner, daß
ich, ich der eigentliche Urheber war.
     Man meint in  der  Stadt, ein gewisser  Dr. Savioli sei es gewesen, der
seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbstmord getrieben
hat. - Dr. Savioli war nichts als  mein Werkzeug, sage ich Ihnen. Ich allein
habe den Plan  erdacht  und das Material  zusammengetragen, habe die Beweise
geliefert und  leise  und unmerklich  Stein  um  Stein  in dem  Gebäude  Dr.
Wassorys  gelockert, bis  der Zustand erreicht war, wo kein Geld  der  Erde,
keine List des Gettos mehr vermocht hätten, den Zusammenbruch, zu dem es nur
noch eines unmerklichen Anstoßes bedurfte, abzuwenden.
     Wissen Sie, so - so wie man Schach spielt.
     Gerade so wie man Schach spielt.
     Und niemand weiß, daß ich es war!
     Den  Trödler Aaron Wassertrum, den läßt wohl manchmal  eine  furchtbare
Ahnung nicht schlafen, daß  einer,  den er  nicht kennt, der immer in seiner
Nähe ist  und den er doch nicht fassen kann, - ein anderer als Dr. Savioli -
die Hand im Spiele gehabt haben müsse.
     Wiewohl  Wassertrum einer von  jenen ist, deren  Augen  durch Mauern zu
schauen  vermögen, so  faßt  er  es  doch nicht,  daß  es Gehirne  gibt, die
auszurechnen imstande sind,  wie man mit  langen, unsichtbaren,  vergifteten
Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an Gold und Edelsteinen
vorbei, um die verborgene Lebensader zu treffen."
     Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wild.
     "Aaron Wassertrum wird es  bald  erfahren; genau an dem Tage, an dem er
Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage!
     Auch  diese Schachpartie  habe ich ausgerechnet  bis zum letzten Zug. -
Diesmal wird es ein Königsläufergambit sein.  Da gibt es keinen einzigen Zug
bis  zum  bittern  Ende,  gegen den ich  nicht eine  verderbliche Entgegnung
wüßte.
     Wer sich mit mir in ein solches Königsläufergambit einläßt,  der  hängt
in der Luft, sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an feinen Fäden, -
an Fäden,  die ich zupfe, - hören Sie  wohl,  die ich zupfe,  und mit dessen
freiem Willen ist's dahin."
     Der Student redete wie im Fieber, und ich sah ihm entsetzt ins Gesicht.
     "Was haben Ihnen  Wassertrum  und sein Sohn denn getan, daß Sie so voll
Haß sind?"
     Charousek wehrte heftig ab:
     "Lassen wir das - fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals gebrochen
hat! -  Oder wünschen  Sie, daß  wir ein andres  Mal darüber sprechen? - Der
Regen hat nachgelassen. Vielleicht wollen Sie nach Hause gehen?"
     Er senkte seine Stimme, wie jemand,  der plötzlich ganz ruhig wird. Ich
schüttelte den Kopf.
     "Haben  Sie jemals  gehört, wie man heutzutage den grünen Star heilt? -
Nicht?  - So muß  ich  Ihnen  das  deutlich  machen, damit  Sie alles  genau
verstehen, Meister Pernath!
     Hören  Sie zu: Der ›grüne Star‹  also ist eine bösartige Erkrankung des
Augeninnern,  die  mit  Erblinden  endet,  und  es gibt nur ein  Mittel, dem
Fortschreiten des Übels Einhalt  zu tun, nämlich die sogenannte Iridektomie,
die darin besteht, daß man aus der Regenbogenhaut des Auges ein keilförmiges
Stückchen herauszwickt.
     Die    unvermeidlichen    Folgen    davon    sind    wohl     greuliche
Blendungserscheinungen,  die  fürs  ganze  Leben  bleiben;  der  Prozeß  des
Erblindens jedoch ist meistens aufgehalten.
     Mit der Diagnose des grünen Stars hat es aber eine eigene Bewandtnis.
     Es gibt  nämlich Zeiten,  besonders bei Beginn  der  Krankheit, wo  die
deutlichsten  Symptome  scheinbar ganz zurücktreten, und  in  solchen Fällen
darf  ein Arzt, obwohl er keine Spur einer  Krankheit  finden  kann, dennoch
niemals  mit Bestimmtheit  sagen, daß  sein Vorgänger,  der  andrer  Meinung
gewesen, sich notwendigerweise geirrt haben müsse.
     Hat aber einmal die erwähnte Iridektomie, die sich natürlich genauso an
einem gesunden Auge wie an  einem  kranken ausführen läßt, stattgefunden, so
kann  man  unmöglich  mehr  feststellen,  ob  früher  wirklich  grüner  Star
vorgelegen hat oder nicht.
     Und  auf  diese  und  noch  andere  Umstände  hatte Dr.  Wassory  einen
scheußlichen Plan aufgebaut.
     Unzählige Male - besonders an  Frauen - konstatierte er grünen Star, wo
harmlose Sehstörungen vorlagen, nur um zu einer Operation zu kommen, die ihm
keine Mühe machte und viel Geld eintrug.
     Da endlich  hatte er vollkommen Wehrlose in der  Hand; da  gehörte  zum
Ausplündern auch keine Spur von Mut mehr!
     Sehen Sie, Meister Pernath,  da  war das degenerierte  Raubtier in jene
Lebensbedingungen  versetzt,  wo es auch  ohne Waffe  und Kraft  seine Opfer
zerfleischen konnte.
     Ohne etwas aufs Spiel  zu setzen! - Begreifen Sie?! Ohne das  geringste
wagen zu müssen!
     Durch eine Menge fauler  Veröffentlichungen  in Fachblättern hatte sich
Dr.  Wassory  in  den  Ruf  eines  hervorragenden  Spezialisten  zu   setzen
verstanden und  sogar  seinen  Kollegen,  die  viel zu arglos und  anständig
waren, um ihn zu durchschauen, Sand in die Augen zu streuen gewußt.
     Ein  Strom  von  Patienten,  die  alle bei ihm  Hilfe  suchten, war die
natürliche Folge.
     Kam  nun  jemand mit geringfügigen Sehstörungen  zu ihm und  ließ  sich
untersuchen, so ging  Dr.  Wassory  sofort mit  tückischer Planmäßigkeit  zu
Werke.
     Zuerst stellte er das übliche Krankenverhör an, notierte aber geschickt
immer nur, um für  alle  Fälle gedeckt  zu  sein, jene  Antworten, die  eine
Deutung auf grünen Star zuließen.
     Und  vorsichtig  sondierte er, ob  nicht  schon  eine frühere  Diagnose
vorläge.
     Gesprächsweise  ließ er  einfließen, daß  ein  dringender  Ruf aus  dem
Auslande behufs wichtiger wissenschaftlicher Maßnahmen an ihn  ergangen  sei
und er daher schon morgen verreisen müsse. -
     Bei  der Augenspiegelung mit elektrischen Lichtstrahlen, die  er sodann
vornahm, bereitete er dem Kranken absichtlich so viel Schmerzen wie möglich.
     Alles mit Vorbedacht! Alles mit Vorbedacht!
     Wenn das Verhör  vorüber und die  übliche bange Frage des Patienten, ob
Grund  zur Befürchtung vorhanden  sei,  erfolgt war,  da tat  Wassory seinen
ersten Schachzug.
     Er setzte sich dem Kranken gegenüber, ließ eine Minute verstreichen und
sprach dann gemessen und mit sonorer Stimme den Satz:
     "Erblindung  beider Augen  ist bereits in  der allernächsten Zeit  wohl
unvermeidlich!"
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     Die Szene, die naturgemäß folgte, war entsetzlich.
     Oft fielen  die Leute in Ohnmacht, weinten und  schrien und warfen sich
in wilder Verzweiflung zu Boden.
     Das Augenlicht verlieren, heißt alles verlieren.
     Und  wenn der wiederum übliche  Moment eintrat,  wo  das arme Opfer die
Knie Dr. Wassorys umklammerte und flehte, ob  es  denn auf Gottes  Erde  gar
keine  Hilfe  mehr  gäbe,  da  tat  die  Bestie den  zweiten  Schachzug  und
verwandelte sich selbst in jenen - Gott, der helfen konnte!
     Alles, alles in der Welt ist wie ein Schachzug, Meister Pernath! -
     Schleunigste  Operation,  sagte Dr. Wassory dann  nachdenklich, sei das
einzige,  was vielleicht  Rettung  bringen  könne,  und  mit  einer  wilden,
gierigen Eitelkeit, die plötzlich  über ihn  kam,  erging er  sich mit einem
Redeschwall  in  weitschweifigem  Ausmalen dieses und jenes Falles, die alle
mit dem  vorliegenden eine ungemein große  Ähnlichkeit  gehabt hätten, - wie
unzählige  Kranke  ihm  allein die Erhaltung des Augenlichts verdankten  und
dergleichen mehr.
     Er  schwelgte förmlich  in  dem  Gefühl,  für  eine  Art höheren Wesens
gehalten  zu werden,  in dessen Hände das Wohl  und Wehe seines  Mitmenschen
gelegt ist.
     Das hilflose Opfer aber saß, das Herz voll brennender Fragen, gebrochen
vor ihm, Angstschweiß auf der Stirne, und wagte ihm nicht einmal in die Rede
zu  fallen, aus Furcht: ihn -  den einzigen, der noch Hilfe bringen konnte -
zu erzürnen.
     Und mit den Worten, daß er zur Operation leider erst in einigen Monaten
schreiten  könne, wenn er  von seiner  Reise wieder  zurück sei, schloß  Dr.
Wassory seine Rede.
     Hoffentlich - man solle in solchen Fällen immer das Beste hoffen  - sei
es dann nicht zu spät, sagte er.
     Natürlich  sprangen dann die  Kranken entsetzt auf, erklärten,  daß sie
unter gar  keinen Umständen  auch  nur einen Tag länger warten  wollten, und
baten flehentlich  um Rat, wer von den andern Augenärzten in der Stadt sonst
wohl als Operateur in Betracht kommen könnte.
     Da war  der Augenblick  gekommen,  wo  Dr. Wassory  den  entscheidenden
Schlag führte.
     Er ging in tiefem Nachdenken auf und  ab, legte  seine  Stirn in Falten
des  Grams  und  lispelte schließlich bekümmert,  ein Eingriff seitens eines
andern Arztes bedinge  leider  eine  abermalige  Bespiegelung des Auges  mit
elektrischem Licht,  und  das  müsse  - der  Patient  wisse  ja  selbst, wie
schmerzhaft es sei -  wegen der blendenden Strahlen geradezu  verhängnisvoll
wirken.
     Ein  andrer  Arzt also, ganz abgesehen davon, daß  so manchem von ihnen
gerade  in der  Iridektomie die  nötige  Übung  fehle -  dürfe, eben weil er
wiederum von neuem  untersuchen müsse,  gar nicht vor Ablauf  längerer Zeit,
bis sich die Sehnerven wieder erholt hätten, zu einem chirurgischen Eingriff
schreiten."
     Charousek ballte die Fäuste.
     "Das  nennen  wir  in  der  Schachsprache  ›Zugzwang‹,  lieber  Meister
Pernath! - - Was weiter folgte, war wiederum Zugzwang, - ein erzwungener Zug
nach dem andern.
     Halb  wahnsinnig  vor Verzweiflung  beschwor  nun der  Patient den  Dr.
Wassory,  er  möge  doch  Erbarmen  haben,  einen  Tag  nur   seine  Abreise
verschieben und die  Operation selber  vornehmen.  - Es  handle sich doch um
mehr  als  um  schnellen   Tod,  die  grauenhafte,  folternde  Angst,  jeden
Augenblick erblinden zu  müssen,  sei  ja  das  Schrecklichste, was es geben
könne.
     Und  je  mehr  das  Scheusal sich sträubte und jammerte:  ein  Aufschub
seiner Reise könne  ihm unabsehbaren  Schaden bringen,  desto  höhere Summen
boten freiwillig die Kranken.
     Schien schließlich  die  Summe Dr. Wassory hoch genug, gab er  nach und
fügte bereits am selben Tage,  ehe noch ein  Zufall  seinen  Plan  aufdecken
konnte,  den  Bedauernswerten  an beiden gesunden  Augen  jenen  unheilbaren
Schaden  zu, jenes immerwährende Gefühl des Geblendetseins, das das Leben zu
stetiger Qual gestalten mußte, die Spuren des Schurkenstreiches aber ein für
allemal verwischte.
     Durch  solche Operationen an gesunden Augen vermehrte Dr. Wassory nicht
nur seinen Ruhm  und seinen Ruf  als  unvergleichlicher  Arzt,  dem es  noch
jedesmal gelungen sei, die drohende Erblindung aufzuhalten, - es befriedigte
gleichzeitig seine maßlose  Geldgier und frönte  seiner Eitelkeit, wenn  die
ahnungslosen, an Körper  und Vermögen geschädigten Opfer zu ihm wie zu einem
Helfer aufsahen und ihn als Retter priesen.
     Nur  ein Mensch, der  mit  allen  Fasern im Getto und seinen zahllosen,
unscheinbaren,  jedoch   unüberwindlichen  Hilfsquellen   wurzelte  und  von
Kindheit an gelernt hat, auf  der Lauer zu liegen wie eine Spinne, der jeden
Menschen in  der Stadt kannte  und  bis  ins kleinste  seine Beziehungen und
Vermögensverhältnisse   erriet  und  durchschaute,  -  nur   ein  solcher  -
"Halbhellseher" möchte man es beinahe  nennen, - konnte jahrelang  derartige
Scheußlichkeiten verüben.
     Und  wäre  ich nicht  gewesen, bis heute triebe  er sein Handwerk noch,
würde es  bis  ins  hohe  Alter  weiterbetrieben haben, um  schließlich  als
ehrwürdiger  Patriarch im  Kreise seiner  Lieben, angetan  mit hohen  Ehren,
künftigen  Geschlechtern  ein  leuchtendes  Vorbild,  seinen  Lebensabend zu
genießen, bis  - bis endlich auch über ihn das große Verrecken hinweggezogen
wäre.
     Ich aber wuchs ebenfalls im Getto auf, und auch mein Blut ist mit jener
Atmosphäre höllischer List gesättigt,  und so vermochte  ich ihn  zu Fall zu
bringen, - so wie die Unsichtbaren einen Menschen zu Fall bringen, - wie aus
heiterm Himmel heraus ein Blitz trifft.
     Dr.  Savioli,  ein  junger  deutscher  Arzt,   hat  das  Verdienst  der
Entlarvung, -  ihn  schob ich vor  und häufte Beweis auf Beweis, bis der Tag
anbrach, wo der Staatsanwalt seine Hand nach Dr. Wassory ausstreckte.
     Da beging die Bestie Selbstmord! - Gesegnet sei die Stunde!
     Als  hätte  mein  Doppelgänger  neben  ihm  gestanden und ihm  die Hand
geführt, nahm  er  sich  das  Leben  mit  jener Phiole  Amylnitrit, die  ich
absichtlich  in  seinem   Ordinationszimmer   bei   der   Gelegenheit  hatte
stehenlassen, als ich selbst ihn einmal  verleitet, auch an mir  die falsche
Diagnose des grünen Stars  zu stellen, - absichtlich und  mit dem  glühenden
Wunsche, daß es  dieses  Amylnitrit sein möchte,  das  ihm  den letzten Stoß
geben sollte.
     Der Gehirnschlag hätte ihn getroffen, hieß es in der Stadt.
     Amylnitrit tötet, eingeatmet, wie Gehirnschlag.  Aber  lange konnte das
Gerücht nicht aufrechterhalten werden."
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     Charousek  starrte plötzlich geistesabwesend, als habe er  sich in  ein
tiefes  Problem verloren,  vor sich hin, dann  zuckte er mit der Achsel nach
der Richtung, wo Aaron Wassertrums Trödlerladen lag.
     "Jetzt ist er allein,"  murmelte er, "ganz allein mit seiner Gier und -
und - und mit der Wachspuppe!"
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     Mir schlug das Herz bis zum Hals.
     Ich sah Charousek voll Entsetzen an.
     War er wahnsinnig? Es mußten Fieberphantasien sein, die ihn diese Dinge
erfinden ließen.
     Gewiß, gewiß! Er hat alles erfunden, geträumt!
     Es  kann nicht wahr  sein,  was  er da  über den Augenarzt Grauenhaftes
erzählt  hat.  Er  ist schwindsüchtig, und die Fieber  des Todes  kreisen in
seinem Hirn.
     Und  ich  wollte ihn mit ein paar scherzenden  Worten beruhigen,  seine
Gedanken in eine freundliche Richtung lenken.
     Da fuhr, noch ehe ich die Worte fand, wie ein Blitz in meine Erinnerung
das Gesicht Wassertrums mit der gespaltenen Oberlippe, wie es damals in mein
Zimmer  mit  runden  Fischaugen  durch  die aufgerissene Tür  hereingeschaut
hatte.
     Dr.  Savioli!  Dr.  Savioli! - ja, ja, so war auch  der Name des jungen
Mannes gewesen, den mir  der Marionettenspieler  Zwakh  flüsternd anvertraut
als den des vornehmen Zimmerherrn, der von ihm das Atelier gemietet hatte.
     Dr. Savioli! -  Wie  ein Schrei tauchte es in meinem  Innern auf.  Eine
Reihe  nebelhafter   Bilder  zuckte  durch  meinen  Geist,  jagte  sich  mit
schreckhaften Vermutungen, die auf mich einstürmten.
     Ich wollte Charousek fragen,  ihm  voll Angst rasch alles erzählen, was
ich  damals  erlebt, da sah ich, daß ein heftiger  Hustenanfall  sich seiner
bemächtigt hatte und ihn fast umwarf. Ich konnte nur noch unterscheiden, wie
er  sich  mühsam  mit  den  Händen  an  der  Mauer  stützend  in  den  Regen
hinaustappte und mir einen flüchtigen Gruß zunickte.
     Ja,  ja,  er hat  recht, er sprach nicht im Fieber, - fühlte ich, - das
unfaßbare Gespenst des Verbrechens ist  es, das durch diese Gassen schleicht
Tag und Nacht und sich zu verkörpern sucht.
     Es liegt in der Luft, und wir sehen es nicht. Plötzlich schlägt es sich
nieder in einer Menschenseele, - wir ahnen es nicht, - da, dort, und ehe wir
es fassen können, ist es gestaltlos geworden und alles längst vorüber.
     Und  nur  noch  dunkle Worte  über irgendein  entsetzliches  Geschehnis
kommen an uns heran.
     Mit einem  Schlage begriff ich diese  rätselhaften Geschöpfe, die rings
um  mich  wohnten, in  ihrem innersten  Wesen: sie treiben  willenlos durchs
Dasein  von einem unsichtbaren magnetischen Strom  belebt - - so, wie vorhin
das Brautbukett in dem schmutzigen Rinnsal vorüberschwamm.
     Mir war, als  starrten die Häuser alle mit  tückischen  Gesichtern voll
namenloser  Bosheit  auf  mich herüber, -  die  Tore:  aufgerissene schwarze
Mäuler,  aus  denen  die  Zungen  ausgefault  waren,  -  Rachen,  die  jeden
Augenblick   einen  gellenden  Schrei  ausstoßen  konnten,  so  gellend  und
haßerfüllt, daß es uns bis ins Innerste erschrecken müßte.
     Was hatte zum Schluß noch  der Student  über den  Trödler gesagt? - Ich
flüsterte  mir  seine  Worte vor: -  Aaron  Wassertrum sei  jetzt allein mit
seiner Gier und - - seiner Wachspuppe.
     Was kann er nur mit der Wachspuppe gemeint haben?
     Es muß  ein Gleichnis gewesen  sein, beschwichtigte ich  mich,  - eines
jener krankhaften Gleichnisse, mit denen er einen  zu überfallen pflegt, die
man nicht versteht,  und  die einen,  wenn sie  später  unerwartet  sichtbar
werden, so tieferschrecken können wie die  Dinge  von ungewohnter  Form, auf
die plötzlich ein greller Lichtstreif fällt.
     Ich holte tief Atem, um mich zu beruhigen und den furchtbaren Eindruck,
den mir Charouseks Erzählung verursacht hatte, abzuschütteln.
     Ich sah die  Leute genauer  an, die mit  mir in dem Hausflur  warteten:
Neben  mir  stand jetzt  der dicke  Alte. Derselbe, der vorhin  so widerlich
gelacht hatte.
     Er  hatte einen  schwarzen  Gehrock an  und  Handschuhe und starrte mit
vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses gegenüber.
     Sein  glattrasiertes Gesicht mit den breiten, gemeinen Zügen zuckte vor
Erregung.
     Unwillkürlich  folgte ich  seinen  Blicken und bemerkte,  daß  sie  wie
gebannt  an der rothaarigen Rosina hingen,  die drüben  jenseits  der  Gasse
stand, ihr immerwährendes Lächeln um die Lippen.
     Der Alte war bemüht, ihr Zeichen zu geben, und ich sah, daß sie es wohl
wußte, aber sich benahm, als verstünde sie nicht.
     Endlich hielt es der Alte nicht länger aus, watete  auf den  Fußspitzen
hinüber  und hüpfte  mit lächerlicher Elastizität  wie ein  großer schwarzer
Gummiball über die Pfützen.
     Man schien ihn zu kennen, denn ich hörte allerhand Glossen fallen,  die
darauf hinzielten. Ein  Strolch  hinter mir, ein rotes, gestricktes  Tuch um
den Hals, mit  blauer Militärmütze, die Virginia hinter dem Ohr,  machte mit
grinsendem Mund Anspielungen, die ich nicht verstand.
     Ich  begriff nur, daß sie den Alten in der  Judenstadt den "Freimaurer"
nannten  und  in  ihrer  Sprache mit  diesem  Spitznamen  jemand  bezeichnen
wollten, der sich an halbwüchsigen Mädchen  zu vergehen  pflegt, aber  durch
intime Beziehungen zur Polizei vor jeder Strafe sicher ist. - - -
     Dann  waren  das Gesicht  Rosinas und  der  Alte drüben  im  Dunkel des
Hausflures verschwunden.

     Wir  hatten das Fenster geöffnet, um den Tabakrauch aus meinem  kleinen
Zimmer strömen zu lassen.
     Der kalte Nachtwind blies herein und  wehte an die zottigen Mäntel, die
an der Türe hingen, daß sie leise hin und her schwankten.
     "Prokops würdige Haupteszierde möchte am liebsten  davonfliegen", sagte
Zwakh und deutete auf des Musikers  großen Schlapphut, der die breite Krempe
bewegte wie schwarze Flügel.
     Josua Prokop zwinkerte lustig mit den Augenlidern.
     "Er will," sagte er, "er will wahrscheinlich - - -"
     "Er will zum  ›Loisitschek‹ zur Tanzmusik",  nahm  ihm Vrieslander  das
Wort vorweg.
     Prokop lachte und schlug mit  der Hand den Takt zu den Klängen, die die
dünne Winterluft her über die Dächer trug.
     Dann  nahm  er meine alte, zerbrochene  Gitarre von der Wand, tat,  als
zupfe  er  die  zerbrochenen Saiten  und sang  mit  kreischendem Falsett und
gespreizter Betonung in Rotwelsch ein wunderliches Lied:
     "An Bein-del von Ei-sen
     recht alt
     "An Stran-zen net gar
     a so kalt
     "Messinung, a' Räucherl
     und Rohn
     "und immerrr nurr putz-en - - -
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     "Wie  großartig er mit einem  Mal  die  Gaunersprache  beherrscht!" und
Vrieslander lachte laut auf und brummte mit:
     "Und stok-en sich Aufzug
     und Pfiff
     "Und schmallern an eisernes
     G'süff.
     "Juch, -
     "Und Handschuhkren, Harom net san - -
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     "Dieses  kuriose  Lied  schnarrt  jeden  Abend beim  ›Loisitschek‹  der
meschuggene  Nephtali  Schaffranek  mit  dem  grünen  Augenschirm,  und  ein
geschminktes Weibsbild spielt Harmonika und grölt den  Text dazu",  erklärte
mir Zwakh. "Sie sollten auch einmal mit uns in diese Schenke gehen,  Meister
Pernath. Später vielleicht,  wenn  wir  mit dem Punsch zu Ende  sind,  - was
meinen Sie? Zur Feier Ihres heutigen Geburtstages?"
     "Ja, ja, kommen Sie nachher  mit  uns", sagte  Prokop  und  klinkte das
Fenster zu, - "man muß so etwas gesehen haben."
     Dann tranken wir den heißen Punsch und hingen unsern Gedanken nach.
     Vrieslander schnitzte an einer Marionette.
     "Sie  haben  uns  förmlich  von  der Außenwelt  abgeschnitten,  Josua,"
unterbrach  Zwakh die Stille,  "seit Sie das Fenster geschlossen haben,  hat
niemand mehr ein Wort gesprochen."
     "Ich  dachte nur  darüber  nach, als  vorhin die  Mäntel so flogen, wie
seltsam  es  ist,  wenn der Wind  leblose  Dinge  bewegt," antwortete Prokop
schnell, wie um sich wegen seines Schweigens zu entschuldigen: "Es sieht gar
so wunderlich aus, wenn Gegenstände plötzlich zu flattern anheben, die sonst
immer tot daliegen. Nicht? - Ich  sah einmal auf einem menschenleeren  Platz
zu, wie große Papierfetzen, - ohne daß  ich vom Winde etwas spürte, denn ich
stand durch  ein Haus gedeckt, - in  toller Wut  im Kreise  herumjagten  und
einander  verfolgten,  als  hätten  sie  sich  den  Tod  geschworen.   Einen
Augenblick später schienen  sie sich beruhigt  zu haben, aber plötzlich  kam
wieder eine wahnwitzige Erbitterung über sie, und in sinnlosem Grimm  rasten
sie umher,  drängten  sich in einen Winkel  zusammen,  um von neuem besessen
auseinander zu stieben und schließlich hinter einer Ecke zu verschwinden.
     Nur eine  dicke  Zeitung  konnte nicht mitkommen;  sie  blieb  auf  dem
Pflaster liegen und klappte haßerfüllt  auf und  zu,  als sei  ihr  der Atem
ausgegangen und als schnappe sie nach Luft.
     Ein dunkler  Verdacht stieg damals in mir auf:  was,  wenn am  Ende wir
Lebewesen auch so etwas Ähnliches wären wie solche Papierfetzen? -  Ob nicht
vielleicht  ein  unsichtbarer, unbegreiflicher  "Wind"  auch uns hin und her
treibt und unsre Handlungen bestimmt, während wir in unserer Einfalt glauben
unter eigenem, freiem Willen zu stehen?
     Wie,  wenn das Leben in uns nichts  anderes  wäre als  ein rätselhafter
Wirbelwind? Jener  Wind,  von dem  die  Bibel  sagt: Weißt du, von wannen er
kommt und wohin er geht? - - - Träumen wir nicht auch zuweilen, wir  griffen
in  tiefes  Wasser  und fingen  silberne  Fische,  und  nichts  anderes  ist
geschehen, als daß ein kalter Luftzug unsere Hände traf?"
     "Prokop, Sie  sprechen in  Worten  wie Pernath, was ist's  mit  Ihnen?"
sagte Zwakh und sah den Musiker mißtrauisch an.
     "Die Geschichte vom Buch Ibbur, die vorhin erzählt wurde, - schade, daß
Sie so  spät kamen und  sie nicht  mit anhörten,  - hat ihn  so nachdenklich
gestimmt", meinte Vrieslander.
     "Eine Geschichte von einem Buche?"
     "Eigentlich von  einem  Menschen,  der  ein Buch  brachte  und  seltsam
aussah. - Pernath weiß nicht, wie er heißt, wo  er wohnt, was er wollte, und
obwohl sein Aussehen sehr auffallend gewesen  sein soll,  lasse es sich doch
nicht recht schildern."
     Zwakh horchte auf.
     *"Das ist sehr merkwürdig," sagte er  nach einer Pause, "war der Fremde
vielleicht bartlos, und hatte er schrägstehende Augen?"
     "Ich  glaube," antwortete ich, "das heißt, ich -  ich  - weiß  es  ganz
bestimmt. Kennen Sie ihn denn?"
     Der Marionettenspieler schüttelte  den Kopf. "Er erinnerte mich nur  an
den ›Golem‹."
     Der Maler Vrieslander ließ sein Schnitzmesser sinken:
     "Golem? - Ich habe  schon so viel davon reden  hören. Wissen Sie  etwas
über den Golem, Zwakh?"
     "Wer kann sagen, daß  er über den Golem etwas wisse?", antwortete Zwakh
und zuckte die Achseln. "Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines
Tages in  den  Gassen  ein  Ereignis  vollzieht,  das ihn  plötzlich  wieder
aufleben  läßt. Und  eine  Zeitlang spricht  dann  jeder  von  ihm,  und die
Gerüchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so übertrieben und aufgebauscht,
daß  sie schließlich an der  eigenen Unglaubwürdigkeit zugrunde  gehen.  Der
Ursprung der  Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zurück, sagt
man. Nach verlorengegangenen  Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner  da
einen künstlichen Menschen - den sogenannten Golem - verfertigt haben, damit
er  ihm  als Diener helfe  die Glocken in der Synagoge läuten, und allerhand
grobe Arbeit tue.
     Es  sei  aber doch kein  richtiger Mensch daraus  geworden  und nur ein
dumpfes, halbbewußtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heißt, auch das nur
tagsüber und kraft des  Einflusses eines  magischen Zettels, der ihm  hinter
den Zähnen stak und die freien siderischen Kräfte des Weltalls herabzog.
     Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem
Munde des Golem zu nehmen versäumt, da wäre dieser in Tobsucht verfallen, in
der Dunkelheit durch die Gassen gerast und hätte zerschlagen, was ihm in den
Weg gekommen.
     Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.
     Und da  sei das Geschöpf leblos  niedergestürzt.  Nichts blieb  von ihm
übrig   als   die  zwerghafte  Lehmfigur,  die  heute  noch  drüben  in  der
Altneusynagoge gezeigt wird."
     "Derselbe  Rabbiner soll einmal  auch  zum Kaiser  auf die Burg berufen
worden  sein  und  die Schemen  der  Toten  beschworen und  sichtbar gemacht
haben,"  warf Prokop ein,  "moderne  Forscher behaupten, er habe  sich  dazu
einer Laterna magica bedient."
     "Jawohl,  keine Erklärung ist  abgeschmackt  genug,  daß  sie  bei  den
Heutigen  nicht Beifall fände,"  fuhr Zwakh  unbeirrt fort. - "Eine  Laterna
magica!!  Als  ob  Kaiser  Rudolf,  der  sein  ganzes Leben  solchen  Dingen
nachging, einen  so  plumpen  Schwindel  nicht auf  den  ersten  Blick hätte
durchschauen müssen!
     Ich kann  freilich nicht wissen, worauf sich die Golemsage zurückführen
läßt, daß  aber irgend etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel
sein  Wesen  treibt  und  damit  zusammenhängt, dessen  bin  ich sicher. Von
Geschlecht  zu  Geschlecht haben meine Vorfahren hier  gewohnt,  und niemand
kann wohl  auf  mehr  erlebte und ererbte Erinnerungen  an  das  periodische
Auftauchen des Golem zurückblicken als gerade ich!"
     Zwakh hatte  plötzlich  aufgehört zu reden, und man fühlte mit ihm, wie
seine Gedanken in vergangene Zeiten zurückwanderten.
     Wie er, den Kopf aufgestützt,  dort am  Tische saß und beim Scheine der
Lampe  seine  roten, jugendlichen  Bäckchen fremdartig von  dem  weißen Haar
abstachen,  verglich  ich  unwillkürlich  im  Geiste  seine  Züge   mit  den
maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er mir so oft gezeigt.
     Seltsam, wie ähnlich ihnen der alte Mann doch sah!
     Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt!
     Manche Dinge  der Erde können nicht loskommen voneinander,  fühlte ich,
und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vorüberziehen ließ,  da schien
es mir mit  einemmal gespenstisch und  ungeheuerlich, daß ein Mensch wie er,
obschon er  eine  bessere Erziehung als seine Vorfahren  genossen hatte  und
Schauspieler  hätte  werden   sollen,  plötzlich  wieder  zu  dem  schäbigen
Marionettenkasten zurückkehren konnte, um nun abermals auf die Jahrmärkte zu
ziehen  und  dieselben  Puppen,  die   schon  seiner  Vorväter  kümmerliches
Erwerbsmittel gewesen, von  neuem  ihre ungelenken  Verbeugungen machen  und
schläfrigen Erlebnisse vorführen zu lassen.
     Er vermag es  nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich;  sie leben
mit von seinem  Leben, und als  er fern von ihnen war, da haben sie  sich in
Gedanken verwandelt, haben  in seinem Hirn gewohnt und ihn rast- und ruhelos
gemacht, bis er wieder heimkehrte. Darum hält  er sie jetzt so liebevoll und
kleidet sie stolz in Flitter.
     "Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererzählen?" forderte Prokop den Alten
auf und  sah fragend  nach Vrieslander und mir  hin, ob  auch  wir  gleichen
Wunsches seien.
     "Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll,"  meinte  der Alte zögernd, "die
Geschichte mit dem  Golem  läßt sich schwer fassen.  So  wie Pernath  vorhin
sagte:  er wisse genau, wie jener Unbekannte ausgesehen habe, und doch könne
er ihn nicht  schildern. Ungefähr alle  dreiunddreißig Jahre wiederholt sich
ein  Ereignis in unsern Gassen, das gar nichts besonders Aufregendes an sich
trägt  und  dennoch ein Entsetzen  verbreitet, für  das weder eine Erklärung
noch eine Rechtfertigung ausreicht:
     Immer wieder begibt es sich nämlich, daß ein vollkommen fremder Mensch,
bartlos,  von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus,  aus der Richtung
der  Altschulgasse   her,  in  altmodische,  verschossene  Kleider  gehüllt,
gleichmäßigen und  eigentümlich stolpernden Ganges, so, als wolle  er  jeden
Augenblick  vornüber fallen, durch  die Judenstadt schreitet und plötzlich -
unsichtbar wird.
     Gewöhnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden.
     Ein andermal heißt es,  er habe auf seinem Wege einen Kreis beschrieben
und  sei zu dem Punkte  zurückgekehrt, von dem er ausgegangen: einem uralten
Hause in der Nähe der Synagoge.
     Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie  hätten  ihn um eine Ecke auf
sich    zukommen   sehen.   Wiewohl    er   ihnen   aber    ganz    deutlich
entgegengeschritten, sei er dennoch, genau wie  jemand,  dessen Gestalt sich
in  weiter  Ferne  verliert,  immer  kleiner  und  kleiner  geworden  und  -
schließlich ganz verschwunden.
     Vor Sechsundsechzig Jahren nun muß der Eindruck, den er hervorgebracht,
besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich - ich war noch ein ganz
kleiner Junge -, daß  man das Gebäude in der Altschulgasse damals  von  oben
bis unten durchsuchte.
     Es wurde auch festgestellt, daß wirklich in diesem Hause ein Zimmer mit
Gitterfenster vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt.
     Aus allen Fenstern hatte man Wäsche gehängt, um von der Gasse aus einen
Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der Tatsache  auf  die Spur
gekommen.
     Da es  anders nicht zu  erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an einem
Strick vom  Dache herabgelassen,  um hineinzusehen. Kaum aber  war er in die
Nähe  des  Fensters  gelangt,  da   riß  das  Seil,  und   der  Unglückliche
zerschmetterte sich auf dem Pflaster den Schädel. Und als später der Versuch
nochmals wiederholt werden sollte,  gingen die Ansichten  über die  Lage des
Fensters derart auseinander, daß man davon abstand.
     Ich  selber begegnete dem  ›Golem‹ das erste  Mal  in  meinem Leben vor
ungefähr dreiunddreißig Jahren.
     Er kam in einem sogenannten Durchhause  auf mich zu,  und  wir  rannten
fast aneinander.
     Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorgegangen sein
muß. Man  trägt doch  um Gottes willen nicht immerwährend, tagaus tagein die
Erwartung mit sich herum, man werde dem Golem begegnen.
     In jenem Augenblick aber, bestimmt - ganz bestimmt, noch ehe ich seiner
ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf: der  Golem! Und im
selben  Moment stolperte  jemand aus dem Dunkel  des  Torflures  hervor, und
jener  Unbekannte ging  an mir  vorüber. Eine Sekunde später drang eine Flut
bleicher,  aufgeregter   Gesichter  mir  entgegen,  die   mich  mit   Fragen
bestürmten, ob ich ihn gesehen hätte.
     Und  als ich  antwortete, da fühlte ich, daß sich meine  Zunge wie  aus
einem Krampfe löste, von dem ich vorher nichts gespürt hatte.
     Ich war förmlich überrascht, daß ich mich  bewegen konnte, und deutlich
kam  mir  zum Bewußtsein, daß ich mich,  wenn auch  nur  den Bruchteil eines
Herzschlags lang - in einer Art Starrkrampf befunden haben mußte.
     Über all das habe  ich oft und  lange  nachgedacht, und mich dünkt, ich
komme  der  Wahrheit  am nächsten,  wenn ich sage: Immer einmal  in der Zeit
eines  Menschenalters geht  blitzschnell  eine  geistige  Epidemie durch die
Judenstadt,  befällt  die Seelen  der Lebenden zu irgendeinem Zweck, der uns
verhüllt  bleibt,  und  läßt  wie  eine  Luftspiegelung  die  Umrisse  eines
charakteristischen  Wesens  erstehen, das  vielleicht  vorjahrhunderten hier
gelebt hat und nach Form und Gestaltung dürstet.
     Vielleicht ist es  mitten unter uns,  Stunde für Stunde, und wir nehmen
es nicht wahr.  Hören  wir  doch  auch den Ton einer schwirrenden Stimmgabel
nicht, bevor sie das Holz berührt und es mitschwingen macht.
     Vielleicht  ist  es nur so  etwas  wie  ein seelisches  Kunstwerk, ohne
innewohnendes  Bewußtsein, - ein Kunstwerk, das entsteht,  wie  ein Kristall
nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen herauswächst.
     Wer weiß das?
     Wie  in   schwülen  Tagen  die  elektrische  Spannung   sich   bis  zur
Unerträglichkeit steigert und endlich  den Blitz gebiert, könnte es da nicht
sein, daß auch auf die stetige Anhäufung jener niemals wechselnden Gedanken,
die hier  im Getto die Luft  vergiften, eine plötzliche, ruckweise Entladung
folgen  muß? -  eine  seelische Explosion,  die  unser  Traumbewußtsein  ans
Tageslicht peitscht, um -  dort den  Blitz  der Natur - hier ein Gespenst zu
schaffen, das in Mienen, Gang und Gehaben, in allem und jedem das Symbol der
Massenseele  unfehlbar  offenbaren  müßte, wenn man die geheime  Sprache der
Formen nur richtig zu deuten verstünde?
     Und wie mancherlei  Erscheinungen das Einschlagen des Blitzes ankünden,
so  verraten   auch  hier   gewisse   grauenhafte  Vorzeichen  das  drohende
Hereinbrechen jenes Phantoms ins  Reich der  Tat.  Der  abblätternde  Bewurf
einer  alten  Mauer nimmt eine Gestalt an, die  einem  schreitenden Menschen
gleicht; und in Eisblumen am Fenster bilden sich Züge starrer Gesichter. Der
Sand  vom  Dache   scheint  anders  zu  fallen  als  sonst  und  drängt  dem
argwöhnischen Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare Intelligenz, die
sich lichtscheu verborgen hält, werfe ihn herab  und übe  sich in heimlichen
Versuchen,  allerlei  seltsame Umrisse hervorzubringen. - Ruht  das Auge auf
eintönigem Geflecht oder den Unebenheiten der  Haut, bemächtigt  sich  unser
die unerfreuliche Gabe, überall mahnende, bedeutsame Formen zu sehen, die in
unsern Träumen ins Riesengroße auswachsen. Und immer zieht sich durch solche
schemenhaften  Versuche der  angesammelten  Gedankenherden,  die  Wälle  der
Alltäglichkeit  zu durchnagen,  für uns  wie ein  roter  Faden die qualvolle
Gewißheit, daß  unser  eigenstes  Inneres  mit Vorbedacht  und gegen  unsern
Willen ausgesogen wird, nur damit die Gestalt des Phantoms  plastisch werden
könne.
     Wie  ich  nun  vorhin  Pernath  bestätigen  hörte, daß  ihm  ein Mensch
begegnet sei, bartlos, mit schiefgestellten Augen, da stand der "Golem"  vor
mir, wie ich ihn damals gesehen.
     Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir.
     Und eine gewisse dumpfe Furcht, es  stehe  wieder  etwas Unerklärliches
nahe bevor, befiel mich einen Augenblick lang; dieselbe Angst, die ich schon
einmal in meinen Kinderjahren verspürt, als die ersten spukhaften Äußerungen
des Golem ihre Schatten vorauswarfen.
     Sechsundsechzig Jahre ist  das  wohl jetzt her und knüpft sich an einen
Abend, an dem der Bräutigam meiner Schwester  zu Besuch gekommen war, und in
der Familie der Tag der Hochzeit festgesetzt werden sollte.
     Es wurde damals Blei gegossen - zum Scherz - und ich stand mit  offenem
Munde dabei und begriff nicht, was das zu bedeuten habe, - in meiner wirren,
kindlichen Vorstellung brachte ich es in Zusammenhang mit dem Golem, von dem
ich  meinen Großvater  oft hatte erzählen hören, und bildete mir ein,  jeden
Augenblick müsse die Tür aufgehen und der Unbekannte eintreten.
     Meine  Schwester leerte dann den Löffel mit dem flüssigen Metall in das
Wasserschaff und lachte mich, der ich aufgeregt zusah, lustig an.
     Mit welken,  zitternden  Händen  holte mein  Großvater  den  blitzenden
Bleiklumpen heraus  und  hielt ihn ans  Licht. Gleich  darauf entstand  eine
allgemeine  Erregung.  Man  redete  laut  durcheinander;  ich  wollte   mich
hinzudrängen, aber man wehrte mich ab.
     Später, als ich älter geworden, erzählte mir mein Vater, es wäre damals
das  geschmolzene  Metall zu  einem kleinen,  ganz deutlichen Kopf  erstarrt
gewesen,  -  glatt  und  rund,  wie  nach  einer  Form   gegossen,  und  von
unheimlicher Ähnlichkeit mit den  Zügen  des "Golem", daß sich alle entsetzt
hätten.
     Oft sprach ich mit dem Archivar Schemajah  Hillel, der  die  Requisiten
der  Altneusynagoge  in  Verwahrung  hat  und auch die gewisse Lehmfigur aus
Kaiser Rudolfs  Zeiten, darüber.  Er hat sich mit Kabbala  befaßt und meint,
jener  Erdklumpen  mit  den menschlichen  Gliedmaßen sei  vielleicht  nichts
anderes  als  ein  ehemaliges  Vorzeichen, ganz so wie  in  meinem Fall  der
bleierne Kopf. Und  der Unbekannte, der da umgehe, müsse das Phantasie- oder
Gedankenbild  sein,  das  jener  mittelalterliche  Rabbiner zuerst  lebendig
gedacht  habe,  ehe er  es mit Materie  bekleiden konnte,  und  das  nun  in
regelmäßigen    Zeitabschnitten,    bei    den    gleichen    astrologischen
Sternstellungen, unter denen es erschaffen worden  - wiederkehre, vom Triebe
nach stofflichem Leben gequält.
     Auch Hillels  verstorbene  Frau  hatte  den "Golem"  von  Angesicht  zu
Angesicht erblickt und ebenso wie ich gefühlt, daß man  sich im  Starrkrampf
befindet, solange das rätselhafte Wesen in der Nähe weilt.
     Sie sagte, sie sei felsenfest überzeugt gewesen, daß es damals nur ihre
eigene Seele habe sein können,  die  -  aus dem Körper  getreten - ihr einen
Augenblick gegenübergestanden und mit den Zügen eines fremden Geschöpfes ins
Gesicht gestarrt hätte.
     Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bemächtigt, habe
sie  doch keine  Sekunde die Gewißheit verlassen, daß jener  andere nur  ein
Stück ihres eignen Innern sein konnte." -
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     "Es ist unglaublich", murmelte Prokop in Gedanken verloren.
     Auch der Maler Vrieslander schien ganz in Grübeln versunken.
     Da klopfte es an die Türe und das alte Weib, das mir des Abends  Wasser
bringt  und was ich sonst noch  nötig  habe,  trat ein, stellte den tönernen
Krug auf den Boden und ging stillschweigend wieder hinaus.
     Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer umher, aber
noch lange Zeit sprach niemand ein Wort.
     Als  sei ein neuer Einfluß  mit der  Alten zur Tür hereingeschlüpft, an
den man sich erst gewöhnen mußte.
     "Ja!  Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man nicht
loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder auftauchen sieht",
sagte  plötzlich  Zwakh  ganz  unvermittelt.  "Dieses  erstarrte,  grinsende
Lächeln  kenne ich nun schon ein ganzes Menschenleben. Erst die  Großmutter,
dann die Mutter! -  Und stets das gleiche Gesicht, kein Zug anders! Derselbe
Name Rosina; - es ist immer eine die Auferstehung der andern."
     "Ist Rosina  nicht  die Tochter des Trödlers Aaron Wassertrum?"  fragte
ich.
     "Man spricht so", meinte Zwakh, - - "Aaron Wassertrum aber  hat manchen
Sohn und manche Tochter, von denen man nicht  weiß. Auch bei  Rosinas Mutter
wußte man nicht, wer ihr Vater gewesen, - auch  nicht, was aus ihr  geworden
ist. - Mit fünfzehn Jahren hatte sie ein Kind geboren  und war seitdem nicht
mehr aufgetaucht. Ihr Verschwinden hing mit einem Mord zusammen,  soweit ich
mich entsinnen kann, der ihretwegen in diesem Hause begangen wurde.
     Wie jetzt  ihre Tochter, spukte damals  sie den halbwüchsigen Jungen im
Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, - ich sehe ihn öfter, - doch sein Name ist
mir entfallen.  Die andern sind bald gestorben,  und  ich meine, sie hat sie
alle frühzeitig  under die Erde gebracht. Ich  erinnere mich aus  jener Zeit
überhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie verblichene  Bilder durch mein
Gedächtnis  treiben.  So  hat  es  damals  einen  halbblödsinnigen  Menschen
gegeben, der nachts von Schenke zu Schenke zog und den Gästen gegen ein paar
Kreuzer Silhouetten aus schwarzem Papier schnitt. Und wenn man ihn betrunken
machte,  geriet  er  in eine unsägliche  Traurigkeit,  und unter Tränen  und
Schluchzen  schnitzelte  er,  ohne  aufzuhören,  immer das  gleiche  scharfe
Mädchenprofil, bis sein ganzer Papiervorrat verbraucht war.
     Aus Zusammenhängen zu schließen, die ich  längst vergessen,  hatte er -
fast ein Kind noch - eine gewisse Rosina, wohl die Großmutter  der heutigen,
so heftig geliebt, daß er den Verstand darüber verlor.
     Wenn ich die Jahre zurückzähle, kann es keine andere als die Großmutter
der jetzigen Rosina gewesen sein." - - -
     Zwakh schwieg und lehnte sich zurück.
     Das  Schicksal  in diesem Haus irrt  im Kreise  umher  und  kehrt immer
wieder  zum  selben  Punkt zurück,  fuhr  es  mir durch  den Sinn,  und  ein
häßliches Bild,  das  ich  einmal  mit angesehen - eine Katze mit verletzter
Gehirnhälfte im Kreise herumtaumelnd - trat vor mein Auge.
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     "Jetzt kommt der Kopf", hörte ich  plötzlich den Maler Vrieslander  mit
heller Stimme sagen.
     Und er nahm einen runden Holzklotz aus  der Tasche und begann an ihm zu
schnitzen.
     Eine  schwere Müdigkeit  legte sich mir über die Augen, und  ich rückte
meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
     Das Wasser für den Punsch brodelte im Kessel, und Josua  Prokop  füllte
wiederum die Gläser.  Leise,  ganz leise  klangen die  Klänge der  Tanzmusik
durch  das geschlossene Fenster; - manchmal  verstummten sie  vollends, dann
wiederum wachten sie  ein wenig  auf, wie sie der Wind unterwegs verlor oder
zu uns von der Gasse emportrug.
     Ob  ich  denn nicht  anstoßen wolle,  fragte mich  nach einer Weile der
Musiker.
     Ich aber gab  keine Antwort, - so vollkommen war mir der Wille, mich zu
bewegen, abhanden gekommen, daß ich gar nicht auf den  Gedanken, den Mund zu
öffnen, verfiel.
     Ich  dachte  ich  schliefe, so  steinern war die innere Ruhe,  die sich
meiner  bemächtigt hatte. Und ich mußte hinüber auf Vrieslanders  funkelndes
Messer blinzeln, das ruhelos  aus  dem  Holz  kleine Späne  biß,  -  um  die
Gewißheit zu erlangen, daß ich wach sei.
     In  weiter Ferne brummte Zwakhs  Stimme und  erzählte  wieder  allerlei
wunderliche Geschichten  über Marionetten  und  krause Märchen,  die  er für
seine Puppenspiele erdacht.
     Auch  von Dr. Savioli  war die  Rede und  von der vornehmen  Dame,  der
Gattin eines Adeligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli  zu
Besuch komme.
     Und   wiederum  sah   ich  im   Geiste  Aaron   Wassertrums  höhnische,
triumphierende Miene. -
     Ob ich  Zwakh  nicht mitteilen  sollte, was sich damals ereignet hatte,
überlegte  ich,  -  dann  hielt  ich  es nicht  der Mühe  für  wert  und für
belanglos. Auch  wußte ich, daß mein Wille versagen würde,  wollte ich jetzt
den Versuch machen zu sprechen.
     Plötzlich sahen die drei am Tisch aufmerksam zu mir herüber, und Prokop
sagte ganz laut: "Er ist eingeschlafen", -  so laut, daß  es fast klang, als
ob es eine Frage sein sollte.
     Sie redeten mit gedämpfter Stimme weiter, und ich erkannte, daß sie von
mir sprachen.
     Vrieslanders  Schnitzmesser tanzte hin und her  und fing das Licht auf,
das von  der  Lampe niederfloß, und der spiegelnde Schein brannte mir in den
Augen.
     Es fiel  ein Wort wie: "irr sein", und ich horchte auf die Rede, die in
der Runde ging.
     "Gebiete, wie  das  vom  ›Golem‹ sollte man vor Pernath  nie berühren,"
sagte  Josua  Prokop  vorwurfsvoll, "als  er  vorhin  von  dem  Buche  Ibbur
erzählte, schwiegen wir still und fragten nicht  weiter. Ich  möchte wetten,
er hat alles nur geträumt."
     Zwakh nickte: "Sie haben ganz  recht. Es ist, wie wenn man  mit offenem
Lichte  eine  verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche Tücher Decke
und Wände bespannen und der dürre Zunder der Vergangenheit fußhoch den Boden
bedeckt; ein flüchtiges Berühren nur und schon schlägt das Feuer  aus  allen
Ecken."
     "War Pernath lange im  Irrenhaus? Schade  um  ihn, er  kann  doch  erst
vierzig sein", sagte Vrieslander.
     "Ich weiß es nicht, ich  habe auch keine  Vorstellung, woher er stammen
mag  und was  früher  sein Beruf gewesen  ist.  Aussehen  tut er ja wie  ein
altfranzösischer Edelmann mit  seiner  schlanken Gestalt und dem  Spitzbart.
Vor vielen vielen Jahren  hat mich ein befreundeter alter Arzt  gebeten, ich
möchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm  eine kleine Wohnung  hier  in
diesen Gassen, wo sich  niemand um  ihn kümmern und mit Fragen nach früheren
Zeiten beunruhigen würde,  aussuchen."  -  Wieder  sah Zwakh  bewegt zu  mir
herüber. -  "Seit jener  Zeit  lebt er hier,  bessert Antiquitäten  aus  und
schneidet Gemmen und hat  sich damit einen  kleinen  Wohlstand gegründet. Es
ist ein Glück für ihn, daß  er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenhängt,
vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen,
die  die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen könnten, - wie oft hat
mir  das  der alte Arzt ans  Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer,
wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler Mühe
eingemauert,  möchte  ich's  nennen,  -  so  wie   man  eine  Unglücksstätte
einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knüpft." - - -
     Die Rede  des Marionettenspielers  war  auf  mich  zugekommen  wie  ein
Schlächter auf ein wehrloses Tier und preßte mir mit rohen, grausamen Händen
das Herz zusammen.
     Von  jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt,  - ein Ahnen, als wäre
mir etwas  genommen  worden und als  hätte ich  in  meinem Leben eine  lange
Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und
nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergründen.
     Jetzt  lag  des  Rätsels  Lösung  offen  vor   mir   und  brannte  mich
unerträglich wie eine bloßgelegte Wunde.
     Mein  krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse
nachzuhängen,  -  dann der seltsame, von  Zeit zu Zeit immer  wiederkehrende
Traum, ich  sei in  ein Haus  mit einer Flucht  mir unzugänglicher  Gemächer
gesperrt, - das beängstigende  Versagen meines  Gedächtnisses in Dingen, die
meine  Jugendzeit betrafen, - alles das fand mit einem Male seine furchtbare
Erklärung: ich war wahnsinnig gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte
das  - "Zimmer" verschlossen, das die Verbindung  zu jenen Gemächern  meines
Gehirns  bildete,  und mich zum  Heimatlosen  inmitten  des  mich umgebenden
Lebens gemacht.
     Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wieder zu gewinnen!
     Die Triebfedern meines  Denkens  und  Handelns liegen  in einem andern,
vergessenen  Dasein  verborgen, begriff  ich, -  nie würde ich  sie erkennen
können: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das  aus einer fremden
Wurzel sproßt.  Gelänge  es mir  auch, den  Eingang  in jenes  verschlossene
"Zimmer"  zu erzwingen, müßte  ich  nicht  abermals den Gespenstern, die man
darein gebannt, in die Hände fallen?!
     Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh  vor einer Stunde erzählte, zog
mir  durch  den  Sinn,  und  plötzlich  erkannte  ich  einen   riesengroßen,
geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in
dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
     Ja!  auch  in  meinem  Falle  "würde der  Strick  reißen",  wollte  ich
versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
     Der seltsame Zusammenhang wurde mir  immer deutlicher  und  nahm  etwas
unbeschreiblich Erschreckendes für mich an.
     Ich fühlte: es  sind  da  Dinge -  unfaßbare -  zusammengeschmiedet und
laufen  wie   blinde  Pferde,  die  nicht  wissen   wohin  der  Weg   führt,
nebeneinander her.
     Auch im  Getto: ein Zimmer, ein  Raum,  dessen Eingang  niemand  finden
kann, - ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die
Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen! - - -
     Immer  noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz  knirschte
unter der Klinge des Messers.
     Es tat mir  fast  weh, wie ich es hörte,  und ich sah hin, ob  es  denn
nicht bald zu Ende sei.
     Wie der Kopf sich in des  Malers Hand hin und her  wandte, war  es, als
habe er Bewußtsein und spähe von  Winkel zu Winkel. Dann ruhten  seine Augen
lange auf mir, befriedigt, daß sie mich endlich gefunden.
     Auch  ich  vermochte meine  Blicke  nicht mehr abzuwenden  und  starrte
unverwandt auf das hölzerne Antlitz.
     Eine Weile schien das Messer des Malers  zögernd etwas  zu suchen, dann
ritzte es entschlossen eine Linie  ein, und plötzlich  gewannen die Züge des
Holzklotzes schreckhaftes Leben.
     Ich  erkannte  das gelbe Gesicht  des Fremden, der mir damals das  Buch
gebracht.
     Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden,  der Anblick hatte nur  eine
Sekunde gedauert, und  ich spürte,  daß  mein Herz  zu schlagen aufhörte und
ängstlich flatterte.
     Dennoch blieb ich mir - wie damals - des Gesichtes bewußt.
     Ich war  es selber  geworden und lag auf Vrieslanders Schoß  und spähte
umher.
     Meine  Augen  wanderten im  Zimmer umher, und eine fremde Hand  bewegte
meinen Schädel.
     Dann  sah ich mit einem  Male  Zwakhs aufgeregte Miene  und hörte seine
Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
     Und ein kurzes Ringen  entstand, und man wollte  Vrieslander mit Gewalt
das Schnitzwerk entreißen, doch der wehrte sich und rief lachend:
     "Was wollt ihr, es ist doch ganz  und  gar mißlungen." Und er wand sich
los, öffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
     Da  schwand mein Bewußtsein,  und ich tauchte in eine tiefe Finsternis,
die von  schimmernden  Goldfäden  durchzogen war, und als  ich,  wie es  mir
schien, nach  einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hörte ich das Holz
klappernd auf das Pflaster fallen. - - -
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     "Sie  haben so  fest  geschlafen, daß Sie  nicht merkten,  wie  wir Sie
schüttelten,"  - sagte Josua Prokop zu mir,  "der Punsch ist  aus,  und  Sie
haben alles versäumt."
     Der heiße Schmerz über das, was ich vorhin mitangehört, übermannte mich
wieder, und  ich  wollte aufschreien, daß ich nicht geträumt  habe, als  ich
ihnen von dem  Buche Ibbur  erzählte -  und es aus  der Kassette  nehmen und
ihnen zeigen könne.
     Aber  diese  Gedanken  kamen  nicht  zu  Wort und  konnten die Stimmung
allgemeinen Aufbruches, die meine Gäste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
     Zwakh hängte mir mit Gewalt den Mantel und und rief:
     "Kommen  Sie  nur  mit zum Loisitschek, Meister Pernath,  es  wird Ihre
Lebensgeister erfrischen."

     Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterführen lassen.
     Ich spürte  den Geruch des  Nebels, der von  der Straße ins Haus drang,
deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander  waren einige
Schritte vorausgegangen,  und  man  hörte, wie  sie  draußen vor dem  Torweg
mitsammen sprachen.
     "Er  muß  rein in das  Kanalgitter  gefallen  sein.  Es  ist  doch  zum
Teufelholen."
     Wir traten hinaus auf die  Gasse, und  ich sah, wie  Prokop sich bückte
und die Marionette suchte.
     "Freut  mich, daß  du  den dummen  Kopf  nicht finden kannst",  brummte
Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht  leuchtete
grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen  - wie er das Feuer eines
Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
     Prokop machte  eine heftig abwehrende Bewegung  mit dem  Arm und beugte
sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
     "Still doch! Hört ihr denn nichts?"
     Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte
horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen  wir unbeweglich und lauschten
in den Schacht hinab.
     Nichts.
     "Was war's denn?" flüsterte  endlich der alte  Marionettenspieler; doch
sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
     Einen  Augenblick  -  kaum  einen  Herzschlag  lang  -  hatte  es   mir
geschienen,  als klopfte da unten  eine Hand gegen eine Eisenplatte  -  fast
unhörbar. Wie ich eine Sekunde später darüber nachdachte,  war alles vorbei;
nur in meiner Brust  hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und löste sich
langsam in ein unbestimmtes Gefühl des Grauens auf.
     Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
     "Gehen wir; was stehen wir da herum!" mahnte Vrieslander.
     Wir schritten die Häuserreihe entlang.
     Prokop folgte nur widerwillig.
     "Meinen  Hals möcht  ich wetten,  da  unten  hat  jemand  geschrien  in
Todesangst."
     Niemand von uns  antwortete ihm, aber  ich fühlte, daß etwas wie  leise
dämmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
     Bald darauf standen wir vor einem rotverhängten Schenkenfenster.

     "Heinte großes Konzehr"
     stand auf einem Pappendeckel geschrieben,  dessen Rand mit verblichenen
Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
     Ehe  noch Zwakh die Hand auf die Klinke  legen konnte, öffnete sich die
Eingangstür nach innen, und ein vierschrötiger Kerl mit gewichstem schwarzem
Haar, ohne Kragen - eine grünseidene Krawatte um den bloßen Hals geschlungen
und die Frackweste mit einem Klumpen aus Schweinszähnen geschmückt - empfing
uns mit Bücklingen.
     "Jä, jä,  das sin  mir  Gästäh.  -  -  - Pane Schaffranek,  rasch einen
Tusch!" setzte er, über die Schulter  in  das  von Menschen überfüllte Lokal
gewendet, hastig seinem Willkommensgruß hinzu.
     Ein klimperndes Geräusch, wie wenn eine Ratte über Klaviersaiten liefe,
war die Antwort.
     "Jä, jä, das  sin  mir  Gästäh,  das sin  mir Gästäh.  Da  schaut man",
murmelte der Vierschrötige immerwährend eifrig vor sich hin, während er  uns
aus den Mänteln half.
     "Ja, ja, heinte ist der  ganze verehrliche Hochadel des Landes  bei mir
versammelt", beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als
im  Hintergrund  auf  einer  Art   Estrade,  die  durch  Geländer  und  eine
zweistufige  Treppe vom  vorderen Teil  der  Schenke getrennt war,  ein paar
vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
     Schwaden beißenden Tabakrauches lagerten über den Tischen, hinter denen
die  langen Holzbänke  an  den  Wänden  vollbesetzt von zerlumpten Gestalten
waren:  Dirnen von  den Schanzen, ungekämmt, schmutzig,  barfuß,  die festen
Brüste kaum verhüllt  von  mißfarbigen Umhängetüchern, Zuhälter  daneben mit
blauen Militärmützen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehhändler mit haarigen
Fäusten  und  schwerfälligen  Fingern,  die bei jeder Bewegung  eine  stumme
Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner  mit  frechen Augen und
blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
     "Ich  stell'  ich  Ihnen  spanische  Plente  umadum,  damit  Sie  schön
ungestört sein", krächzte die  feiste  Stimme des  Vierschrötigen,  und eine
Rollwand,  beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob  sich langsam  vor
den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
     Schnarrende  Klänge einer Harfe  machten  das  Stimmengewirr  im Zimmer
verlöschen.
     Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
     Totenstille, als hielte alles den Atem an.
     Mit erschreckender  Deutlichkeit hörte man plötzlich  wie  die eisernen
Gasstäbe fauchend die flachen herzförmigen Flammen aus ihren  Mündern in die
Luft bliesen  -  - dann  fiel die Musik über das Geräusch her und verschlang
es.
     Als  wären  sie  soeben erst  entstanden,  tauchten  da  zwei  seltsame
Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
     Mit  langem,  wallendem,   weißen  Prophetenbart,  ein  schwarzseidenes
Käppchen -  wie  es  die  alten  jüdischen  Familienväter tragen  - auf  dem
Kahlkopf, die  blinden Augen  milchbläulich und  gläsern - starr  zur  Decke
gerichtet  -  saß dort  ein Greis, bewegte lautlos die  Lippen  und fuhr mit
dürren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm  in
speckglänzendem,  schwarzen Taffetkleid,  Jettschmuck und  Jettkreuz an Hals
und  Armen  -  ein  Sinnbild  erheuchelter  Bürgermoral  -  ein  schwammiges
Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem Schoß.
     Ein wildes Gestolper von  Klängen  drängte  sich aus  den Instrumenten,
dann sank die Melodie ermattet zur bloßen Begleitung herab.
     Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riß den  Mund weit
auf, daß man die  schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der  Brust
herauf rang  sich ihm, von seltsamen hebräischen Röchellauten begleitet, ein
wilder Baß:
     "Roo - n - te, blau - we Stern - -"
     "Rititit" (schrillte das Weibsbild  dazwischen und schnappte sofort die
keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)
     "Roonte blaue Steern
     Hörndlach ess i' ach geern";
     "Rititit"
     "Rotboart, Grienboart
     allerlaj Stern" - -
     "Rititit, rititit."
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     Die Paare traten zum Tanze an.
     "Es  ist  das Lied vom  ›chomezigen Borchu‹", erklärte uns lächelnd der
Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlöffel, der sonderbarerweise
mit einer Kette am  Tisch befestigt war, den Takt. "Vor wohl  hundert Jahren
oder mehr noch hatten  zwei Bäckergesellen, Rotbart  und Grünbart, am  Abend
des ›Schabbes Hagodel‹ das  Brot  - Sterne und  Hörnchen - vergiftet, um ein
ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber  der ›Meschores‹ -
der  Gemeindediener  - war  infolge göttlicher Erleuchtung noch  rechtzeitig
draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei überliefern.
Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten  damals
die ›Landonim‹ und ›Bocherlech‹ jenes seltsame Lied, das wir  hier jetzt als
Bordellquadrille hören."
     "Rititit - Rititit"
     "Roote blaue  Steern - - - -" immer hohler und fanatischer erscholl das
Gebell des Greises.
     Plötzlich  wurde  die  Melodie  konfuser und  ging  allmählich  in  den
Rhythmus  des böhmischen  "Schlapak"  -  eines schleifenden  Schiebetanzes -
über, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinander preßten.
     "So  recht. Bravo.  Äh da! fang,  hep,  hep!" rief von der Estrade  ein
schlanker,  junger Kavalier im Frack, das  Monokel im  Auge, dem Harfenisten
zu, griff in die Westentasche und warf ein Silberstück  in  der Richtung. Es
erreichte  sein Ziel  nicht:  ich sah  noch,  wie  es  über  das  Tanzgewühl
hinblitzte; da war es plötzlich verschwunden. Ein Strolch - sein Gesicht kam
mir  so bekannt vor; ich glaube, es muß  derselbe  gewesen sein, der neulich
bei dem  Regenguß neben  Charousek gestanden - hatte seine  Hand  hinter dem
Busentuch  seiner  Tänzerin,  wo  er  sie  bisher  hartnäckig ruhen  gehabt,
hervorgezogen - ein Griff in die Luft mit affenhafter  Geschwindigkeit, ohne
auch nur  einen Takt der  Musik auszulassen, und die Münze  war  geschnappt.
Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in
der Nähe grinsten leise.
     "Wahrscheinlich einer vom ›Bataillon‹,  nach  der  Geschicklichkeit  zu
schließen", sagte Zwakh lachend.
     "Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom ›Bataillon‹ gehört",
fiel   Vrieslander   auffallend  rasch   ein  und   zwinkerte  heimlich  dem
Marionettenspieler  zu, daß  ich es nicht sehen sollte. - Ich  verstand  gar
wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich für krank.
Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzählen. Irgend etwas.
     Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiß vom Herzen
in die Augen. Wenn er wüßte, wie weh mir sein Mitleid tat!
     Ich überhörte die ersten  Worte, mit denen der Marionettenspieler seine
Worte einleitete, -  ich weiß nur, mir  war, als  verblute  ich langsam. Mir
wurde immer kälter und starrer, wie vorhin, als  ich  als hölzernes  Gesicht
auf Vrieslanders Schoß gelegen hatte. Dann war ich plötzlich mitten  drin in
der  Erzählung, die mich fremdartig  umfing, -  einhüllte, wie ein  lebloses
Stück aus einem Lesebuch.
     Zwakh begann:
     "Die Erzählung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.
     - - - No, was soll ich  Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er voller Warzen
und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als Jüngling  kannte er nichts als
Studium.  Trockenes,  entnervendes  Studium.  Von  dem,  was  er sich  durch
Stundengeben mühsam erwarb, mußte er noch seine  kranke Mutter erhalten. Wie
grüne  Wiesen aussehen und Hecken und Hügel  voll Blumen und  Wälder, erfuhr
er, glaube ich, nur  aus Büchern. Und  wie wenig von  Sonnenschein  in Prags
schwarze Gassen fällt, wissen Sie ja selbst.
     Sein  Doktorat  hatte er mit  Auszeichnung gemacht; das war  eigentlich
selbstverständlich.
     Nun, und  mit  der  Zeit  wurde er  ein  berühmter Rechtsgelehrter.  So
berühmt, daß alle Leute - Richter und alte Advokaten - zu ihm fragen  kamen,
wenn sie irgend  etwas nicht wußten. Dabei lebte er ärmlich wie  ein Bettler
in einer Dachkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof schaute.
     So  vergingen  Jahre um Jahre und Dr. Hulberts  Ruf als  Leuchte seiner
Wissenschaft wurde  allmählich Sprichwort im ganzen Lande. Daß ein  Mann wie
er weichen Herzensempfindungen zugänglich sein konnte, zumal sein Haar schon
anfing  weiß  zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von etwas anderem
als von Jurisprudenz sprechen gehort  zu haben, hatte  wohl keiner geglaubt.
Doch  gerade  in  solchen  verschlossenen  Herzen  glüht  die  Sehnsucht  am
heißesten.
     An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als
Höchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt  hatte:  - als nämlich Seine
Majestät  der Kaiser  von  Wien aus  ihn  zum Rector  magnificus an  unserer
Universität  ernannte,  da  ging es von Mund zu Mund, er habe sich mit einem
jungen, bildschönen Fräulein aus zwar armer, aber adliger Familie verlobt.
     Und wirklich schien von da  an das Gluck bei  Dr. Hulbert eingezogen zu
sein. Wenn auch  seine  Ehe kinderlos blieb,  so  trug  er doch seine  junge
Gattin auf Händen,  und jeden  Wunsch zu erfüllen, den er ihr nur irgend von
den Augen abzulesen vermochte, war seine höchste Freude.
     In seinem  Gluck vergaß er jedoch keineswegs, wie  es wohl  so  mancher
andere getan  hatte,  seine  leidenden  Mitmenschen.  "Mir  hat  Gott  meine
Sehnsucht  gestillt,"  soll  er  einmal gesagt  haben,  -  "er  hat  mir ein
Traumgesicht  zur  Wahrheit  werden  lassen,  das  wie  ein  Glanz  vor  mir
hergegangen ist seit Kindheit an: er hat mir  das lieblichste Wesen zu eigen
gegeben, das die Erde  tragt. Und so will ich, daß  ein  Schimmer von diesem
Gluck, soweit es in meiner Macht steht, auch auf andere fallt." - - -
     Und so kam es, daß er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm
wie seines eigenen  Sohnes. Vermutlich in der Erwägung,  wie wohl ihm selbst
ein solch gutes Werk getan hatte, wäre es ihm am  eigenen Leib  und Leben in
den Tagen  seiner  kummervollen Jugendzeit passiert. Wie  aber nun auf Erden
manche Tat, die dem Menschen gut und  edel  scheint, Folgen nach  sich zieht
gleich   der   einer  fluchwürdigen,  weil  wir  wohl  doch  nicht   richtig
unterscheiden können zwischen dem,  was giftigen Samen in sich tragt und was
heilsamen, so  begab es sich auch hier, daß aus  Dr. Hulberts mitleidsvollem
Werk das bitterste Leid für ihn selbst sproß.
     Die  junge  Frau  entbrannte  gar  bald  in  heimlicher  Liebe  zu  dem
Studenten, und ein  erbarmungsloses  Schicksal wollte,  daß sie  der  Rektor
gerade  in dem Augenblicke, als  er  unerwartet  nach Hause  kam, um sie zum
Zeichen  seiner Liebe  mit  einem  Strauß  Rosen  als  Geburtstagspräsent zu
überraschen, in  den Armen  dessen antraf,  auf den  er Wohltat über Wohltat
gehäuft hatte.
     Man  sagt,  daß  die  blaue  Muttergottesblume  für  immer  ihre  Farbe
verlieren kann, wenn  der  fahle, schweflige Schein  eines Blitzes,  der ein
Hagelwetter verkündet, plötzlich auf sie fällt; gewiß ist, daß die Seele des
alten Mannes für  immer  erblindete an dem Tage, wo sein  Gluck  in Scherben
ging.  Am  selben  Abend  noch saß er,  er, der bis dahin nicht  gewußt, was
Unmäßigkeit  ist, hier beim "Loisitschek" - fast  bewußtlos vom  Fusel - bis
zum Morgengrauen. Und der "Loisitschek" wurde seine Heimstätte für  den Rest
seines zerstörten Lebens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines
Neubaus, im Winter hier auf den hölzernen Bänken.
     Den Titel  eines Professors  und  Doktors beider  Rechte beließ man ihm
stillschweigend. Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst berühmten
Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, daß man Ärgernis nähme an seinem Wandel.
     Allmählich  sammelte sich  um ihn, was an  lichtscheuem Gesindel in der
Judenstadt sein  Wesen  trieb,  und so kam es zur  Gründung jener  seltsamen
Gemeinschaft, die man noch heutigentags "das Bataillon" nennt.
     Dr.  Hulberts umfassende  Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk  für alle
die,  denen  die  Polizei  zu scharf  auf  die  Finger  sah.  War  irgendein
entlassener  Sträfling  daran  zu  verhungern,   schickte  ihn  Dr.  Hulbert
splitternackt  hinaus  auf  den  Altstadter  Ring  - und  das  Amt  auf  der
sogenannten "Fischbanka" sah sich genötigt, einen Anzug beizustellen. Sollte
eine unterstandslose  Dirne aus  der Stadt gewiesen werden, so heiratete sie
schnell einen Strolch, der bezirkszuständig war, und wurde dadurch ansässig.
     Hundert solcher  Auswege wußte Dr. Hulbert, und seinem  Rate  gegenüber
stand  die Polizei  machtlos da.  - Was diese Ausgestoßenen der menschlichen
Gesellschaft "verdienten", übergaben sie getreulich  auf Heller  und Kreuzer
der gemeinsamen  Kassa, aus der der nötige Lebensunterhalt bestritten wurde.
Niemals  ließ sich  auch nur einer  die geringste  Unehrlichkeit  zuschulden
kommen.  Mag  sein,  daß angesichts dieser eisernen  Disziplin der Name "das
Bataillon" entstand.
     Pünktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des Unglücks  jährte, das
den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts beim "Loisitschek" eine
seltsame  Feier statt.  Kopf  an Kopf  gedrängt  standen sie hier:  Bettler,
Vagabunden,  Zuhälter und Dirnen, Trunkenbolde und  Lumpensammler,  und eine
lautlose Stille herrschte wie beim  Gottesdienst. -  Und dann erzählte ihnen
Dr.  Hulbert dort von der Ecke  aus,  wo jetzt die beiden Musikanten sitzen,
gerade   unter  dem   Krönungsbilde  Seiner  Majestät   des  Kaisers,  seine
Lebensgeschichte:  - wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben und
später Rektor magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle kam, wo er  mit
dem Busch Rosen in der Hand  ins Zimmer seiner jungen Frau trat, - zur Feier
ihres Geburtstages und zugleich zum Gedächtnis jener Stunde,  da er dereinst
um sie anhalten  gekommen und sie  seine  liebe  Braut geworden  war,  -  da
versagte ihm jedesmal  die Stimme, und weinend  sank  er am Tisch  zusammen.
Dann  geschah es wohl zuweilen, daß  irgendein liederliches Frauenzimmer ihm
verschämt und heimlich,  damit es  keiner sehen sollte, eine halbwelke Blume
in die Hand legte.
     Von  den Zuhörern rührte  sich dann  noch lange Zeit keiner. Zum Weinen
sind diese  Menschen  zu hart, aber an  ihren Kleidern blickten sie herunter
und drehten unsicher die Finger.
     Eines  Morgens fand man Dr. Hulbert  tot auf  einer Bank  unten  an der
Moldau. Er wird, denke ich, erfroren sein.
     Sein Leichenbegängnis  sehe  ich noch heute vor  mir.  Das  "Bataillon"
hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie möglich zu gestalten.
     Voran ging der Pedell der  Universität in  vollem  Ornat: in den Händen
das  purpurne Kissenpolster mit der güldenen  Kette  darauf  und hinter  dem
Leichenwagen   in   unabsehbarer   Reihe  -   -  das   "Bataillon"   barfuß,
schmutzstarrend, zerlumpt  und zerfetzt. Einer  von ihnen hatte sein Letztes
verkauft  und  ging  daher:  Leib,  Beine  und  Arme  mit  Lagen  aus  altem
Zeitungspapier umwickelt und umbunden.
     So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.
     Auf seinem  Grabe, draußen im Friedhof, steht ein  weißer Stein, darein
sind drei Figuren gemeißelt: Der Heiland gekreuzigt  zwischen  zwei Räubern.
Von unbekannter Hand  gestiftet. Man  munkelt, Dr.  Hulberts  Frau habe  das
Denkmal errichtet. - - -
     Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war  ein Legat  vorgesehen,
danach bekommt jeder vom "Bataillon" mittags "beim Loisitschek" umsonst eine
Suppe; zu diesem  Zwecke hängen  hier am Tisch die Löffel an den Ketten, und
die ausgehöhlten Mulden in der Tischplatte sind die Teller.  Um 12 Uhr kommt
die  Kellnerin  und spritzt  mit einer großen, blechernen  Spritze die Brühe
hinein und, wenn sich einer  nicht  ausweisen kann  als "vom Bataillon",  so
zieht sie die Suppe mit der Spritze wieder zurück.
     Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit  als Witz die Runde durch
die ganze Welt."
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     Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus  meiner Lethargie.
Die letzten Sätze, die Zwakh gesprochen, wehten über mein Bewußtsein hinweg.
Ich sah  noch, wie  er seine Hände  bewegte, um  das Vor- und Zurückschieben
eines Spritzenkolbens klarzumachen,  dann jagten die Bilder, die  sich rings
um  uns   abrollten,  so  rasch   und   automatenhaft  und  dennoch  mit  so
gespenstischer Deutlichkeit an meinem Auge vorüber, daß ich in Momenten ganz
mich selbst vergaß und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen Uhrwerk.
     Das Zimmer  war  ein  einziges  Menschengewühl geworden.  Oben  auf der
Estrade: dutzende Herren in  schwarzen Fräcken. Weiße Manschetten, blitzende
Ringe. Eine  Dragoneruniform  mit Rittmeisterschnüren.  Im  Hintergrund  ein
Damenhut mit lachsfarbigen Straußenfedern.
     Durch  die  Stäbe  des Geländers  stierte das verzerrte  Gesicht Loisas
hinauf. Ich sah: er  konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir  war  da
und  schaute unverwandt hinauf, mit dem Rücken  dicht,  ganz dicht,  an  der
Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.
     Die Gestalten hielten  plötzlich im  Tanzen inne:  der Wirt mußte ihnen
etwas zugerufen  haben, was  sie erschreckt hatte.  Die  Musik spielte noch,
aber leise; sie traute  sich nicht mehr recht. Sie  zitterte; man fühlte  es
deutlich. Und doch lag der Ausdruck  hämischer  wilder Freude in dem Gesicht
des Wirtes.
     - - - - In der Eingangstür steht mit einem Mal der  Polizeikommissär in
Uniform.  Er hatte die  Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen. Hinter
ihm ein Kriminalschutzmann.
     "Wird also doch hier getanzt? Trotz Verbotes?  Ich sperre die Spelunke.
Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die Wachstube!"
     Es klingt wie Kommandos.
     Der Vierschrötige gibt keine Antwort, aber das hämische Grinsen  bleibt
in seinen Zügen.
     Bloß starrer ist es geworden.
     Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch.
     Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.
     Die Gesichter  sind  plötzlich  alle im Profil  zu  sehen: sie  glotzen
erwartungsvoll hinauf auf die Estrade.
     Und da kommt eine  vornehme  schwarze Gestalt gelassen  die paar Stufen
herab und geht langsam auf den Kommissär zu.
     Die   Augen   des   Kriminalschutzmannes    hängen   gebannt   an   den
heranschlendernden schwarzen Lackschuhen.
     Der Kavalier ist  einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen geblieben
und  läßt  den  Blick gelangweilt ihm  von Kopf  bis zu den Füßen und wieder
zurück schweifen.
     Die  andern jungen Adligen oben  auf der Estrade  haben  sich über  das
Geländer  gebeugt  und  verbeißen  das   Lachen  hinter  ihren  grauseidenen
Taschentüchern.
     Der  Dragonerrittmeister klemmt ein Goldstück ins Auge und spuckt einem
Mädchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins Haar.
     Der Polizeikommissär hat sich  verfärbt und  starrt in der Verlegenheit
immerwährend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristokraten.
     Er  kann  den gleichgültigen, glanzlosen  Blick  dieses glattrasierten,
unbeweglichen Gesichtes mit der Hakennase nicht ertragen.
     Er bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.
     Die Totenstille im Lokal wird immer quälender.
     "So  sehen  die  Ritterstatuen aus, die  mit  gefalteten Händen auf den
Steinsärgen liegen in den gotischen Kirchen", flüstert der Maler Vrieslander
mit einem Blick auf den Kavalier.
     Da bricht der  Aristokrat endlich das  Schweigen: "Äh - Hm." -  -  - er
kopiert die Stimme des Wirtes: "Jä, jä, das sin mir Gästäh - da schaut man."
Ein  schallendes  Gejohle  explodiert im Lokal, daß  die Gläser klirren; die
Strolche halten sich den Bauch vor  Lachen. Eine Flasche fliegt an die  Wand
und   zerschellt.  Der  vierschrötige  Wirt   meckert  uns   erläuternd  und
ehrfurchtsvoll zu: "Seine Durchlaucht Exzellenz Fürst Ferri Athenstädt."
     Der Fürst hat dem Beamten eine Visitkarte hingehalten. Der Ärmste nimmt
sie, salutiert wiederholt und schlägt die Hacken zusammen.
     Es  wird  von neuem  still,  die  Menge  lauscht  atemlos,  was  weiter
geschehen wird.
     Der Kavalier spricht wieder:
     "Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, - äh - sind meine
lieben Gäste."  Seine Durchlaucht  deutet mit einer nachlässigen Armbewegung
auf  das  Gesindel,  "wünschen  Sie,  Herr  Kommissär,  -  äh  -  vielleicht
vorgestellt zu werden?"
     Der Kommissär verneint mit erzwungenem Lächeln, stottert verlegen etwas
von  "leidiger  Pflichterfüllung"  und  rafft sich schließlich zu den Worten
auf: "Ich sehe ja, daß es hier anständig zugeht."
     Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hintergrund
auf  den Damenhut mit der Straußenfeder zu und zerrt im nächsten  Augenblick
unter dem Jubel der jungen Adligen - Rosina am Arm herunter in den Saal.
     Sie schwankt vor Trunkenheit und hält die Augen geschlossen. Der große,
kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa Strümpfe
und - einen Herrenfrack auf dem bloßen Körper.
     Ein Zeichen: Die Musik fallt ein wie rasend - - - "Rititit - Rititit" -
- - und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaromir, als
er Rosina gesehen, an der Wand drüben ausgestoßen hat. - -
     Wir wollen gehen.
     Zwakh ruft nach der Kellnerin.
     Der allgemeine Lärm verschlingt seine Worte.
     Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.
     Der Rittmeister  hält die  halbnackte  Rosina  im Arm  und  dreht  sich
langsam mit ihr im Takt.
     Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.
     Dann murmelt es von den Bänken: "Der Loisitschek, der Loisitschek", die
Hälse werden  lang und zu dem tanzenden  Paar gesellt sich ein  zweites noch
seltsameres. Ein weibisch aussehender  Bursche in  rosa  Trikots, mit langem
blondem Haar bis  zu den Schultern,  Lippen und Wangen  geschminkt wie  eine
Dirne  und  die  Augen  niedergeschlagen  in  koketter  Verwirrung,  - hängt
schmachtend an der Brust des Fürsten Athenstädt.
     Ein süßlicher Walzer quillt aus der Harfe.
     Wilder Ekel vor dem Leben schnürt mir die Kehle zusammen.
     Mein  Blick  sucht voll  Angst  die  Ture:  der  Kommissär  steht  dort
abgewendet,   um   nichts   zu  sehen,   und   flüstert   hastig   mit   dem
Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt wie Handschellen.
     Die  beiden  spähen  hinüber auf den blatternarbigen Loisa,  der  einen
Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gelähmt - das Gesicht  kalkweiß
und verzerrt vor Entsetzen - stehen bleibt.
     Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor  mir auf und erlischt sofort:  Das
Bild, wie "Prokop lauscht, wie ich es  vor einer Stunde gesehen,  - über das
Kanalgitter gebeugt - und ein Todesschrei gellt aus der Erde empor."
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     Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und
biegen  mir  die  Zunge  nach  unten  gegen die Vorderzähne, daß es  wie ein
Klumpen meinen Gaumen erfüllt und ich kein Wort hervorbringen kann.
     Ich kann die Finger  nicht sehen,  weiß,  daß sie unsichtbar  sind, und
doch empfinde ich sie wie etwas Körperliches.
     Und  klar  steht   es  in  meinem   Bewußtsein:  sie  gehören  zu   der
gespenstischen Hand,  die mir  in meinem Zimmer in der Hahnpaßgasse das Buch
"Ibbur" gegeben hat.
     "Wasser, Wasser!" schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den  Kopf und
leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.
     "In seine Wohnung schaffen, Arzt holen - der Archivar Hillel kennt sich
aus in solchen Dingen - - zu ihm bringen!" beraten sie murmelnd.
     Dann liege ich  starr wie  eine Leiche  auf einer Bahre  und Prokop und
Vrieslander tragen mich hinaus.

     Zwakh war  vor  uns  die Treppen  hinaufgelaufen,  und  ich hörte,  wie
Mirjam, die Tochter des Archivars Hillel, ihn ängstlich ausfragte und er sie
zu beruhigen trachtete.
     Ich gab mir keine Mühe hinzuhorchen, was sie  miteinander sprachen, und
erriet mehr, als ich es in Worten  verstand, daß Zwakh erzählte, mir sei ein
Unfall zugestoßen  und sie kämen bitten, mir die erste Hilfe  zu leisten und
mich wieder zu Bewußtsein zu bringen.
     Noch immer  konnte  ich kein Glied rühren, und die unsichtbaren  Finger
hielten meine Zunge; aber mein Denken war fest und sicher und das Gefühl des
Grauens hatte  von mir abgelassen.  Ich wußte  genau, wo ich war und was mit
mir  geschah, und empfand es nicht einmal als absonderlich, daß man mich wie
einen  Toten  hinauftrug,  samt  der  Bahre   im  Zimmer  Schemajah  Hillels
niedersetzte und - allein ließ.
     Eine ruhige, natürliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heimkommen nach
einer langen Wanderung genießt, erfüllte mich.
     Es  war finster  in der  Stube, und mit verschwimmenden Umrissen  hoben
sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen  von dem  mattleuchtenden  Dunst ab,
der von der Gasse heraufschimmerte.
     Alles  kam mir selbstverständlich  vor  und  ich  wunderte  mich  weder
darüber,  daß  Hillel  mit  einem jüdischen  siebenflammigen  Sabbatleuchter
eintrat, noch, daß  er mir  gelassen "guten  Abend" wünschte  wie  jemandem,
dessen Kommen er erwartet hatte.
     Was ich  die  ganze  Zeit,  die  ich  im  Hause  wohnte,  nie als etwas
Besonderes bemerkt hatte, - trotzdem wir einander  oft drei-  bis viermal in
der Woche auf  den Stiegen begegnet waren, - fiel mir plötzlich stark an ihm
auf,  wie er so  hin  und  her  ging,  einige Gegenstände  auf  der  Kommode
zurechtrückte und schließlich mit  dem  Leuchter  einen zweiten, gleichfalls
siebenflammigen anzündete.
     Nämlich:  sein  Ebenmaß an Leib  und  Gliedern und der  schmale,  feine
Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.
     Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen  sah,  nicht älter sein
als ich: höchstens 45 Jahre zählen.
     "Du bist um einige Minuten  früher  gekommen", - begann  er  nach einer
Weile  - "als anzunehmen  war, sonst  hätte  ich  die Lichter  schon  vorher
angezündet." -  Er deutete  auf  die  beiden Leuchter, trat an die Bahre und
richtete seine  dunklen, tiefliegenden Augen, wie es schien, auf jemand, der
mir zu Häupten stand oder  kniete, den ich aber  nicht  zu  sehen vermochte.
Dabei bewegte er seine Lippen und sprach lautlos einen Satz.
     Sofort  ließen  die  unsichtbaren  Finger  meine  Zunge   los  und  der
Starrkrampf  wich  von mir. Ich richtete mich auf und  blickte hinter  mich:
Niemand außer Schemajah Hillel und mir war im Zimmer.
     Sein "Du" und die Bemerkung, daß er mich erwartet habe, hatten also mir
gegolten!?
     Viel befremdender als diese beiden Umstände an sich wirkte es auf mich,
daß ich nicht imstande war, auch nur  die  geringste Verwunderung darüber zu
empfinden.
     Hillel erriet offenbar  meine  Gedanken, denn  er  lächelte freundlich,
wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit  der Hand auf einen Sessel
wies, und sagte:
     "Es  ist  auch  nichts Wunderbares dabei.  Schreckhaft  wirken  nur die
gespenstischen Dinge - die Kischuph - auf den Menschen; das Leben kratzt und
brennt wie  ein härener Mantel,  aber die Sonnenstrahlen der geistigen  Welt
sind mild und erwärmend."
     Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was  ich ihm hätte erwidern sollen.
Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu  haben, setzte sich mir gegenüber
und  fuhr  gelassen fort: "Auch ein  silberner Spiegel, hätte er Empfindung,
litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und glänzend geworden, gibt
er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung."
     "Wohl dem Menschen", setzte er leise hinzu, "der von sich  sagen  kann:
Ich bin geschliffen." -  Einen Augenblick versank er in Nachdenken,  und ich
hörte ihn einen  hebräischen Satz murmeln: "Lischuosècho  Kiwisi  Adoschem."
Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:
     "Du bist  zu  mir  gekommen in  tiefem Schlaf  und  ich habe dich  wach
gemacht. Im Psalm David heißt es:
     "Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist
es, welche diese Veränderung gemacht hat."
     Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerstätten,  so wähnen sie, sie
hätten  den Schlaf abgeschüttelt, und wissen nicht, daß sie ihren Sinnen zum
Opfer fallen  und die Beute eines  neuen viel tieferen Schlafes  werden, als
der war, dem sie soeben entronnen  sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und
das  ist  das, dem Du dich jetzt  näherst. Sprich den Menschen davon und sie
werden sagen, Du seist  krank, denn  sie können dich nicht verstehen.  Darum
ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden.
     Sie fahren dahin wie ein Strom -
     Und sind wie ein Schlaf,
     Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird -
     Das des Abends abgehauen wird und verdorret."
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     "Wer war  der Fremde, der mich  in meiner Kammer aufgesucht hat und mir
das Buch "Ibbur" gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?", wollte
ich fragen,  doch  Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte
fassen konnte:
     "Nimm an, der Mann, der zu Dir kam und den Du den Golem nennst, bedeute
die Erweckung des Toten durch  das  innerste  Geistesleben.  Jedes Ding  auf
Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet!
     Wie denkst Du mit dem Auge? Jede Form, die Du siehst, denkst Du mit dem
Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst."
     Ich fühlte, wie Begriffe, die bisher in  meinem Hirn verankert gewesen,
sich  losrissen  und  gleich  Schiffen  ohne  Steuer  hinaustrieben  in  ein
uferloses Meer.
     Ruhevoll fuhr Hillel fort:
     "Wer aufgeweckt  worden  ist,  kann nicht  mehr sterben; Schlaf und Tod
sind dasselbe."
     "- - kann nicht mehr sterben?" - Ein dumpfer Schmerz ergriff mich.
     "Zwei  Pfade  laufen nebeneinander hin:  der Weg des Lebens und der Weg
des Todes. Du hast das Buch "Ibbur" genommen und darin gelesen.  Deine Seele
ist schwanger geworden vom Geist des Lebens", hörte ich ihn reden.
     "Hillel, Hillel, laß  mich den Weg  gehen, den alle Menschen gehen: den
des Sterbens!", schrie alles wild in mir auf.
     Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.
     "Die Menschen gehen keinen Weg,  weder den  des  Lebens,  noch  den des
Todes.  Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: "Ehe Gott die
Welt  schuf,  hielt er den  Wesen einen Spiegel  vor; darin  sahen  sie  die
geistigen Leiden des Daseins  und die Wonnen, die  darauf folgten. Da nahmen
die  einen die Leiden auf sich. Die  anderen aber  weigerten sich, und diese
strich Gott aus  dem Buche der Lebenden." Du aber gehst einen  Weg und  hast
ihn aus freiem Willen beschritten, - wenn Du es jetzt auch selbst nicht mehr
weißt: Du bist berufen  von dir selbst.  Gräm' dich  nicht: allmählich, wenn
das Wissen kommt,  kommt  auch die  Erinnerung. Wissen  und Erinnerung  sind
dasselbe."
     Der   freundliche,  fast  liebenswürdige  Ton,  in  den  Hillels   Rede
ausgeklungen  war, gab  mir meine Ruhe wieder, und  ich fühlte mich geborgen
wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiß.
     Ich blickte auf und sah, daß mit einemmal  viele  Gestalten  im  Zimmer
waren und uns  im Kreis umstanden: einige in weißen Sterbegewändern, wie sie
die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und Silberschnallen an
den  Schuhen - aber  Hillel fuhr  mir mit der  Hand über die  Augen, und die
Stube war wieder leer.
     Dann  geleitete  er mich hinaus  zur Treppe  und gab mir eine brennende
Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten könne in mein Zimmer.
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     Ich legte  mich zu  Bett  und wollte schlafen,  aber  der Schlummer kam
nicht,  und ich  geriet stattdessen in einen  sonderbaren Zustand, der weder
Träumen war, noch Wachen, noch Schlafen.
     Das  Licht hatte ich ausgelöscht, aber trotzdem war alles in der  Stube
so deutlich, daß ich  jede  einzelne  Form genau unterscheiden konnte. Dabei
fühlte  ich mich vollkommen  behaglich und frei  von der gewissen qualvollen
Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in ähnlicher Verfassung befindet.
     Nie  vorher in  meinem Leben wäre ich imstande gewesen, so  scharf  und
präzis zu  denken wie  eben  jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit durchströmte
meine  Nerven  und ordnete meine Gedanken in Reih' und Glied wie eine Armee,
die nur auf meine Befehle wartete.
     Ich brauchte bloß zu  rufen, und sie traten vor mich und erfüllten, was
ich wünschte.
     Eine  Gemme,  die  ich in  den  letzten Wochen  aus  Aventurinstein  zu
schneiden versucht hatte, - ohne damit  zurechtzukommen, da sich die  vielen
zerstreuten  Flimmer in  dem  Mineral niemals  mit den  Gesichtszügen decken
wollten, die ich  mir vorgestellt,  - fiel mir  ein, und im  Nu sah  ich die
Lösung vor mir und wußte genau, wie ich den Stichel zu  führen hatte, um der
Struktur der Masse gerecht zu werden.
     Ehedem  Sklave einer Horde phantastischer Eindrücke und Traumgesichter,
von denen ich oft nicht  gewußt: waren es Ideen  oder Gefühle,  sah ich mich
jetzt plötzlich als Herr und König im eigenen Reich.
     Rechenexempel, die ich früher  nur mit Ächzen und auf dem Papier  hätte
bewältigen  können,  fügten sich  mir  mit einem  Mal im Kopf  spielend  zum
Resultat.  Alles mit Hilfe einer  neuen, in  mir erwachten Fähigkeit, das zu
sehen  und  festzuhalten,   was   ich  gerade  brauchte:  Ziffern,   Formen,
Gegenstände  oder  Farben. Und  wenn es sich um  Fragen handelte,  die durch
derlei  Werkzeuge  nicht  zu  lösen  waren:  - philosophische  Probleme  und
ähnliches  -, so  trat  an  Stelle des inneren Sehens  das Gehör, wobei  die
Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers übernahm.
     Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.
     Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloßes Wort an meinem Ohr hatte
vorübergehen  lassen,  stand wertgetränkt  bis in die tiefste Faser vor mir;
was  ich  "auswendig"  gelernt,  "erfaßte" ich  mit  einem  Schlag  als mein
"Eigen"tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen nackt vor
mir.
     Die "hohen" Ideale  der Menschheit,  die  vordem  mit kommerzienrätlich
biederer  Miene,  die Pathosbrust mit  Orden bekleckst, mich  von oben herab
behandelt hatten,  -  demütig nahmen  sie jetzt die Maske von der Fratze und
entschuldigten sich:  sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin Krücken
für - einen noch frecheren Schwindel.
     Träumte ich nicht  vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel
gesprochen?
     Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.
     Richtig: dort lag die Kerze, die  mir  Schemajah  mitgegeben hatte; und
selig wie ein kleiner Junge  in der Christfestnacht, der sich überzeugt hat,
daß der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden ist, wühlte
ich mich wieder in die Kissen.
     Und wie ein Spürhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen
Rätsel, die mich rings umgaben.
     Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurückzugelangen, bis
zu dem meine Erinnerung  reichte. Nur von dort aus - glaubte ich - könnte es
mir möglich sein, jenen  Teil  meines Daseins zu überblicken, der  für mich,
durch eine seltsame Fügung des Schicksals in Finsternis gehüllt lag.
     Aber wie  sehr ich mich auch bemühte, ich kam nicht weiter, als daß ich
mich wie einst  in dem düsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den
Torbogen den Trödlerladen des Aaron  Wassertrum unterschied - als ob ich ein
Jahrhundert lang als  Gemmenschneider  in diesem Hause  gewohnt hätte, immer
gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!
     Schon wollte ich  es als hoffnungslos aufgeben, weiter  zu  schürfen in
den Schächten  der Vergangenheit,  da begriff ich  plötzlich mit leuchtender
Klarheit,  daß  in   meiner  Erinnerung  wohl  die   breite  Heerstraße  der
Geschehnisse  mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig
schmaler Fußsteige, die wohl  bisher den Hauptpfad ständig begleitet hatten,
von mir jedoch nicht beachtet worden  waren. "Woher", schrie es  mir fast in
die  Ohren,  "hast du denn die  Kenntnisse, dank derer du jetzt  dein  Leben
fristest? Wer hat dich Gemmenschneiden gelehrt -  und Gravieren  und all das
andere? Lesen, schreiben,  sprechen - und essen -  und gehen,  atmen, denken
und fühlen?"
     Sofort griff ich den Rat meines Innern  auf. Systematisch ging ich mein
Leben zurück.
     Ich  zwang  mich  in  verkehrter  aber ununterbrochener Reihenfolge  zu
überlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag
vor diesem und so weiter?
     Wieder  war  ich bei dem  gewissen Torbogen angelangt - - jetzt! Jetzt!
Nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der mich von dem Vergessen
trennte,  mußte überflogen sein - da trat ein Bild vor mich, das ich auf der
Rückwanderung meiner Gedanken übersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit
der Hand über die Augen - genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.
     Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiter zu forschen.
     Nur eins stand fest als bleibender Gewinn:  die  Erkenntnis:  die Reihe
der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch
zu  sein  scheint.  Die  schmalen,  verborgenen  Steige sind's,  die  in die
verlorene Heimat  zurückführen: das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift
in unserem Körper eingraviert ist, und nicht  die scheußliche Narbe, die die
Raspel des  äußeren  Lebens  hinterlaßt,  -  birgt die  Lösung  der  letzten
Geheimnisse.
     So,  wie ich zurückfinden könnte in die Tage meiner jugend, wenn ich in
der  Fibel das Alphabet in verkehrter  Folge  vornähme von Z bis A,  um dort
anzulangen, wo ich in der Schule  zu lernen  begonnen, -  so,  begriff  ich,
mußte ich auch wandern können in die andere ferne Heimat, die jenseits allen
Denkens liegt.
     Eine Weltkugel an Arbeit wälzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules
trug eine Zeitlang das Gewölbe des  Himmels auf seinem Haupte, fiel mir ein,
und versteckte  Bedeutung  schimmerte  mir  aus  der Sage entgegen.  Und wie
Herkules wieder loskam  durch eine List, indem er den Riesen Atlas bat: "Laß
mich  nur  einen Bausch  von Stricken  um  den Kopf binden,  damit  mir  die
entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt", so gäbe es vielleicht  einen
dunklen Weg - dämmerte mir - von dieser Klippe weg.
     Ein tiefer  Argwohn, der Führerschaft  meiner Gedanken weiter blind  zu
vertrauen, beschlich mich plötzlich. Ich legte mich gerade und verschloß mit
den  Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu  werden durch die Sinne.
Um jeden Gedanken zu töten.
     Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur
einen Gedanken durch einen  anderen vertreiben,  und  starb der  eine, schon
mästete sich der nächste an seinem Fleische. Ich flüchtete in den brausenden
Strom meines  Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem Fuß; ich verbarg
mich  im Hämmerwerk  meines  Herzens: nur eine kleine Weile, und sie  hatten
mich entdeckt.
     Abermals  kam  mir da  Hillels freundliche Stimme zu  Hilfe und  sagte:
"Bleib  auf  deinem  Weg  und wanke  nicht!  Der  Schlüssel  zur  Kunst  des
Vergessens gehört unseren Brüdern, die den  Pfad des  Todes wandeln; du aber
bist geschwängert vom Geiste des - Lebens."
     Das  Buch Ibbur erschien  vor mir,  und zwei Buchstaben  flammten darin
auf: der eine, der das erzene Weib  bedeutete, mit dem Pulsschlag,  mächtig,
gleich  einem Erdbeben, - der andere in  unendlicher Ferne: der Hermaphrodit
auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.
     Dann  fuhr  Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der  Hand  über  meine
Augen, und ich schlummerte ein.

     "Mein lieber und verehrter Meister Pernath!
     Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und  höchster Angst.
Bitte, vernichten  Sie ihn  sofort,  nachdem  Sie ihn gelesen  haben, - oder
besser noch, bringen  Sie ihn mir  samt Kuvert mit.  - Ich hätte keine  Ruhe
sonst.
     Sagen  Sie keiner Menschenseele, daß  ich Ihnen geschrieben habe.  Auch
nicht, wohin Sie heute gehen werden!
     Ihr ehrliches gutes Gesicht hat  mir  - "neulich" - (Sie  werden  durch
diese kurze Anspielung auf ein Ereignis,  dessen  Zeuge  Sie waren, erraten,
wer  Ihnen  diesen Brief  schreibt,  denn  ich fürchte  mich,  meinen  Namen
darunter  zu  setzen)  -  so viel Vertrauen eingeflößt, und weiter,  daß Ihr
lieber, seliger Vater mich als Kind  unterrichtet hat,  - alles das gibt mir
den Mut, mich an Sie, als vielleicht den einzigen  Menschen, der noch helfen
kann, zu wenden.
     Ich flehe Sie an, kommen  Sie  heute, abends um 5 Uhr, in die Domkirche
auf dem Hradschin."
     Eine Ihnen bekannte Dame.
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     Wohl eine  Viertelstunde  lang saß  ich da und hielt  den  Brief in der
Hand.  Die seltsame,  weihevolle Stimmung,  die mich  von  gestern nacht her
umfangen  gehalten, war  mit  einem  Schlag  gewichen, -  weggeweht von  dem
frischen  Windhauch  eines neuen irdischen Tages.  Ein junges  Schicksal kam
lächelnd  und verheißungsvoll  -  ein  Frühlingskind  -  auf  mich  zu.  Ein
Menschenherz suchte Hilfe bei  mir. - Bei mir! Wie sah meine Stube plötzlich
so anders aus! Der  wurmstichige, geschnitzte Schrank  blickte  so zufrieden
drein, und die vier Sessel kamen mir  vor wie  alte Leute, die um den  Tisch
herumsitzen und behaglich kichernd Tarock spielen.
     Meine  Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll Reichtum
und Glanz.
     So sollte der morsche Baum noch Früchte tragen?
     Ich fühlte,  wie  mich eine lebendige  Kraft durchrieselte,  die bisher
schlafen gelegen in  mir - verborgen  gewesen in den  Tiefen  meiner  Seele,
verschüttet von dem Geröll, das der  Alltag häuft, wie eine Quelle losbricht
aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.
     Und ich wußte so gewiß, wie ich den Brief  in der  Hand  hielt, daß ich
würde  helfen können,  um was es auch ginge. Der Jubel in  meinem Herzen gab
mir die Sicherheit.
     Wieder und  wieder las  ich  die  Stelle: "und weiter,  daß Ihr  lieber
seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat -  - -"; - mir  stand der  Atem
still. Klang das  nicht wie  Verheißung:  "Heute noch  wirst du  mit mir  im
Paradiese  sein?" Die Hand, die sich mir  hinstreckte, Hilfe suchend,  hielt
mir  das Geschenk  entgegen: die Rückerinnerung, nach der  ich  dürstete,  -
würde  mir  das Geheimnis  offenbaren, den Vorhang  heben  helfen,  der sich
hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!
     "Ihr  lieber seliger Vater" -  -, wie fremdartig die Worte klangen, als
ich sie  mir  vorsagte! - Vater! - Einen Augenblick sah ich das müde Gesicht
eines  alten  Mannes  mit  weißem Haar in dem Lehnstuhl  neben meiner  Truhe
auftauchen  - fremd,  ganz fremd und  doch so schauerlich bekannt; -  - dann
kamen  meine  Augen  wieder  zu  sich,  und die Hammerlaute  meines  Herzens
schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.
     Erschreckt fuhr ich  auf: hatte ich die Zeit verträumt? Ich blickte auf
die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fünf.
     Ich  ging  in meine  Schlafkammer nebenan,  holte Hut  und  Mantel  und
schritt die Treppen hinab.  Was kümmerte  mich heute das Geraune der dunklen
Winkel, die  bösartigen,  engherzigen, verdrossenen Bedenken, die  immer von
ihnen  aufstiegen:  "Wir  lassen dich nicht,  - du bist unser, - wir  wollen
nicht, daß du dich freust - das wäre noch schöner, Freude hier im Haus!"
     Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen Gängen und
Ecken her  um  mich gelegt  mit  würgenden Händen: heute  wich  er  vor  dem
lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb ich stehen an Hillels
Tür.
     Sollte ich eintreten?
     Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu  klopfen. Mir war so ganz  anders
heute, - so, als dürfe ich gar nicht hinein zu ihm. Und schon trieb mich die
Hand des Lebens vorwärts, die Stiegen hinab. - -
     Die Gasse lag weiß im Schnee.
     Ich  glaube, daß viele  Leute  mich  gegrüßt  haben; ich  erinnere mich
nicht, ob  ich ihnen gedankt. Immer  wieder fühlte ich  an die Brust, ob ich
den Brief auch bei mir trüge:
     Es ging eine Wärme von der Stelle aus. - -
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     Ich  wanderte  durch  die  Bogen  der  gequaderten Laubengänge  auf dem
Altstädter Ring und an  dem  Erzbrunnen vorbei, dessen  barockes Gitter voll
Eiszapfen  hing, hinüber über die steinerne Brücke mit ihren Heiligenstatuen
und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.
     Unten schäumte der Fluß voll Haß gegen die Fundamente.
     Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehöhlten Sandstein  der heiligen
Luitgard mit "den Qualen der Verdammten" darin: dicht lag der Schnee auf den
Lidern der Büßenden und den Ketten an ihren betend erhobenen Händen.
     Torbogen nahmen mich auf und  entließen mich, Paläste zogen  langsam an
mir vorüber, mit geschnitzten, hochmütigen  Portalen, darinnen Löwenköpfe in
bronzene Ringe bissen.
     Auch  hier  überall  Schnee, Schnee. Weich, weiß  wie  das  Fell  eines
riesigen Eisbären.
     Hohe, stolze  Fenster,  die  Simse  beglitzert  und  vereist,  schauten
teilnahmslos zu den Wolken empor.
     Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender Vögel war.
     Als ich die  unzähligen Granitstufen emporstieg zum  Hradschin, jede so
breit,  wie  wohl vier Menschenleiber lang sind, versank  Schritt um Schritt
die Stadt mit ihren Dächern und Giebeln vor meinem Sinn. - - -
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     Schon schlich die Dämmerung die  Häuserreihen entlang, da trat ich  auf
den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum Thron der Engel.
     Fußstapfen - die Ränder mit Krusten aus Eis - führten hin zum Nebentor.
     Von irgendwo  aus  einer  fernen  Wohnung klangen leise, verlorene Töne
eines Harmoniums in  die Abendstille hinaus. Wie Tränentropfen der Schwermut
fielen sie in die Verlassenheit.
     Ich  hörte  hinter   mir   das  Seufzen  des  Schlagpolsters,  wie  die
Kirchentüre mich  aufnahm, dann stand ich  im Dunkel, und der  goldene Altar
blinkte in starrer Ruhe herüber zu mir durch den  grünen und blauen Schimmer
sterbenden  Lichtes, das  durch  die  farbigen  Fenster  auf  die  Betstühle
niedersank. Funken sprühten aus roten, gläsernen Ampeln.
     Welker Duft von Wachs und Weihrauch.
     Ich lehnte mich in eine  Bank.  Mein Blut ward seltsam still  in diesem
Reich der Regungslosigkeit.
     Ein  Leben  ohne  Herzschlag  erfüllte  den  Raum  -  ein   heimliches,
geduldiges Warten.
     Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf.
     Da! -  Aus weiter,  weiter  Ferne  drang  das  Geräusch von Pferdehufen
gedämpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte näher kommen und verstummte.
     Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zufällt. - - -
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     Das  Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich  zugekommen, und eine
zarte, schmale Damenhand hatte leicht meinen Arm berührt.
     "Bitte, bitte, gehen wir doch dort  neben  den Pfeiler; es  widerstrebt
mir, hier in den  Betstühlen von den Dingen zu sprechen, die ich Ihnen sagen
muß."
     Die weihevollen  Bilder  ringsum zerrannen  zu nüchterner Klarheit. Der
Tag hatte mich plötzlich angefaßt.
     "Ich  weiß gar  nicht, wie ich Ihnen  danken soll, Meister Pernath, daß
Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier herauf gemacht
haben."
     Ich stotterte ein paar banale Worte.
     "-  -  Aber  ich  wußte  keinen  andern  Ort,  wo  ich   sicherer   vor
Nachforschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns gewiß
niemand nachgegangen."
     Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.
     Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon am Klang
ihrer Stimme  hatte  ich  sie  wiedererkannt als dieselbe,  die damals  voll
Entsetzen vor  Wassertrum in mein  Zimmer in der Hahnpaßgasse flüchtete. Ich
war auch nicht erstaunt darüber, denn ich hatte niemand anderen erwartet.
     Meine  Augen  hingen  an  ihrem  Gesicht,  das  in  der  Dämmerung  der
Mauernische  wohl  noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein  mochte.
Ihre  Schönheit  benahm  mir fast den  Atem, und ich stand  wie  gebannt. Am
liebsten wäre ich vor ihr niedergefallen und hätte ihre Füße geküßt, daß sie
es war, der ich helfen sollte, daß sie mich dazu erwählt hatte.
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     "Vergessen Sie, ich  bitte Sie von Herzen darum,  -  wenigstens solange
wir hier sind - die Situation, in der Sie mich damals gesehen haben", sprach
sie  gepreßt  weiter, "ich weiß auch gar  nicht, wie  Sie über  solche Dinge
denken - -"
     "Ich bin  ein  alter  Mann geworden, aber  kein  einziges Mal in meinem
Leben  war ich  so vermessen, daß  ich mich Richter gedünkt hätte über meine
Mitmenschen", war das einzige, was ich hervorbrachte.
     "Ich danke Ihnen, Meister Pernath", sagte sie warm  und  schlicht. "Und
jetzt  hören Sie mich geduldig an, ob  Sie  mir in meiner Verzweiflung nicht
helfen oder wenigstens einen Rat geben können." - Ich fühlte, wie eine wilde
Angst sie packte, und hörte ihre Stimme  zittern. - "Damals - - im Atelier -
- - damals  brach  die schreckliche Gewißheit  über mich  herein,  daß jener
grauenhafte Oger mir mit  Vorbedacht  nachgespürt hat.  - Schon durch Monate
war mir  aufgefallen, daß, wohin ich auch immer  ging, - ob allein, oder mit
meinem  Gatten,  oder  mit -  -  -  mit  -  mit  Dr. Savioli,  -  stets  das
entsetzliche  Verbrechergesicht  dieses   Trödlers  irgendwo   in  der  Nähe
auftauchte. Im Schlaf und im Wachen verfolgten mich seine schielenden Augen.
Noch  macht sich  ja  kein Zeichen  bemerkbar, was er  vorhat,  aber  um  so
qualvoller drosselt mich nachts die Angst: wann wirft er mir die Schlinge um
den Hals!
     Anfangs  wollte  mich  Dr.  Savioli  damit beruhigen,  was  denn so ein
armseliger  Trödler  wie  dieser  Aaron  Wassertrum  überhaupt  vermöchte  -
schlimmsten Falles könnte es  sich nur um eine geringfügige Erpressung  oder
dergleichen handeln, aber jedesmal  wurden seine  Lippen weiß, wenn der Name
Wassertrum  fiel. Ich ahne: Dr. Savioli hält mir  etwas  geheim, um  mich zu
beruhigen, - irgend  etwas Furchtbares, was ihn oder  mich das Leben  kosten
kann.
     Und dann  erfuhr ich, was er mir sorgsam  verheimlichen wollte: daß ihn
der  Trödler mehrere Male  des Nachts  in seiner Wohnung besucht hat!  - Ich
weiß es, ich spüre es in jeder Faser meines Körpers: es geht etwas  vor, das
sich langsam um  uns zusammenzieht wie  die Ringe einer  Schlange. - Was hat
dieser Mörder dort zu suchen? Warum kann Dr. Savioli ihn  nicht abschütteln?
Nein, nein, ich sehe  das nicht  länger  mit an; ich muß  etwas  tun. Irgend
etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt."
     Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie ließ mich
nicht zu Ende sprechen.
     "Und in den letzten Tagen  nahm der  Alp, der  mich zu erwürgen  droht,
immer greifbarere  Formen an. Dr. Savioli ist plötzlich erkrankt, - ich kann
mich  nicht mehr  mit ihm verständigen  -  darf ihn nicht besuchen, wenn ich
nicht stündlich gewärtigen soll, daß meine Liebe zu ihm entdeckt wird -;  er
liegt in Delirien,  und das  einzige, was  ich erkunden konnte, ist,  daß er
sich im Fieber  von einem Scheusal verfolgt wähnt, dessen  Lippen von  einer
Hasenscharte gespalten sind: - Aaron Wassertrum!
     Ich weiß,  wie mutig Dr. Savioli ist; um  so entsetzlicher - können Sie
sich  das  vorstellen? - wirkt es auf  mich,  ihn jetzt  gelähmt  vor  einer
Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle Nähe eines grauenhaften Würgengels
empfinde, zusammengebrochen zu sehen.
     Sie werden sagen, ich sei feige, und warum ich mich denn nicht offen zu
Dr.  Savioli bekenne,  alles  von mir würfe, wenn ich  ihn doch so  liebe -:
alles, Reichtum, Ehre, Ruf  und  so weiter,  aber  -" sie schrie es förmlich
heraus, daß es  widerhallte von den  Chorgalerien, - "ich kann nicht!  - Ich
hab' doch mein Kind, mein liebes, blondes, kleines Mädel! Ich kann doch mein
Kind  nicht hergeben! - Glauben Sie denn, mein Mann  ließe es mir?!  Da, da,
nehmen Sie das, Meister  Pernath" - sie riß im  Wahnwitz ein Täschchen  auf,
das  vollgestopft war  mit Perlenschnüren und Edelsteinen - "und bringen Sie
es dem Verbrecher; - ich weiß, er ist habsüchtig - er soll sich alles holen,
was ich  besitze, aber  mein Kind soll er mir lassen. - Nicht  wahr, er wird
schweigen? - So reden Sie doch  um Jesu  Christi willen,  sagen Sie nur  ein
Wort, daß Sie mir helfen wollen!"
     Es  gelang mir mit größter Mühe,  die Rasende  wenigstens  so  weit  zu
beruhigen, daß sie sich auf eine Bank niederließ.
     Ich  sprach  zu   ihr,  wie  es  mir  der   Augenblick  eingab.  Wirre,
zusammenhanglose Sätze.
     Gedanken jagten dabei  in meinem Hirn, so daß ich selbst kaum verstand,
was mein Mund redete, - Ideen phantastischer Art, die  zusammenbrachen, kaum
daß sie geboren waren.
     Geistesabwesend haftete  mein Blick auf einer bemalten  Mönchsstatue in
der Wandnische. Ich redete und redete. Allmählich verwandelten sich die Züge
der   Statue,   die  Kutte   wurde   ein  fadenscheiniger   Überzieher   mit
hochgeklapptem Kragen,  und ein jugendliches Gesicht mit  abgezehrten Wangen
und hektischen Flecken wuchs daraus empor.
     Ehe ich  die  Vision verstehen konnte, war  der  Mönch wieder da. Meine
Pulse schlugen zu laut.
     Die unglückliche  Frau  hatte sich über  meine Hand gebeugt  und weinte
still.
     Ich gab ihr von der Kraft, die  in mich eingezogen war in  der  Stunde,
als  ich  den  Brief gelesen  hatte,  und  mich jetzt  abermals  übermächtig
erfüllte, und ich sah, wie sie langsam daran genas.
     "Ich will  Ihnen sagen,  warum  ich mich gerade  an  Sie gewendet habe,
Meister Pernath",  fing sie nach langem Schweigen leise wieder an. "Es waren
ein  paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben - und die ich nie vergessen
konnte die vielen Jahre hindurch - -"
     Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut.
     "- -  Sie  nahmen Abschied von mir - ich weiß nicht  mehr,  weshalb und
wieso, ich war ja noch ein Kind, - und Sie sagten so  freundlich und doch so
traurig:
     ›Es  wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner, wenn  Sie
je im Leben  nicht aus noch ein wissen.  Vielleicht gibt mir Gott der  Herr,
daß  ich  es dann  sein  darf,  der  Ihnen  hilft.‹ -  Ich habe mich  damals
abgewendet und rasch meinen Ball  in den Springbrunnen fallen lassen,  damit
Sie meine Tränen nicht sehen  sollten. Und dann  wollte ich Ihnen  das  rote
Korallenherz schenken, das ich  an einem Seidenband um den  Hals  trug, aber
ich schämte mich, weil das gar so lächerlich gewesen wäre." - - -
     Erinnerung!
     - Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein Schimmer
wie  aus  einem vergessenen,  fernen  Land  der  Sehnsucht trat  vor mich  -
unvermittelt und  schreckhaft:  Ein  kleines  Mädchen  in  weißem  Kleid und
ringsum  die  dunkle  Wiese  eines  Schloßparks,  von  alten  Ulmen umsäumt.
Deutlich sah ich es wieder vor mir. - -
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     Ich mußte mich verfärbt  haben; ich merkte  es an der Hast, mit der sie
fortfuhr: "Ich weiß ja, daß Ihre Worte damals nur der Stimmung des Abschieds
entsprangen, aber  sie  waren  mir  oft ein Trost und - und ich  danke Ihnen
dafür."
     Mit aller  Kraft biß ich  die Zähne zusammen  und  jagte  den heulenden
Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zurück.
     Ich  verstand: Eine gnädige  Hand war es gewesen,  die die  Riegel  vor
meiner Erinnerung  zugeschoben hatte.  Klar stand jetzt in meinem Bewußtsein
geschrieben, was ein kurzer  Schimmer  aus alten Tagen herübergetragen: Eine
Liebe,  die  für  mein Herz  zu  stark gewesen, hatte für Jahre mein  Denken
zernagt, und die Nacht des Irrsinns war damals der Balsam für  meinen wunden
Geist geworden.
     Allmählich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins über mich und kühlte
die Tränen hinter  meinen Augenlidern. Der Hall  von  Glocken zog ernst  und
stolz durch den Dom, und ich konnte freudig lächelnd der in die Augen sehen,
die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen.
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     Wieder hörte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das Trappen der
Hufe. - - -
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     Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt.
     Die   Laternen   staunten  mich  an  mit  zwinkernden  Augen,  und  aus
geschichteten  Bergen  von Tannenbäumen raunte es von Flitter  und silbernen
Nüssen und vom kommenden Christfest.
     Auf dem Rathausplatz an der Mariensäule  murmelten bei Kerzenglanz  die
alten  Bettelweiber  mit  den  grauen  Kopftüchern  der  Muttergottes  ihren
Rosenkranz.
     Vor  dem  dunklen  Eingang  zur   Judenstadt   hockten  die  Buden  des
Weihnachtsmarktes. Mitten  darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete  grell,
von   schwelenden   Fackeln   beschienen,    die    offene    Bühne    eines
Marionettentheaters.
     Zwakhs Policcinell in  Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand und
daran  an  der  Schnur  einen  Totenschädel,  ritt  klappernd auf  hölzernem
Schimmel über die Bretter.
     In  Reihen  fest  aneinander   gedrängt  starrten  die  Kleinen  -  die
Pelzmützen  tief  über die  Ohren gezogen  -  mit offenem  Munde  hinauf und
lauschten  gebannt den  Versen  des  Prager Dichters Oskar Wiener, die  mein
Freund Zwakh da drinnen im Kasten sprach:
     "Ganz vorne schritt ein Hampelmann,
     Der Kerl war mager wie ein Dichter
     Und hatte bunte Lappen an
     Und torkelte und schnitt Gesichter." - - -
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     Ich bog in  die  Gasse  ein,  die schwarz  und  winklig  auf den  Platz
mündete.  Dicht, Kopf an Kopf,  stand lautlos eine Menschenmenge  da in  der
Finsternis vor einem Anschlagzettel.
     Ein Mann hatte ein Streichholz angezündet, und ich konnte einige Zeilen
bruchstückweise lesen.  Mit  dumpfen Sinnen  nahm mein  Bewußtsein  ein paar
Worte auf:
     Vermißt!
     1000 fl Belohnung
     Älterer Herr... schwarz gekleidet...
     ......... Signalement:
     ... fleischiges, glattrasiertes Gesicht......
     ...... Haarfarbe: weiß.........
     .. Polizeidirektion... Zimmer Nr....
     Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam hinein
in die lichtlosen Häuserreihen.
     Eine  Handvoll  winziger  Sterne glitzerte auf  dem  schmalen,  dunklen
Himmelsweg über den Giebeln.
     Friedvoll  schweiften meine Gedanken  zurück in den  Dom, und die  Ruhe
meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom Platz herüber,
schneidend klar  -  als  stünde  sie dicht an  meinem Ohr  - die  Stimme des
Marionettenspielers durch die Winterluft:
     "Wo ist das Herz aus rotem Stein?
     Es hing an einem Seidenbande
     Und funkelte im Frührotschein." - - -

     Bis tief in die Nacht hatte ich ruhelos mein Zimmer durchmessen und mir
das Gehirn zermartert, wie ich "ihr" Hilfe bringen könnte.
     Oft war ich nahe daran gewesen, hinunter zu Schemajah Hillel zu  gehen,
ihm zu erzählen, was mir  anvertraut worden, und ihn  um Rat zu bitten. Aber
jedesmal verwarf ich den Entschluß.
     Er stand im Geist so riesengroß vor mir, daß es eine Entweihung schien,
ihn mit Dingen, die das äußere Leben betrafen,  zu  behelligen,  dann wieder
kamen  Momente,  wo mich brennende  Zweifel befielen, ob ich in Wirklichkeit
alles das erlebt hätte, was nur eine kurze Spanne Zeit zurücklag und doch so
seltsam verblaßt schien, verglichen mit den lebenstrotzenden Erlebnissen des
verflossenen Tages.
     Hatte  ich  nicht  doch  geträumt?  Durfte ich -  ein  Mensch, dem  das
Unerhörte  geschehen war, daß er seine Vergangenheit vergessen hatte, - auch
nur eine Sekunde lang als Gewißheit  annehmen, wofür als einziger Zeuge bloß
meine Erinnerung die Hand aufhob?
     Mein  Blick  fiel auf die Kerze Hillels, die immer  noch auf dem Sessel
lag. Gott  sei  Dank,  wenigstens das eine  stand fest:  ich  war mit ihm in
persönlicher Berührung gewesen!
     Sollte  ich  nicht ohne  Besinnen  hinunterlaufen  zu  ihm,  seine Knie
umfassen und wie Mensch  zu Mensch ihm  klagen, daß ein  unsägliches  Weh an
meinem Herzen fraß?
     Schon hielt ich die Klinke in der Hand, da ließ ich wieder los; ich sah
voraus,  was kommen würde: Hillel würde mir mild über die Augen fahren und -
- - nein, nein, nur das nicht! Ich  hatte kein Recht, Linderung zu begehren.
"Sie" vertraute  auf mich und  meine Hilfe, und wenn die Gefahr, in der  sie
sich fühlte, mir in Momenten auch klein und nichtig erscheinen mochte, - sie
empfand sie sicherlich als riesengroß!
     Hillel um Rat zu bitten, blieb morgen Zeit  - ich zwang mich, kalt  und
nüchtern  zu denken; - ihn jetzt -  mitten in der Nacht zu stören? - es ging
nicht an. So würde nur ein Verrückter handeln.
     Ich wollte die  Lampe  anzünden;  dann  ließ ich  es wieder  sein:  der
Abglanz des Mondlichts fiel von den  Dächern gegenüber herein in mein Zimmer
und  gab mehr Helle, als  ich brauchte. Und ich fürchtete, die Nacht  könnte
noch langsamer vergehen, wenn ich Licht machte.
     Es  lag  so   viel  Hoffnungslosigkeit  in  dem  Gedanken,  die   Lampe
anzuzünden, nur  um den  Tag zu erwarten, - eine leise Angst sagte mir,  der
Morgen rücke dadurch in unerlebbare Ferne.
     Ich  trat ans Fenster: Wie ein gespenstischer, in der Luft  schwebender
Friedhof lagen  die Reihen verschnörkelter Giebel dort oben -  Leichensteine
mit  verwitterten Jahreszahlen, getürmt über die dunklen  Modergrüfte, diese
"Wohnstätten", darein  sich das  Gewimmel  der  Lebenden  Höhlen  und  Gänge
genagt.
     Lange  stand  ich so und starrte hinauf, bis ich mich leise, ganz leise
zu wundern begann, warum ich denn nicht aufschräke, wo doch ein Geräusch von
verhaltenen Schritten durch die Mauern neben mir deutlich an mein Ohr drang.
     Ich  horchte hin:  Kein Zweifel, wieder ging da ein Mensch.  Das  kurze
Ächzen der Dielen verriet, wie seine Sohle zögernd schlich.
     Mit einem Schlage war  ich ganz bei mir. Ich wurde förmlich kleiner, so
preßte sich  alles in mir zusammen unter  dem Druck  des  Willens, zu hören.
Jedes Zeitempfinden gerann zu Gegenwart.
     Noch  ein  rasches Knistern,  das  vor sich  selbst erschrak und hastig
abbrach.  Dann  Totenstille. Jene  lauernde,  grauenhafte  Stille,  die  ihr
eigener Verräter ist und Minuten ins Ungeheuerliche wachsen macht.
     Regungslos stand ich, das Ohr an die Wand gedrückt, das drohende Gefühl
in der Kehle, daß drüben einer stand, genauso wie ich und dasselbe tat.
     Ich lauschte und lauschte:
     Nichts.
     Der Atelierraum nebenan schien wie abgestorben.
     Lautlos  -  auf  den Zehenspitzen - stahl  ich  mich an den Sessel  bei
meinem Bett, nahm Hillels Kerze und zündete sie an.
     Dann überlegte ich:  Die eiserne Speichertüre draußen auf dem Gang, die
zum Atelier Saviolis führte, ging nur von drüben aufzuklinken.
     Aufs  Geratewohl  ergriff ich ein hakenförmiges Stück Draht,  das unter
meinen Graviersticheln auf dem Tische  lag: derlei Schlösser springen leicht
auf. Schon beim ersten Druck auf die Riegelfeder!
     Und was würde dann geschehen?
     Nur  Aaron Wassertrum konnte  es sein,  der  da  nebenan spionierte,  -
vielleicht  in Kästen wühlte, um  neue  Waffen  und Beweise in die  Hand  zu
bekommen, legte ich mir zurecht.
     Ob es viel nützen würde, wenn ich dazwischen trat?
     Ich besann mich nicht lang:  handeln, nicht denken! Nur dies furchtbare
Warten auf den Morgen zerfetzen!
     Und schon stand ich vor der  eisernen Bodentüre, drückte dagegen, schob
vorsichtig  den Haken ins  Schloß und  horchte.  Richtig:  Ein  schleifendes
Geräuch drinnen im Atelier, wie wenn jemand eine Schublade aufzieht.
     Im nächsten Augenblick schnellte der Riegel zurück.
     Ich konnte das Zimmer überblicken und sah,  obwohl  es fast finster war
und meine Kerze mich nur blendete,  wie ein  Mann in langem schwarzem Mantel
entsetzt vor  einem Schreibtisch aufsprang, - eine Sekunde lang unschlüssig,
wohin sich wenden, - eine Bewegung machte, als wolle er auf mich losstürzen,
sich dann den Hut vom Kopf riß und hastig damit sein Gesicht bedeckte.
     "Was suchen Sie hier!" wollte ich rufen, doch der Mann kam mir zuvor:
     "Pernath! Sie sind's?  Gotteswillen! Das Licht weg!" Die Stimme kam mir
bekannt vor, war aber keinesfalls die des Trödlers Wassertrum.
     Automatisch blies ich die Kerze aus.
     Das Zimmer lag halbdunkel da  - nur von  dem schimmrigen Dunst, der aus
der Fensternische  hereindrang, matt  erhellt  - genau  wie meines, und  ich
mußte  meine  Augen  aufs äußerste anstrengen,  ehe ich  in dem abgezehrten,
hektischen Gesicht, das  plötzlich über dem  Mantel auftauchte, die Züge des
Studenten Charousek erkennen konnte.
     "Der Mönch!"  drängte  es sich mir auf die  Zunge  und ich verstand mit
einem Mal die Vision,  die ich gestern im Dom gehabt! Charousek! Das war der
Mann, an den ich mich wenden sollte! - Und ich hörte seine Worte wieder, die
er damals im Regen unter dem Torbogen gesagt  hatte: "Aaron Wassertrum  wird
es schon erfahren, daß man mit vergifteten, unsichtbaren Nadeln durch Mauern
stechen kann. Genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will."
     Hatte ich an Charousek einen Bundesgenossen?  Wußte  er ebenfalls,  was
sich zugetragen? Sein Hiersein  zu so ungewöhnlicher Stunde ließ fast darauf
schließen, aber ich scheute mich, die direkte Frage an ihn zu richten.
     Er  war  ans Fenster geeilt und spähte hinter dem Vorhang hinunter  auf
die Gasse.
     Ich erriet: er fürchtete, Wassertrum könne den Lichtschein meiner Kerze
wahrgenommen haben.
     "Sie denken gewiß,  ich  sei ein Dieb, daß  ich nachts  hier  in  einer
fremden Wohnung herumsuche,  Meister Pernath," fing er nach langem Schweigen
mit unsicherer Stimme an, "aber ich schwöre Ihnen - -"
     Ich fiel ihm sofort in die Rede und beruhigte ihn.
     Und um ihm  zu zeigen, daß ich keinerlei  Mißtrauen gegen ihn hegte, in
ihm  vielmehr  einen  Bundesgenossen  sah,  erzählte  ich  ihm  mit  kleinen
Einschränkungen,  die  ich für  nötig hielt, welche Bewandtnis  es  mit  dem
Atelier  habe, und  daß  ich fürchte, eine Frau, die  mir nahestehe,  sei in
Gefahr, den erpresserischen Gelüsten des  Trödlers  in irgendwelcher Art zum
Opfer zu fallen.
     Aus der höflichen Weise, mit  der  er mir zuhörte, ohne mich mit Fragen
zu  unterbrechen,  entnahm ich, daß  er das meiste bereits wußte,  wenn auch
vielleicht nicht in Einzelheiten.
     "Es stimmt schon",  sagte er grübelnd, als  ich  zu Ende  gekommen war.
"Habe ich mich also doch nicht geirrt! Der Kerl  will Savioli  an die Gurgel
fahren,  das  ist  klar,  aber offenbar hat  er  noch  nicht genug  Material
beisammen. Weshalb würde er sich sonst noch hier immerwährend  herumdrücken!
Ich ging nämlich gestern, sagen wir mal: ›zufällig‹ durch die Hahnpaßgasse,"
erklarte er, als er  meine  fragende  Miene bemerkte, "da fiel  mir auf, daß
Wassertrum erst lange - scheinbar unbefangen  - vor dem Tor unten auf und ab
schlenderte, dann aber,  als er sich unbeobachtet  glaubte,  rasch  ins Haus
bog. Ich ging  ihm sofort nach und tat so,  als wollte ich Sie besuchen, das
heißt,  ich klopfte  bei  Ihnen  an, und dabei überraschte  ich  ihn, wie er
draußen  an  der  eisernen  Bodentür  mit  einem  Schlüssel  herumhantierte.
Natürlich gab er es augenblicklich auf, als ich kam, und  klopfte  ebenfalls
als  Vorwand bei Ihnen an.  Sie schienen übrigens  nicht zu Hause gewesen zu
sein, denn es öffnete niemand.
     Als ich mich dann  vorsichtig in der Judenstadt erkundigte, erfuhr ich,
daß jemand,  der nach den Schilderungen nur Dr.  Savioli  sein konnte,  hier
heimlich  ein  Absteigequartier  besäße. Da Dr.  Savioli  schwerkrank liegt,
reimte ich mir das übrige zurecht.
     Sehen Sie: und  das da habe ich  aus den Schubladen zusammengesucht, um
Wassertrum  für alle Fälle zuvorzukommen", schloß  Charousek und deutete auf
ein  Paket  Briefe  auf  dem  Schreibtisch;   "es  ist  alles,  was  ich  an
Schriftstücken finden konnte. Hoffentlich ist  sonst nichts  mehr vorhanden.
Wenigstens habe ich in sämtlichen Truhen und Schränken gestöbert, so gut das
in der Finsternis ging."
     Meine Augen  durchforschten bei seiner  Rede  das  Zimmer  und  blieben
unwillkürlich  auf  einer Falltüre am Boden  haften. Ich entsann mich  dabei
dunkel, daß Zwakh mir irgendwann erzählt hatte, ein  geheimer  Zugang  führe
von unten herauf ins Atelier.
     Es war eine viereckige Platte mit einem Ring daran als Griff.
     "Wo sollen wir  die  Briefe aufheben?", fing Charousek wieder an. "Sie,
Herr Pernath, und ich sind wohl die einzigen im ganzen Getto, die Wassertrum
harmlos vorkommen,  - warum gerade ich, das -  hat -  seine  - besonderen  -
Gründe", - (ich sah, daß sich seine Züge in wildem Haß verzerrten, wie er so
den  letzten  Satz  förmlich zerbiß -) "und Sie  halt er für  - -" Charousek
erstickte das Wort "verrückt"  mit einem  raschen, erkünstelten Husten, aber
ich erriet, was  er  hatte sagen wollen. Es tat mir  nicht weh; das  Gefühl,
"ihr" helfen zu können, machte mich so  glückselig, daß jede Empfindlichkeit
ausgelöscht war.
     Wir  kamen schließlich überein,  das  Paket bei mir zu verstecken,  und
gingen hinüber in meine Kammer.
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     Charousek  war  längst  fort, aber  immer  noch  konnte  ich mich nicht
entschließen, zu Bette  zu gehen. Eine  gewisse innere Unzufriedenheit nagte
an mir  und hielt mich davon ab. Irgend  etwas sollte  ich noch  tun, fühlte
ich, aber was? was?
     Einen Plan für den Studenten entwerfen, was weiter zu geschehen hätte?
     Das  allein konnte  es nicht sein. Charousek ließ  den Trödler  sowieso
nicht aus den Augen,  darüber bestand kein Zweifel. Ich schauderte, wenn ich
an den Haß dachte, der aus seinen Worten geweht hatte.
     Was ihm Wassertrum wohl angetan haben mochte?
     Die  seltsame  innere Unruhe  in  mir  wuchs und brachte  mich fast zur
Verzweiflung. Ein Unsichtbares, Jenseitiges rief nach mir, und  ich verstand
nicht.
     Ich kam mir vor wie ein Gaul,  der dressiert wird,  das Reißen am Zügel
spürt und  nicht weiß, welches  Kunststück er machen soll, den Willen seines
Herrn nicht erfaßt.
     Hinuntergehen zu Schemajah Hillel?
     Jede Faser in mir verneinte.
     Die Vision  des Mönchs  in der Domkirche, auf  dessen Schultern gestern
der  Kopf Charouseks aufgetaucht war als  Antwort auf eine  stumme  Bitte um
Rat, gab mir Fingerzeig genug, von nun an dumpfe Gefühle nicht ohne weiteres
zu verachten. Geheime Kräfte keimten in mir auf  seit geraumer Zeit, das war
gewiß:  ich  empfand es zu übermächtig,  als  daß ich auch nur  den  Versuch
gemacht hätte, es wegzuleugnen.
     Buchstaben zu empfinden, sie nicht  nur mit  den  Augen  in  Büchern zu
lesen, - einen Dolmetsch in mir selbst aufzustellen, der mir  übersetzt, was
die  Instinkte ohne Worte raunen, darin muß der  Schlüssel liegen,  sich mit
dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verständigen, begriff ich.
     "Sie haben Augen und  sehen nicht; sie  haben  Ohren und  hören nicht",
fiel mir eine Bibelstelle wie eine Erklärung dazu ein.
     "Schlüssel,   Schlüssel,  Schlüssel",  wiederholten  mechanisch   meine
Lippen, derweilen mir der Geist jene sonderbaren Ideen vorgaukelte, bemerkte
ich plötzlich.
     "Schlüssel, Schlüssel -  -?" Mein  Blick fiel  auf den krummen Draht in
meiner Hand, der  mir vorhin zum Öffnen der Speichertüre gedient  hatte, und
eine heiße Neugier, wohin wohl die viereckige Falltür aus dem Atelier führen
könnte, peitschte mich auf.
     Und ohne zu überlegen, ging  ich  nochmals  hinüber in Saviolis Atelier
und zog an dem  Griffring  der Falltüre, bis es  mir schließlich gelang, die
Platte zu heben.
     Zuerst nichts als Dunkelheit.
     Dann  sah   ich:  Schmale,  steile  Stufen  liefen   hinab  in  tiefste
Finsternis.
     Ich stieg hinunter.
     Eine Zeitlang tastete ich mich mit den  Händen die Mauern entlang, aber
es wollte  kein  Ende nehmen:  Nischen, feucht  von  Schimmel  und Moder,  -
Windungen, Ecken und Winkel,  - Gänge geradeaus, nach links und nach rechts,
Reste einer  alten Holztüre,  Wegteilungen und  dann wieder Stufen,  Stufen,
Stufen hinauf und hinab.
     Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde überall.
     Und noch immer kein Lichtstrahl. -
     Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen hätte!
     Endlich flacher, ebener Weg.
     Aus dem Knirschen unter meinen  Füßen schloß ich, daß ich auf trockenem
Sand dahinschritt.
     Es konnte  nur  einer  jener zahllosen  Gänge sein, die scheinbar  ohne
Zweck und Ziel unter dem Getto hinführen bis zum Fluß.
     Ich  wunderte  mich   nicht:   die   halbe   Stadt   stand   doch  seit
unvordenklichen Zeiten auf solchen unterirdischen  Läuften, und die Bewohner
Prags hatten von jeher triftigen Grund, das Tageslicht zu scheuen.
     Das Fehlen jeglichen Geräuschs  zu meinen  Häupten sagte mir,  daß  ich
mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie ausgestorben
ist, befinden mußte, obwohl ich schon eine Ewigkeit gewandert war. Belebtere
Straßen oder Plätze über mir hätten sich durch fernes Wagenrasseln verraten.
     Eine  Sekunde lang würgte  mich die Furcht:  was,  wenn  ich im  Kreise
herumging!? In ein Loch  stürzte,  mich verletzte, ein  Bein brach und nicht
mehr weiter gehen konnte?!
     Was  geschah  dann mit  ihren  Briefen in  meiner  Kammer?  Sie  mußten
unfehlbar Wassertrum in die Hände fallen.
     Der Gedanke  an Schemajah Hillel,  mit dem ich  vag  den Begriff  eines
Helfers und Führers verknüpfte, beruhigte mich unwillkürlich.
     Vorsichtshalber  ging  ich aber doch langsamer und tastenden  Schrittes
und hielt den Arm in die Höhe, um nicht unversehens mit dem Kopf anzurennen,
falls der Gang niedriger würde.
     Von Zeit zu Zeit, dann immer  öfter stieß ich oben mit der Hand an, und
endlich senkte sich das Gestein so tief herab, daß ich mich bücken mußte, um
durchzukommen.
     Pötzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum.
     Ich blieb stehen und starrte hinauf.
     Nach  und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser,  kaum
merklicher Schimmer von Licht.
     Mündete hier ein Schacht, vielleicht aus irgendeinem Keller herunter?
     Ich richtete mich  auf und tastete mit beiden Händen  in  Kopfeshöhe um
mich herum: die Öffnung war genau viereckig und ausgemauert.
     Allmählich  konnte  ich darin  als  Abschluß die schattenhaften Umrisse
eines  wagerechten Kreuzes unterscheiden,  und endlich  gelang es mir, seine
Stäbe zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzwängen.
     Ich stand jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich.
     Offenbar  endeten hier die  Überbleibsel einer  eisernen  Wendeltreppe,
wenn mich das Gefühl meiner Finger nicht täuschte?
     Lang, unsagbar lang mußte  ich tappen, bis ich die zweite Stufe  finden
konnte, dann klomm ich empor.
     Es waren im  ganzen acht Stufen.  Eine jede fast in  Mannshöhe über der
andern.
     Sonderbar: die Treppe stieß oben gegen eine Art horizontalen  Getäfels,
das   aus   regelmäßigen,   sich   schneidenden   Linien   den   Lichtschein
herabschimmern ließ, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte!
     Ich duckte  mich, so tief ich konnte, um aus  etwas weiterer Entfernung
besser unterscheiden zu  können, wie die Linien verliefen, und sah zu meinem
Erstaunen,  daß  sie genau  die  Form  eines Sechsecks,  wie man  es auf den
Synagogen findet, bildeten.
     Was mochte das nur sein?
     Plötzlich kam  ich  dahinter: es war  eine  Falltür, die  an den Kanten
Licht durchließ! Eine Falltür aus Holz in Gestalt eines Sternes.
     Ich  stemmte  mich  mit  den Schultern gegen  die  Platte, drückte  sie
aufwärts  und  stand im  nächsten Moment  in einem Gemach, das  von  grellem
Mondschein erfüllt war.
     Es war  ziemlich  klein, vollständig leer bis auf einen Haufen Gerumpel
in der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster.
     Eine Türe oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den  ich  soeben
benützt,  vermochte ich nicht zu entdecken,  so  genau  ich  auch die Mauern
immer wieder von neuem absuchte.
     Die Gitterstäbe des Fensters standen zu eng, als daß ich den Kopf hätte
durchstecken können, so viel aber sah ich:
     Das  Zimmer befand sich ungefähr in  der Höhe eines dritten Stockwerks,
denn  die  Häuser gegenüber  hatten nur  zwei  Etagen und  lagen  wesentlich
tiefer.
     Das eine Ufer der  Straße unten war für  mich noch knapp sichtbar, aber
infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in tiefe
Schlagschatten  getaucht,  die  es mir  unmöglich  machten, Einzelheiten  zu
unterscheiden.
     Zum  Judenviertel mußte  die Gasse unbedingt gehören, denn  die Fenster
drüben waren sämtlich vermauert oder aus Simsen im  Bau angedeutet, und  nur
im Getto kehren die Häuser einander so seltsam den Rücken.
     Vergebens quälte  ich  mich  ab  herauszubringen was das wohl  für  ein
sonderbares Bauwerk sein mochte, in dem ich mich befand.
     Sollte  es vielleicht ein aufgelassenes Seitentürmchen der griechischen
Kirche sein? Oder gehörte es irgendwie zur Altneusynagoge?
     Die Umgebung stimmte nicht.
     Wieder  sah  ich  mich im Zimmer  um:  nichts,  was  mir  auch nur  den
kleinsten Aufschluß  gegeben  hätte. - Die Wände  und die  Decke waren kahl,
Bewurf und Kalk  längst abgefallen und weder  Nagellöcher,  noch  Nägel, die
verraten hätten, daß der Raum einst bewohnt gewesen.
     Der Boden lag fußhoch bedeckt mit Staub, als hätte ihn seit Jahrzehnten
kein lebendes Wesen betreten.
     Das  Gerümpel in der Ecke zu  durchsuchen, ekelte ich mich. Es  lag  in
tiefer Finsternis, und ich konnte nicht unterscheiden, woraus es bestand.
     Dem äußeren Eindruck nach schienen es Lumpen zu einem Knäuel geballt.
     Oder waren es ein paar alte, schwarze Handkoffer?
     Ich tastete mit dem Fuß  hin, und es gelang mir,  mit  dem Absatz einen
Teil davon in die Nähe des Lichtstreifens zu ziehen, den der Mond quer übers
Zimmer  warf.  Es schien wie ein breites, dunkles Band,  das sich da langsam
aufrollte.
     Ein blitzender Punkt wie ein Auge!
     Ein Metallknopf vielleicht?
     Allmählich wurde  mir klar:  ein Ärmel  von  sonderbarem,  altmodischem
Schnitt hing da aus dem Bündel heraus.
     Und  eine  kleine  weiße  Schachtel,  oder  dergleichen  lag  darunter,
lockerte  sich  unter  meinem  Fuß  und  zerfiel  in  eine  Menge  fleckiger
Schichten.
     Ich gab ihr einen leichten Stoß: Ein Blatt flog ins Helle.
     Ein Bild?
     Ich bückte mich: ein Pagad!
     Was mir eine weiße Schachtel geschienen, war ein Tarockspiel.
     Ich hob es auf.
     Konnte es etwas  Lächerlicheres geben: Ein Kartenspiel hier  an  diesem
gespenstischen Ort!
     Merkwürdig, daß ich mich zum  Lächeln zwingen mußte. Ein leises  Gefühl
von Grauen beschlich mich.
     Ich  suchte  nach  einer  banalen  Erklärung,  wie  die   Karten   wohl
hierhergekommen sein könnten,  und zählte dabei mechanisch das Spiel. Es war
vollständig:  78 Stück. Aber  schon während des  Zählens fiel mir etwas auf:
Die Blätter waren wie aus Eis.
     Eine  lähmende  Kälte  ging von  ihnen  aus,  und  wie  ich  das  Paket
geschlossen  in der  Hand hielt, konnte  ich  es  kaum  mehr  loslassen:  so
erstarrt  waren  meine  Finger.  Wieder  haschte  ich nach einer  nüchternen
Erklärung:
     Mein  dünner  Anzug, die  lange Wanderung ohne  Mantel  und  Hut in den
unterirdischen   Gängen,  die  grimmige  Winternacht,  die  Steinwände,  der
entsetzliche Frost,  der  mit  dem Mondlicht  durchs  Fenster hereinfloß:  -
sonderbar genug, daß ich  erst jetzt anfing zu frieren. Die Erregung, in der
ich mich die ganze Zeit befunden, mußte  mich darüber hinweggetäuscht haben.
-
     Ein Schauer nach dem andern jagte mir über die Haut. Schicht um Schicht
drangen sie tiefer, immer tiefer in meinen Körper ein.
     Ich fühlte  mein Skelett zu  Eis werden und  wurde mir  jedes einzelnen
Knochens bewußt wie kalter Metallstangen, an denen mir das Fleisch festfror.
     Kein  Umherlaufen  half, kein  Stampfen  mit den  Füßen und  nicht  das
Schlagen mit den Armen. Ich biß die Zähne zusammen, um ihr Klappern nicht zu
hören.
     Das  ist der  Tod,  sagte  ich mir,  der  dir  die kalten Hände auf den
Scheitel legt.
     Und ich wehrte mich wie ein  Rasender gegen den  betäubenden Schlaf des
Erfrierens, der, wollig  und erstickend, mich wie mit einem Mantel einhüllen
kam.
     Die Briefe, in meiner  Kammer - ihre Briefe! brüllte es in mir auf: man
wird sie finden,  wenn ich  hier sterbe.  Und sie hofft  auf  mich! Hat ihre
Rettung in meine Hände gelegt! - Hilfe! - Hilfe! Hilfe! -
     Und ich schrie durch das Fenstergitter hinunter auf die  öde Gasse, daß
es widerhallte: Hilfe, Hilfe, Hilfe!
     Warf  mich zu Boden  und sprang wieder  auf. Ich durfte nicht  sterben,
durfte  nicht! ihretwegen,  nur ihretwegen! Und wenn ich  Funken aus  meinen
Knochen schlagen sollte, um mich zu erwärmen.
     Da fiel mein Blick  auf die Lumpen in der Ecke, und  ich stürzte darauf
zu und zog sie mit schlotternden Händen über meine Kleider.
     Es  war  ein  zerschlissener  Anzug   aus  dickem,  dunklem  Tuch   von
uraltmodischem, seltsamem Schnitt.
     Ein Geruch nach Moder ging von ihm aus.
     Dann kauerte  ich mich  in dem  gegenüberliegenden Mauerwinkel zusammen
und spürte meine  Haut langsam, langsam wärmer  werden. Nur das schauerliche
Gefühl des eigenen, eisigen Gerippes in mir wollte nicht weichen. Regungslos
saß ich  da und ließ meine Augen wandern: die Karte, die ich zuerst gesehen,
- der Pagad, - lag noch immer inmitten des Zimmers in dem Lichtstreifen.
     Unverwandt mußte ich sie anstarren.
     Sie schien, soweit ich  auf  die  Entfernung hin  erkennen  konnte,  in
Wasserfarben ungeschickt von Kinderhand gemalt, und  stellte den hebräischen
Buchstaben  Aleph  dar,  in Form eines  Mannes,  altfränkisch gekleidet, den
grauen  Spitzbart kurz geschnitten und den linken Arm  erhoben, während  der
andere abwärts deutete.
     Hatte  das Gesicht  des  Mannes  nicht  eine  seltsame Ähnlichkeit  mit
meinem, dämmerte mir ein Verdacht auf? - Der Bart - er paßte so gar nicht zu
einem Pagad, - - ich kroch auf die Karte zu und warf sie  in die Ecke zu dem
Rest des Gerümpels, um den quälenden Anblick los zu sein.
     Dort lag sie  jetzt und schimmerte - ein grauweißer, unbestimmter Fleck
- zu mir herüber aus dem Dunkel.
     Mit Gewalt zwang ich mich zu überlegen, was  ich  zu beginnen hätte, um
wieder in meine Wohnung zu kommen:
     Den Morgen abwarten! Unten die Vorübergehenden vom Fenster aus anrufen,
damit  sie  mir  von  außen  mit  einer  Leiter  Kerzen  oder  eine  Laterne
heraufbrächten!  -  Ohne  Licht  die endlosen, sich  ewig  kreuzenden  Gänge
zurückzufinden,  würde  mir  nie  gelingen,  empfand  ich   als  beklemmende
Gewißheit. -  Oder, falls das Fenster zu hoch läge, daß sich jemand vom Dach
mit einem Strick - -? Gott im Himmel, wie ein Blitzstrahl durchfuhr es mich:
jetzt  wußte ich,  wo  ich  war:  Ein  Zimmer ohne Zugang  -  nur  mit einem
vergitterten  Fenster  - das  altertümliche  Haus  in der Altschulgasse, das
jeder mied! - schon einmal vor vielen Jahren hatte sich ein Mensch an  einem
Strick vom Dach herabgelassen, um durchs Fenster  zu schauen, und der Strick
war gerissen und -  Ja: ich war in dem Haus, in  dem der gespenstische Golem
jedesmal verschwand!
     Ein  tiefes Grauen, gegen das ich mich vergeblich wehrte, das ich nicht
einmal mehr durch die Erinnerung an die Briefe niederkämpfen konnte,  lähmte
jedes Weiterdenken und mein Herz fing an, sich zu krampfen.
     Hastig sagte ich mir vor mit steifen  Lippen,  es sei nur der Wind, der
da  so  eisig  aus der Ecke  herüberwehte, sagte es mir vor,  schneller  und
schneller,  mit  pfeifendem  Atem -  es  half nicht  mehr:  dort drüben  der
weißliche  Fleck  - die Karte  - sie quoll auf zu blasigem Klumpen,  tastete
sich  hin  zum  Rande  des  Mondstreifens  und  kroch  wieder  zurück in die
Finsternis.  -  Tropfende  Laute - halb gedacht, geahnt, halb  wirklich - im
Raum und doch außerhalb um mich herum und  doch anderswo, - tief im  eigenen
Herzen und  wieder mitten  im  Zimmer -  erwachten: Geräusche, wie wenn  ein
Zirkel fällt und mit der Spitze im Holz stecken bleibt!
     Immer wieder: Der weißliche Fleck -  - - der weißliche Fleck - -!  Eine
Karte,  eine erbärmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es,  schrie  ich mir
ins Hirn hinein  - - - umsonst  - - jetzt  hat  er  sich  dennoch  - dennoch
Gestalt erzwungen - der Pagad  - und hockt in der Ecke und stiert herüber zu
mir mit meinem eigenen Gesicht.
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     Stunden und Stunden  kauerte ich da -  unbeweglich - in  meinem Winkel,
ein frosterstarrtes Gerippe in fremden, modrigen Kleidern! -  Und er drüben:
ich selbst.
     Stumm und regungslos.
     So starrten wir uns in die Augen, - einer das gräßliche Spiegelbild des
andern. - - -
     Ob  er es auch  sieht,  wie sich  die  Mondstrahlen mit schneckenhafter
Trägheit über den Boden hinsaugen und wie Zeiger eines unsichtbaren Uhrwerks
in der Unendlichkeit die Wand emporkriechen und fahler und fahler werden? -
     Ich bannte ihn  fest  mit meinem  Blick und es half ihm  nichts, daß er
sich auflösen wollte  in dem  Morgendämmerschein, der ihm vom Fenster her zu
Hilfe kam.
     Ich hielt ihn fest.
     Schritt vor Schritt habe ich mit ihm gerungen  um mein Leben -  um  das
Leben, das mein ist, weil es nicht mehr mir gehört. - -
     Und wie er kleiner und kleiner wurde und sich bei Tagesgrauen wieder in
sein Kartenblatt verkroch, da stand ich auf, ging hinüber zu ihm und steckte
ihn in die Tasche - den Pagad.
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     Immer noch war die Gasse unten öd und menschenleer.
     Ich  durchstöberte die Zimmerecke, die jetzt  im stumpfen  Morgenlichte
lag: Scherben, dort eine rostige Pfanne,  morsche Fetzen,  ein Flaschenhals.
Tote Dinge und doch so merkwürdig bekannt.
     Und auch die Mauern - wie die Risse und Sprünge dann deutlich wurden! -
wo hatte ich sie nur gesehen?
     Ich nahm das Kartenpäckchen zur  Hand - es dämmerte mir auf: hatte  ich
die nicht einst selbst bemalt? Als Kind? Vor langer, langer Zeit?
     Es  war ein uraltes Tarockspiel.  Mit hebräischen Zeichen. - Nummer  12
muß der "Gehenkte" sein, überkam's mich wie halbe Erinnerung. - Mit dem Kopf
abwärts? Die Arme auf dem Rücken? - Ich blätterte nach: Da! Da war er.
     Dann wieder, halb Traum, halb Gewißheit,  tauchte ein Bild vor mir auf:
Ein geschwärztes Schulhaus, bucklig, schief,  ein  mürrisches  Hexengebäude,
die linke Schulter hochgezogen, die andere mit einem Nebenhaus verwachsen. -
-  -  Wir sind  mehrere  halbwüchsige Jungen  -  ein verlassener Keller  ist
irgendwo - - -
     Dann  sah ich  an meinem  Körper  herab  und  wurde  wieder  irre:  Der
altmodische Anzug war mir völlig fremd.
     Der  Lärm  eines holpernden Karrens schreckte  mich auf,  doch  als ich
hinabblickte: Keine  Menschenseele. Nur ein Fleischerhund stand versonnen an
einem Eckstein.
     Da! Endlich! Stimmen! menschliche Stimmen!
     Zwei  alte Weiber  kamen  langsam  die  Straße dahergetrottet,  und ich
zwängte den Kopf halb durch das Gitter und rief sie an.
     Mit offenem Mund glotzten sie in  die Höhe und berieten  sich. Aber als
sie mich sahen, stießen sie ein gellendes Geschrei aus und liefen davon.
     Sie haben mich für den Golem gehalten, begriff ich.
     Und ich erwartete, daß ein Zusammenlauf  von  Menschen entstehen würde,
denen  ich mich verständlich machen  könnte, aber wohl  eine Stunde verging,
und nur  hie  und da spähte unten  vorsichtig ein blasses  Gesicht herauf zu
mir, um sofort in Todesschreck wieder zurückzufahren.
     Sollte  ich  warten, bis vielleicht nach  Stunden oder gar  erst morgen
Polizisten kamen - die Staatsfalotten, wie Zwakh sie zu nennen pflegte?
     Nein, lieber wollte ich  einen Versuch machen, die unterirdischen Gänge
ein Stück weit auf ihre Richtung hin zu untersuchen.
     Vielleicht fiel  jetzt bei  Tag durch Ritzen  im Gestein eine Spur  von
Licht hinab?
     Ich kletterte die Leiter  hinunter,  setzte  den Weg, den  ich  gestern
gekommen war, fort - über  ganze Halden zerbrochener  Ziegelsteine und durch
versunkene Keller  - erklomm eine  Treppenruine und stand plötzlich -  -  im
Hausflur des schwarzen Schulhauses, das ich vorhin wie im Traum gesehen.
     Sofort stürzte  eine  Flutwelle  von Erinnerungen  auf mich ein: Bänke,
bespritzt mit Tinte von oben  bis unten, Rechenhefte, plärrender Gesang, ein
Junge, der Maikäfer  in  der  Klasse losläßt, Lesebücher  mit  zerquetschten
Butterbroten darin und der  Geruch  nach Orangenschalen. Jetzt wußte ich mit
Gewißheit: Ich war einst  als  Knabe hier gewesen. - Aber ich ließ mir keine
Zeit nachzudenken und eilte heim.
     Der  erste Mensch,  der  mir in der  Salnitergasse  begegnete, war  ein
verwachsener alter  Jude  mit weißen  Schläfenlocken.  Kaum  hatte  er  mich
erblickt, bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und heulte laut hebräische
Gebete herunter.
     Auf  den Lärm  hin mußten wahrscheinlich  viele Leute  aus ihren Höhlen
gestürzt  sein,  denn es brach ein unbeschreibliches Gezeter hinter mir los.
Ich   drehte   mich   um   und   sah   ein   wimmelndes  Heer  totenblasser,
entsetzenverzerrter Gesichter sich mir nachwälzen.
     Erstaunt  blickte  ich  an mir  herunter und verstand: -  ich trug noch
immer  die  seltsam  mittelalterlichen Kleider  von nachts  her über  meinem
Anzug, und die Leute glaubten, den "Golem" vor sich zu haben.
     Rasch lief ich um die Ecke hinter ein Haustor und riß mir  die modrigen
Fetzen vom Leibe.
     Gleich darauf  raste die Menge mit geschwungenen Stöcken und geifernden
Mäulern schreiend an mir vorüber.

     Einigemal im Lauf des  Tages hatte ich  an  Hillels Türe geklopft; - es
ließ mir keine  Ruhe:  ich mußte  ihn sprechen  und  fragen, was alle  diese
seltsamen Erlebnisse bedeuteten; aber immer hieß es,  er sei  noch nicht  zu
Hause.
     Sowie  er  heimkäme  vom  jüdischen  Rathaus, wollte mich seine Tochter
sofort verständigen. -
     Ein sonderbares Mädchen übrigens, diese Mirjam!
     Ein Typus, wie ich ihn noch nie gesehen.
     Eine Schönheit, so fremdartig,  daß man sie im ersten Moment  gar nicht
fassen kann, - eine  Schönheit, die einen stumm macht, wenn man sie ansieht,
und  ein unerklärliches  Gefühl,  so etwas, wie leise Mutlosigkeit  in einem
erweckt.
     Nach Proportionsgesetzen, die seit Jahrtausenden  verlorengegangen sein
müssen, ist dieses Gesicht geformt, grübelte ich mir zurecht, wie ich  es so
im Geiste wieder vor mir sah.
     Und ich dachte  nach, welchen Edelstein  ich  wählen  müßte,  um es als
Gemme festzuhalten und dabei den künstlerischen Ausdruck richtig  zu wahren:
Schon  an dem rein  Äußerlichen; dem blauschwarzen Glanz des Haares und  der
Augen,  der alles übertraf, worauf ich auch riet, scheiterte  es. - Wie erst
die unirdische Schmalheit des Gesichtes sinn- und visionsgemäß in eine Kamee
bannen,  ohne sich in die stumpfsinnige Ähnlichkeitsmacherei der kanonischen
"Kunst"richtung festzurennen!
     Nur durch ein  Mosaik ließ es  sich  lösen, erkannte ich klar, aber was
für Material wählen? Ein  Menschenleben gehörte  dazu, das passende zusammen
zu finden. - -
     Wo nur Hillel blieb!
     Ich sehnte mich nach ihm wie nach einem lieben, alten Freunde.
     Merkwürdig, wie er mir  in den wenigen Tagen  - und ich hatte ihn doch,
genaugenommen, nur  ein  einziges  Mal  im  Leben  gesprochen,  -  ins  Herz
gewachsen war.
     Ja,  richtig:  die  Briefe  - ihre  Briefe  - wollte  ich  doch  besser
verstecken.  Zu  meiner Beruhigung, falls ich wieder  einmal  länger von  zu
Hause fort sein sollte.
     Ich nahm  sie  aus  der Truhe: - in  der  Kassette würden  sie sicherer
aufbewahrt sein.
     Eine Photographie  glitt zwischen den Briefen heraus. Ich wollte  nicht
hinschauen, aber es war zu spät.
     Den Brokatstoff um die bloßen  Schultern gelegt - so wie ich  ›sie‹ das
erste  Mal gesehen, als sie in mein Zimmer flüchtete aus Saviolis Atelier  -
blickte sie mir in die Augen.
     Ein wahnsinniger  Schmerz bohrte sich in mich ein.  Ich las die Widmung
unter dem Bilde, ohne die Worte zu erfassen, und den Namen:
     Deine Angelina.
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     Angelina!!!
     Wie ich den Namen aussprach, zerriß der Vorhang, der meine  Jugendjahre
vor mir verbarg, von oben bis unten.
     Vor  Jammer  glaubte  ich  zusammenbrechen zu müssen.  Ich krallte  die
Finger in die Luft und winselte, - biß  mich  in die Hand: -  -  nur  wieder
blind sein, Gott  im Himmel, - den Scheintot weiterleben, wie bisher, flehte
ich.
     Das Weh stieg mir in den Mund. - Quoll. -  Schmeckte seltsam süß, - wie
Blut. - -
     Angelina!!
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     Der  Name kreiste  in  meinen  Adern  und  wurde  -  zu  unerträglicher
gespenstischer Liebkosung.
     Mit  einem gewaltsamen Ruck riß ich mich zusammen und zwang  mich - mit
knirschenden Zähnen  -  das  Bild anzustarren, bis  ich langsam Herr darüber
wurde!
     Herr darüber!
     Wie heute nacht über das Kartenblatt.
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     Endlich: Schritte! Männertritte.
     Er kam!
     Voll Jubel eilte ich zur Tür und riß sie auf.
     Schemajah Hillel stand Straußen und hinter ihm  - ich machte mir  leise
Vorwürfe, daß  ich  es  als  Enttäuschung empfand  - mit roten Bäckchen  und
runden Kinderaugen: der alte Zwakh.
     "Wie ich  zu meiner Freude sehe, sind  Sie  wohlauf,  Meister Pernath",
fing Hillel an.
     Ein kaltes "Sie"?
     Frost. Schneidender, ertötender Frost lag plötzlich im Zimmer.
     Betäubt,  mit halbem  Ohr,  hörte  ich  hin,  was  Zwakh,  atemlos  vor
Aufregung, auf mich losplapperte:
     "Wissen Sie schon,  der Golem geht wieder um? Neulich erst sprachen wir
davon, wissen  Sie noch, Pernath? Die ganze Judenstadt ist  auf. Vrieslander
hat ihn selbst gesehen,  den Golem. Und wieder hat es, wie immer, mit  einem
Mord begonnen" - Ich horchte erstaunt auf: Ein Mord?
     Zwakh  schüttelte mich: "Ja, wissen Sie denn von  gar  nichts, Pernath?
Unten  hängt doch  großmächtig ein  Polizeiaufruf  an  den Ecken: den dicken
Zottmann,    den    ›Freimaurer‹    -    na,     ich    meine    doch    den
Lebensversicherungsdirektor Zottmann, - soll man ermordet haben. Der Loisa -
hier  im  Haus  -  ist  bereits  verhaftet. Und  die  rote  Rosina:  spurlos
verschwunden. - Der Golem - der Golem - es ist ja haarsträubend."
     Ich gab  keine Antwort und suchte in Hillels  Augen:  warum  blickte er
mich so unverwandt an?
     Ein verhaltenes Lächeln zuckte plötzlich um seine Mundwinkel.
     Ich verstand. Es galt mir.
     Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen vor jauchzender Freude.
     Außer mir in meinem Entzücken, lief  ich planlos  im Zimmer  umher. Was
zuerst bringen? Gläser? Eine Flasche Burgunder?  (Ich hatte  doch nur eine.)
Zigarren? - Endlich fand ich Worte: "Aber warum setzt ihr euch denn nicht?!"
- Rasch schob ich meinen beiden Freunden Sessel unter. - - -
     Zwakh fing an,  sich zu ärgern: "Warum  lächeln Sie denn  immerwährend,
Hillel? Glauben Sie vielleicht nicht, daß der Golem spukt? Mir scheint.  Sie
glauben überhaupt nicht an den Golem?"
     "Ich würde nicht an ihn glauben, selbst wenn ich ihn hier im Zimmer vor
mir  sähe",  antwortete  Hillel  gelassen  mit einem Blick auf  mich. -  Ich
verstand den Doppelsinn, der aus seinen Worten klang.
     Zwakh  hielt erstaunt im Trinken inne: "Das Zeugnis von  Hunderten  von
Menschen gilt  Ihnen nichts, Hillel? -  Aber  warten Sie nur, Hillel, denken
Sie an meine Worte: Mord auf Mord wird es jetzt in der Judenstadt geben! Ich
kenne das. Der Golem zieht eine unheimliche Gefolgschaft hinter sich her."
     "Die   Häufung  gleichartiger   Ereignisse   ist  nichts  Wunderbares",
erwiderte Hillel. Er sprach im Gehen, trat ans Fenster und blickte durch die
Scheiben hinab auf den  Trödlerladen - "Wenn der  Tauwind weht, rührt sich's
in den Wurzeln. In den süßen wie, in den giftigen."
     Zwakh zwinkerte mir lustig zu und deutete mit dem Kopf nach Hillel.
     "Wenn der Rabbi nur reden  wollte, der könnte uns  Dinge  erzählen, daß
einem die Haare zu Berge stünden", warf er halblaut hin.
     Schemajah drehte sich um.
     "Ich bin nicht ›Rabbi‹, wenn ich auch  den  Titel  tragen darf. Ich bin
nur ein armseliger Archivar im jüdischen Rathaus und führe die Register über
die Lebendigen und die Toten."
     Eine verborgene  Bedeutung lag in  seiner  Rede, fühlte  ich. Auch  der
Marionettenspieler schien es unterbewußt zu empfinden, - er wurde still, und
eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort.
     "Hören Sie  mal,  Rabbi  -,  verzeihen Sie: ›Herr  Hillel‹,  wollte ich
sagen", - fing  Zwakh nach  einer Weile  wieder  an,  und seine Stimme klang
auffallend ernst, "ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Sie brauchen mir
ja nicht drauf zu antworten, wenn Sie nicht mögen, oder nicht dürfen - - -"
     Schemajah trat an den  Tisch  und spielte mit  dem Weinglas -  er trank
nicht; vielleicht verbot es ihm das jüdische Ritual.
     "Fragen Sie ruhig, Herr Zwakh."
     "-  - Wissen Sie  etwas  über  die  jüdische Geheimlehre, die  Kabbala,
Hillel?"
     "Nur wenig."
     "Ich  habe gehört, es soll ein Dokument geben, aus dem man die  Kabbala
lernen kann: den ›Sohar‹ - -"
     "Ja, den Sohar - das Buch des Glanzes."
     "Sehen  Sie, da  hat man's", schimpfte  Zwakh los.  "Ist es  nicht eine
himmelschreiende  Ungerechtigkeit,  daß  eine  Schrift,  die  angeblich  die
Schlüssel zum Verständnis der Bibel und zur Glückseligkeit enthält -"
     Hillel unterbrach ihn: "- nur einige Schlüssel."
     "Gut,  immerhin  einige! - also, daß diese  Schrift infolge ihres hohen
Wertes und ihrer Seltenheit wieder nur den  Reichen zugänglich ist? In einem
einzigen Exemplar, das noch dazu im Londoner Museum steckt, wie ich mir habe
erzählen  lassen? Und überdies  chaldäisch, aramäisch,  hebräisch - oder was
weiß ich wie - geschrieben? - Habe ich zum  Beispiel je im Leben Gelegenheit
gehabt, diese Sprachen zu lernen oder nach London zu kommen?"
     "Haben Sie denn alle Ihre Wünsche so  heiß auf dieses  Ziel gerichtet?"
fragte Hillel mit leisem Spott.
     "Offen gestanden - nein", gab Zwakh einigermaßen verwirrt zu.
     "Dann sollten Sie  sich nicht  beklagen",  sagte  Hillel  trocken, "wer
nicht nach  dem  Geist  schreit mit  allen Atomen seines Leibes, -  wie  ein
Erstickender nach Luft, - der kann die Geheimnisse Gottes nicht schauen."
     "Es  sollte trotzdem ein Buch geben, in  dem sämtliche Schlüssel zu den
Rätseln  der anderen Welt stehen, nicht nur einige", schoß es mir  durch den
Kopf,  und meine Hand spielte automatisch mit dem Pagad, den ich immer  noch
in der Tasche trug,  aber ehe  ich die Frage in Worte  kleiden konnte, hatte
Zwakh sie bereits ausgesprochen.
     Hillel  lächelte wieder  sphinxhaft: "Jede  Frage, die  ein  Mensch tun
kann, ist im selben  Augenblick beantwortet, in dem er sie geistig  gestellt
hat."
     "Verstehen Sie, was er damit meint?", wandte sich Zwakh an mich.
     Ich gab keine Antwort  und hielt den  Atem an, um kein Wort von Hillels
Rede zu verlieren.
     Schemajah fuhr fort:
     "Das ganze Leben ist  nichts anderes als formgewordene Fragen,  die den
Keim  der Antwort  in  sich  tragen - und Antworten, die schwanger gehen mit
Fragen. Wer irgend etwas anderes drin sieht, ist ein Narr."
     Zwakh schlug mit der Faust auf den Tisch:
     "Jawohl:  Fragen, die jedesmal anders lauten, und  Antworten, die jeder
anders versteht."
     "Gerade darauf  kommt  es an", sagte Hillel freundlich. "Alle  Menschen
über einen  Löffel  zu -  kurieren,  ist lediglich  Vorrecht der  Ärzte. Der
Fragende erhält die  Antwort, die ihm not tut: sonst ginge nicht die Kreatur
den Weg  ihrer Sehnsucht.  Glauben Sie denn, unsere jüdischen Schriften sind
bloß aus Willkür nur in Konsonanten geschrieben? - Jeder hat sich selbst die
geheimen Vokale dazu zu finden, die  ihm den nur für  ihn  allein bestimmten
Sinn  erschließen,  -  soll   nicht  das  lebendige  Wort  zum  toten  Dogma
erstarren."
     Der Marionettenspieler wehrte heftig ab:
     "Das sind Worte, Rabbi, Worte! Pagad Ultimo will ich heißen,  wenn  ich
daraus klug werde."
     Pagad!!  - Das  Wort  schlug  in mich ein  wie der Blitz. Ich  fiel vor
Entsetzen beinahe vom Stuhl.
     Hillel wich meinen Augen aus.
     "Pagad ultimo? Wer weiß, ob Sie nicht wirklich so  heißen, Herr Zwakh!"
- schlug  Hillels Rede wie aus weiter  Ferne an  mein Ohr. "Man  soll seiner
Sache  niemals  allzu sicher sein. -  Übrigens,  da wir  gerade  von  Karten
sprechen: Herr Zwakh, spielen Sie Tarock?"
     "Tarock? Natürlich. Von Kindheit an."
     "Dann wundert's mich, wieso Sie nach  einem Buche fragen können, in dem
die ganze Kabbala steht,  wo Sie es doch  selbst  Tausende Male in der  Hand
gehabt haben."
     "Ich? In der Hand gehabt? Ich?" - Zwakh griff sich an den Kopf.
     "Jawohl, Sie! Ist es  Ihnen niemals aufgefallen, daß das Tarockspiel 22
Trümpfe hat,  - genausoviel, wie das hebräische  Alphabet Buchstaben? Zeigen
unsere  böhmischen  Karten  nicht  zum  Überfluß   noch   Bilder  dazu,  die
offenkundig Symbole sind: Der Narr, der Tod, der Teufel, das Letzte Gericht?
- Wie laut, lieber Freund,  wollen Sie eigentlich,  daß  Ihnen das Leben die
Antworten in die Ohren schreien soll? - - Was Sie allerdings nicht zu wissen
brauchen, ist,  daß ›Tarok‹  oder  ›Tarot‹ soviel bedeutet  wie die jüdische
›Tora‹ = das Gesetz, oder das altägyptische ›Tarut‹ = ›die Befragte‹, und in
der  uralten Zendsprache das Wort: ›tarisk‹ = ›ich verlange die Antwort‹.  -
Aber die Gelehrten sollten es wissen,  bevor sie  die Behauptung aufstellen,
das Tarock stamme aus der Zeit Karls des Sechsten.  - Und  so, wie der Pagad
die  erste Karte im Spiel ist, so ist der Mensch  die erste Figur  in seinem
eignen Bilderbuch,  sein eigner Doppelgänger: - -  der  hebräische Buchstabe
Aleph, der, nach der Form des Menschen gebaut, mit der einen Hand zum Himmel
zeigt  und mit der  andern abwärts: das heißt also: ›So wie es oben ist, ist
es auch unten; so wie es unten ist, ist es auch  oben.‹  -  Darum  sagte ich
vorhin: Wer weiß, ob  Sie wirklich Zwakh heißen und nicht: ›Pagad‹ - berufen
Sie's nicht," - Hillel blickte mich dabei unverwandt an,  und ich ahnte, wie
sich unter seinen Worten ein Abgrund immer neuer Bedeutung auftat - "berufen
Sie's  nicht, Herr Zwakh! Man kann  da in finstere Gänge  geraten, aus denen
noch  keiner  zurückfand,  der  nicht - einen  Talisman  bei sich  trug. Die
Überlieferung erzählt, daß einmal drei Männer hinabgestiegen seien ins Reich
der Dunkelheit, der eine wurde wahnsinnig, der zweite blind, nur der dritte,
Rabbi  ben  Akiba,  kam  heil  wieder heim  und  sagte, er  sei sich  selbst
begegnet.  Schon so mancher, werden Sie  sagen, ist sich selbst begegnet, z.
B. Goethe, gewöhnlich  auf einer  Brücke,  oder  sonst einem Steig, der  von
einem  Ufer eines  Flusses  zum  andern führt, - hat sich  selbst  ins  Auge
geblickt und ist nicht  wahnsinnig geworden. Aber  dann war's  eben nur eine
Spiegelung des eigenen  Bewußtseins und nicht der wahre Doppelgänger:  nicht
das, was man  ›den Hauch der Knochen‹, den ›Habal Garmin‹  nennt, von dem es
heißt:  Wie  er  in  die  Grube fuhr, unverweslich,  im Gebein,  so wird  er
auferstehn am Tage  des Letzten Gerichts." - Hillels Blick bohrte sich immer
tiefer in  meine Augen -  "Unsere Großmütter sagen von  ihm: ›er wohnt  hoch
über der Erde in einem Zimmer ohne Türe, nur mit  einem Fenster, von dem aus
eine Verständigung mit den Menschen unmöglich ist. Wer ihn  zu bannen und zu
- - verfeinern  versteht, der  wird gut Freund mit sich selbst." -  - -  Was
schließlich das Tarock betrifft,  so wissen Sie so gut  wie ich:  Für  jeden
Spieler liegen die  Karten anders,  wer aber die Trümpfe  richtig verwendet,
der gewinnt die Partie - - -. Aber kommen Sie jetzt, Herr Zwakh! Gehen  wir,
Sie trinken sonst Meister Pernaths ganzen  Wein  aus, und es  bleibt  nichts
mehr übrig für ihn selbst."

     Eine  Flockenschlacht tobte  vor meinem Fenster. Regimenterweise jagten
die  Schneesterne  -  winzige  Soldaten in  weißen,  zottigen  Mäntelchen  -
hintereinander  her  an  den  Scheiben vorüber  -  minutenlang  -  immer  in
derselben  Richtung, wie  auf  gemeinsamer Flucht vor  einem  ganz besonders
bösartigen Gegner. Dann hatten sie das Davonlaufen mit  einemmal dick  satt,
schienen  aus rätselhaften Gründen einen Wutanfall  zu  bekommen und sausten
wieder  zurück, bis ihnen  von oben und unten neue feindliche Armeen  in die
Flanken fielen und alles in ein heilloses Gewirbel auflösten.
     Monate schien mir zurückzuliegen, was  ich an Seltsamem erst vor kurzem
erlebt hatte, und wären nicht täglich  einigemal immer  neue krause Gerüchte
über den Golem zu mir  gedrungen, die alles wieder frisch  aufleben  ließen,
ich glaube, ich hätte mich in Augenblicken des Zweifels verdächtigen können,
das Opfer eines seelischen Dämmerzustandes gewesen zu sein.
     Aus den  bunten Arabesken, die die Ereignisse um mich gewoben, stach in
schreienden  Farben hervor, was mir Zwakh über den noch immer unaufgeklärten
Mord an dem sogenannten "Freimaurer" erzählt hatte.
     Den blatternarbigen Loisa damit in Zusammenhang zu bringen, wollte  mir
nicht recht einleuchten, obwohl ich einen dunklen Verdacht nicht abschütteln
konnte,  -  fast  unmittelbar  darauf,  als Prokop  in  jener Nacht aus  dem
Kanalgitter ein unheimliches Geräusch  gehört zu haben geglaubt, hatten  wir
den Burschen beim "Loisitschek"  gesehen. Allerdings lag kein Anlaß vor, den
Schrei unter der Erde, der überdies geradesogut eine Sinnestäuschung gewesen
sein konnte, als Hilferuf eines Menschen zu deuten. - - -
     Das Schneegestöber  vor meinen  Augen  blendete mich  und  ich fing an,
alles in tanzenden Streifen zu sehen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder
auf  die  Gemme vor  mir.  Das  Wachsmodell,  das  ich von  Mirjams  Gesicht
entworfen  hatte,  mußte  sich vortrefflich  auf  den  bläulich  leuchtenden
Mondstein da übertragen  lassen. - Ich  freute mich: es war  ein  angenehmer
Zufall, daß sich etwas so Geeignetes unter  meinem Mineralienvorrat gefunden
hatte.  Die tiefschwarze  Matrix  von  Hornblende gab dem  Stein  gerade das
richtige  Licht  und die Konturen paßten  so  genau,  als habe ihn die Natur
eigens  geschaffen, ein  bleibendes  Abbild  von Mirjams  feinem  Profil  zu
werden.
     Anfangs  war meine Absicht gewesen, eine Kamee daraus zu schneiden, die
den  ägyptischen  Gott  Osiris  darstellen   sollte,  und  die   Vision  des
Hermaphroditen aus dem Buche Ibbur, die  ich  mir jederzeit mit auffallender
Deutlichkeit  ins  Gedächtnis  zurückrufen konnte,  regte  mich künstlerisch
stark  an,  aber allmählich entdeckte  ich nach  den ersten  Schnitten  eine
solche  Ähnlichkeit mit der Tochter Schemajah Hillels, daß ich  meinen  Plan
umstieß. - - -
     - Das Buch Ibbur! -
     Erschüttert legte ich den Stahlgriffel weg. Unfaßbar, was in der kurzen
Spanne Zeit in mein Leben getreten war!
     Wie jemand, der sich plötzlich  in eine unabsehbare Sandwüste  versetzt
sieht,  wurde ich mir mit einem Schlage der  tiefen, riesengroßen Einsamkeit
bewußt, die mich von meinen Nebenmenschen trennte.
     Konnte ich je mit einem Freund - Hillel ausgenommen - davon reden,  was
ich erlebt?
     Wohl  war  mir in  den  stillen  Stunden  der verflossenen  Nächte  die
Erinnerung  wiedergekehrt,  daß mich  all meine  Jugendjahre  -  von  früher
Kindheit  angefangen  -  ein unsagbarer  Durst  nach  dem  Wunderbaren,  dem
jenseits aller Sterblichkeit  Liegenden, bis zur  Todespein gefoltert hatte,
aber die Erfüllung meiner Sehnsucht war wie ein Gewittersturm  gekommen  und
erdrückte den Jubelaufschrei meiner Seele mit ihrer Wucht.
     Ich zitterte vor dem Augenblick,  wo  ich zu mir selbst kommen  und das
Geschehene in  seiner vollen  markverbrennenden  Lebendigkeit  als Gegenwart
empfinden mußte.
     Nur  jetzt  sollte  es  noch  nicht kommen!  Erst den  Genuß auskosten:
Unaussprechliches an Glanz auf sich zukommen zu sehen!
     Ich  hatte es  doch in meiner Macht!  Brauchte  nur hinüber zu gehen in
mein  Schlafzimmer und die Kassette aufzusperren, in der das Buch Ibbur, das
Geschenk der Unsichtbaren, lag!
     Wie lang war's her, da  hatte es  meine Hand berührt, als ich Angelinas
Briefe dazuschloß!
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     Dumpfes  Dröhnen draußen, wie von Zeit zu Zeit der Wind die angehäuften
Schneemassen von den Dächern hinab vor die Häuser  warf, gefolgt von  Pausen
tiefer Stille, da die Flockendecke auf dem Pflaster jeden Laut verschlang.
     Ich wollte weiterarbeiten, - da plötzlich stahlscharfe Hufschläge unten
die Gasse entlang, daß man's förmlich Funken sprühen sah.
     Das Fenster zu öffnen und  hinauszuschauen, war unmöglich:  Muskeln aus
Eis verbanden seine Ränder mit dem Mauerwerk, und die Scheiben waren bis zur
Hälfte weiß  verweht. Ich sah  nur,  daß Charousek scheinbar  ganz friedlich
neben  dem  Trödler  Wassertrum  stand  -  sie  mußten soeben  ein  Gespräch
mitsammen geführt haben - sah, wie die Verblüffung, die sich in ihrer beider
Mienen malte, wuchs und sie sprachlos offenbar den Wagen, der meinen Blicken
entzogen war, anstarrten.
     Angelinas Gatte ist es, fuhr es mir durch den Kopf. - Sie selbst konnte
es  nicht  sein!  Mit ihrer  Equipage  hier  bei  mir vorzufahren  -  in der
Hahnpaßgasse! - vor aller Leute Augen! Es wäre hellichter Wahnsinn  gewesen.
- Aber was sollte ich zu ihrem Gatten sagen, wenn er's wäre und mich auf den
Kopf zu fragte?
     Leugnen, natürlich leugnen.
     Hastig legte ich  mir die Möglichkeiten zurecht: es kann nur ihr  Gatte
sein. Er hat einen anonymen Brief bekommen, - von Wassertrum - daß  sie hier
gewesen sei  zu  einem  Rendezvous,  und  sie  hat  eine  Ausrede gebraucht:
wahrscheinlich, daß sie eine Gemme oder sonst etwas bei mir bestellt habe. -
- - Da! wütendes Klopfen an meiner Tür und - Angelina stand vor mir.
     Sie konnte kein Wort hervorbringen,  aber der Ausdruck  ihres Gesichtes
verriet mir alles: sie brauchte sich nicht  mehr zu verstecken. Das Lied war
aus.
     Dennoch lehnte sich  irgend etwas in mir  auf gegen diese  Annahme. Ich
brachte es nicht fertig, zu glauben, daß das  Gefühl, ihr helfen zu  können,
mich belogen haben sollte.
     Ich führte sie in meinen Lehnstuhl. Streichelte ihr stumm das Haar; und
sie verbarg, todmüde wie ein Kind, ihren Kopf an meiner Brust.
     Wir hörten  das Knistern der  brennenden Scheite im Ofen und sahen, wie
der rote Schein über die Dielen huschte, aufflammte und erlosch - aufflammte
und erlosch - aufflammte und erlosch - - -
     "Wo ist das Herz  aus rotem Stein - - -" klang es in meinem Innern. Ich
fuhr auf: Wo bin ich! Wie lang sitzt sie schon hier?
     Und ich  forschte sie aus, - vorsichtig,  leise, ganz  leise,  daß  sie
nicht aufwache und ich mit der Sonde die schmerzende Wunde nicht berühre.
     Bruchstückweise erfuhr  ich, was ich zu wissen brauchte, und setzte  es
mir zusammen wie ein Mosaik:
     "Ihr Gatte weiß - -?"
     "Nein, noch nicht; er ist verreist."
     Also um  Dr. Saviolis Leben drehte sich's; - Charousek hatte es richtig
erraten. Und weil's um Saviolis Leben ging, und nicht mehr um ihres, war sie
hier. Sie denkt nicht mehr daran, irgend etwas zu verbergen, begriff ich.
     Wassertrum war  abermals  bei  Dr.  Savioli  gewesen.  Hatte  sich  mit
Drohungen und Gewalt den Weg erzwungen bis zu seinem Krankenlager.
     Und weiter! Weiter! Was wollte er von ihm?
     Was er wollte? Sie hatte es halb erraten, halb erfahren: er wollte, daß
- - daß - er wollte, daß sich Dr. Savioli - - ein Leid antue.
     Sie kenne jetzt auch  die Gründe von Wassertrums wildem besinnungslosem
Haß: "Dr. Savioli habe einst  seinen Sohn, den Augenarzt Wassory, in den Tod
getrieben."
     Sofort schlug  ein Gedanke in mich  ein wie der Blitz:  hinunterlaufen,
dem Trödler alles verraten: daß Charousek den Schlag geführt hatte - aus dem
Hinterhalt  - und nicht Savioli,  der nur das  Werkzeug war - - -.  "Verrat!
Verrat!"  heulte es mir ins Hirn, "du willst also den armen schwindsüchtigen
Charousek, der dir  helfen wollte und  ihr,  der  Rachsucht dieses  Halunken
preisgeben?" - Und es  zerriß  mich in blutende Hälften. -  Dann  sprach ein
Gedanke eiskalt  und gelassen die Losung aus: "Narr! Du  hast es doch in der
Hand!  Brauchst ja nur die Feile  dort auf dem Tisch  zu nehmen, hinunter zu
laufen und sie dem Trödler durch die  Gurgel zu jagen, daß die Spitze hinten
zum Genick herausschaut."
     Mein Herz jauchzte einen Dankesschrei zu Gott.
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     Ich forschte weiter:
     "Und Dr. Savioli?"
     Kein Zweifel,  daß er Hand  an sich  legen  wird, wenn  sie  ihn  nicht
rettete. Die Krankenschwestern ließen ihn nicht  aus  den Augen,  hatten ihn
mit  Morphium betäubt,  aber  vielleicht erwacht er  plötzlich  - vielleicht
gerade  jetzt - und  - und - nein, nein, sie müsse fort, dürfe keine Sekunde
Zeit  mehr  versäumen,  -  sie  wolle  ihrem  Gatten  schreiben,  ihm  alles
eingestehen, - solle er ihr das Kind nehmen, aber Savioli sei gerettet, denn
sie hätte Wassertrum damit die einzige Waffe aus der Hand geschlagen, die er
besäße und mit der er drohe.
     Sie wolle das Geheimnis selbst enthüllen, ehe er es verraten könne.
     "Das  werden  Sie nicht  tun, Angelina!" schrie ich  und dachte  an die
Feile und die Stimme versagte mir in jubelnder Freude über meine Macht.
     Angelina wollte sich losreißen: ich hielt sie fest.
     "Nur noch eins: Überlegen Sie, wird Ihr Gatte  denn dem Trödler so ohne
weiteres glauben?"
     "Aber Wassertrum hat doch  Beweise, offenbar  meine  Briefe, vielleicht
auch  ein  Bild  von mir,  -  alles, was  im Schreibtisch nebenan im Atelier
versteckt war."
     Briefe? Bild?  Schreibtisch? - ich wußte nicht  mehr, was  ich tat: ich
riß Angelina an meine Brust und küßte sie. Auf den Mund,  auf die Stirn, auf
die Augen.
     Ihr blondes Haar lag wie ein goldner Schleier vor meinem Gesicht.
     Dann  hielt  ich sie  an  ihren  schmalen Händen und  erzählte  ihr mit
fliegenden  Worten,  daß der Todfeind  Wassertrums -  ein  armer  böhmischer
Student -  die  Briefe und  alles in Sicherheit gebracht  hätte  und  sie in
meinem Besitz seien und fest verwahrt.
     Und sie fiel mir um den Hals und lachte und weinte in einem Atem. Küßte
mich. Rannte zur Tür. Kehrte wieder um und küßte mich wieder.
     Dann war sie verschwunden.
     Ich stand  wie betäubt  und fühlte noch immer den Atem ihres Mundes  an
meinem Gesicht.
     Ich  hörte wie  die Wagenräder über  das  Pflaster  donnerten  und  den
rasenden Galopp der Hufe. Eine Minute später war alles still. Wie ein Grab.
     Auch in mir.
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     Plötzlich knarrte die  Tür  leise  hinter mir, und  Charousek stand  im
Zimmer:
     "Verzeihen  Sie,  Herr  Pernath,  ich  habe  lange geklopft,  aber  Sie
schienen es nicht zu hören."
     Ich nickte nur stumm.
     "Hoffentlich nehmen Sie nicht an, daß ich  mich mit Wassertrum versöhnt
habe, weil  Sie mich vorhin mit ihm sprechen sahen?" - Charouseks hohnisches
Lächeln  sagte mir,  daß er nur einen grimmigen Spaß  machte. -  "Sie müssen
nämlich wissen: Das Gluck ist mir hold; die Kanaille da unten fängt an, mich
in  ihr Herz zu schließen,  Meister Pernath. - - Es ist eine seltsame Sache,
das mit der Stimme des Blutes", setzte er leise - halb für sich - hinzu.
     Ich verstand nicht, was er damit meinen konnte, und nahm an, ich  hätte
etwas überhört. Die ausgestandene Erregung zitterte noch zu stark in mir.
     "Er wollte  mir einen Mantel  schenken", fuhr Charousek laut fort. "Ich
habe natürlich dankend abgelehnt. Mich brennt schon meine eigene Haut genug.
- Und dann hat er mir Geld aufgedrängt."
     "Sie haben es angenommen?!", wollte es mir herausfahren, aber ich hielt
noch rasch meine Zunge im Zaum.
     Die Wangen des Studenten bekamen kreisrunde rote Flecken:
     "Das Geld habe ich selbstverständlich angenommen."
     Mir wurde ganz wirr im Kopf!
     "- an - genommen?", stammelte ich.
     "Ich  hätte  nie  gedacht, daß  man  auf  Erden eine  so  reine  Freude
empfinden kann!" -  Charousek hielt  einen Augenblick inne und  schnitt eine
Fratze.  -  "Ist  es  nicht  ein erhebendes  Gefühl,  im Haushalt der  Natur
›Mütterchens  Vorsehung‹ ökonomischen Finger  allenthalben  in  Weisheit und
Umsicht walten zu sehen!?" - Er sprach  wie  ein Pastor und  klimperte dabei
mit  dem Geld in  seiner Tasche, - "wahrlich, als hehre Pflicht empfinde ich
es, den Schatz,  mir  anvertraut  von milder Hand,  auf  Heller und  Pfennig
dereinst dem edelsten aller Zwecke zuzuführen."
     War er betrunken? Oder wahnsinnig?
     Charousek änderte plötzlich den Ton:
     "Es liegt eine satanische Komik darin, daß Wassertrum sich die - Arznei
selber bezahlt. Finden Sie nicht?"
     Eine  Ahnung dämmerte mir auf, was sich hinter Charouseks Rede verbarg,
und mir graute vor seinen fiebernden Augen.
     "Übrigens lassen wir das jetzt, Meister Pernath. Erledigen wir erst die
laufenden Geschäfte. Vorhin, die Dame, das war ›sie‹ doch?  Was ist ihr denn
eingefallen, hier öffentlich vorzufahren?"
     Ich erzählte Charousek, was geschehen war.
     "Wassertrum  hat bestimmt keine Beweise  in  den Händen", unterbrach er
mich  freudig,  "sonst  hätte er  nicht heute morgen  abermals  das  Atelier
durchsucht. - Merkwürdig, daß Sie ihn nicht gehört haben!? Eine volle Stunde
lang war er drüben."
     Ich staunte, woher er alles so genau wissen könne, und sagte es ihm.
     "Darf  ich?" -  als Erklärung nahm er  sich  eine Zigarette vom  Tisch,
zündete sie an und  erläuterte: "Sehen Sie, wenn Sie  jetzt die  Tür öffnen,
bringt die  Zugluft, die  vom Stiegenhaus hereinweht, den Tabakrauch aus der
Richtung. Es ist das vielleicht das einzige Naturgesetz, das Herr Wassertrum
genau kennt, und für alle Fälle hat  er  in der  Straßenmauer des Ateliers -
das Haus gehört ihm, wie Sie wissen - eine kleine, versteckte, offene Nische
anbringen lassen:  eine Art Ventilation, und darin ein rotes Fähnchen.  Wenn
nun jemand das Zimmer betritt oder verläßt, das heißt: die Zugtür öffnet, so
merkt es Wassertrum unten an dem heftigen Flattern des Fähnchens. Allerdings
weiß ich es ebenfalls," setzte  Charousek trocken hinzu, "wenn's mir drum zu
tun  ist, und kann es  von dem Kellerloch  vis-à-vis,  in dem  zu hausen ein
gnädiges  Schicksal  mir  huldreichst  gestattet,  genau  beobachten.  - Der
niedliche  Scherz  mit der  Ventilation  ist zwar  ein  Patent  des würdigen
Patriarchen, aber auch mir seit Jahren geläufig."
     "Was für einen übermenschlichen Haß Sie gegen ihn haben müssen, daß Sie
so  jeden  seiner  Schritte  belauern.  Und  noch dazu seit langem, wie  Sie
sagen!" warf ich ein.
     "Haß?"  Charousek  lächelte krampfhaft.  "Haß? - Haß ist kein Ausdruck.
Das Wort, das meine Gefühle gegen ihn bezeichnen könnte, muß erst geschaffen
werden. - Ich hasse, genaugenommen, auch gar nicht ihn. Ich hasse sein Blut.
Verstehen Sie das?  Ich  wittere wie  ein wildes  Tier,  wenn  auch nur  ein
Tropfen von seinem Blut in den Adern  eines Menschen fließt, - und" - er biß
die Zähne  zusammen  - "das kommt  ›zuweilen‹  vor  hier im  Getto." Unfähig
weiter zu  sprechen vor Aufregung lief er ans Fenster  und starrte hinaus. -
Ich hörte wie er sein Keuchen unterdrückte. Wir schwiegen beide eine Weile.
     "Hallo, was ist denn das?" fuhr er plötzlich auf und winkte mir hastig:
"Rasch, rasch! Haben Sie nicht einen Operngucker oder so etwas?"
     Wir spähten vorsichtig hinter den Vorhängen hinunter:
     Der taubstumme Jaromir stand vor dem Eingang des Trödlerladens und bot,
soviel  wir aus  seiner  Zeichensprache  erraten konnten,  Wassertrum  einen
kleinen blitzenden Gegenstand, den er in der Hand halb verbarg, zum Kauf an.
Wassertrum  fuhr  danach wie ein  Geier und  zog sich  damit in  seine Höhle
zurück.
     Gleich darauf stürzte er wieder hervor - totenblaß - und packte Jaromir
an der Brust: Es entspann  sich ein heftiges Ringen. -  Mit einem  Mal  ließ
Wassertrum los und schien  zu überlegen. Nagte wütend  an seiner gespaltenen
Oberlippe. Warf einen grübelnden Blick zu uns herauf und zog dann Jaromir am
Arm friedlich in seinen Laden.
     Wir warteten  wohl eine Viertelstunde  lang: sie  schienen nicht fertig
werden zu können mit ihrem Handel.
     Endlich  kam  der Taubstumme mit befriedigter Miene  wieder heraus  und
ging seines Weges.
     "Was  halten Sie davon?", fragte ich.  "Es scheint  nichts Wichtiges zu
sein?  Vermutlich hat  der arme  Bursche irgendeinen  erbettelten Gegenstand
versilbert."
     Der Student gab keine Antwort und setzte sich schweigend wieder  an den
Tisch.
     Offenbar legte auch er dem Geschehnis keine Bedeutung bei, denn er fuhr
nach einer Pause da fort, wo er stehen geblieben war:
     "Ja. Also  ich sagte,  ich  hasse  sein  Blut. - Unterbrechen Sie mich,
Meister Pernath, wenn  ich wieder heftig  werde. Ich will kalt bleiben.  Ich
darf  meine besten  Empfindungen  nicht  so vergeuden. Es packt  mich  sonst
nachher wie Ernüchterung. Ein Mensch  mit Schamgefühl soll  in kühlen Worten
reden, nicht mit Pathos wie eine Prostituierte oder  - oder  ein  Dichter. -
Seit  die  Welt  steht,  wär's niemand eingefallen, vor  Leid  die ›Hände zu
ringen‹, wenn nicht  die Schauspieler diese  Geste als besonders ›plastisch‹
ausgetüftelt hätten."
     Ich  begriff, daß er mit Absicht  blind  drauflos  redete, um innerlich
Ruhe zu bekommen.
     Es  wollte ihm nicht  recht  gelingen. Nervös lief er im Zimmer auf und
ab, faßte alle möglichen  Gegenstände an und stellte sie zerstreut zurück an
ihren Platz.
     Dann war er mit einem Ruck wieder mitten in seinem Thema:
     "Aus den  kleinsten unwillkürlichen  Bewegungen eines  Menschen  verrät
sich  mir dieses  Blut. Ich kenne  Kinder, die  ›ihm‹  ähnlich sehen und als
seine gelten, aber doch sind sie nicht vom  selben Stamme -  man  kann  mich
nicht  täuschen. Jahrelang erfuhr ich nicht, daß Dr.  Wassory sein Sohn ist,
aber ich habe es - ich möchte sagen - gerochen.
     Schon als  kleiner  Junge, als ich noch nicht  ahnen konnte, in welchen
Beziehungen  Wassertrum zu  mir  steht,"  - sein  Blick ruhte  eine  Sekunde
forschend auf mir, - "besaß ich diese Gabe. Man hat mich mit Füßen getreten,
mich geschlagen, daß es  wohl  keine Stelle an meinem Körper gibt, die nicht
wüßte, was rasender Schmerz ist, - hat mich  hungern und dursten lassen, bis
ich  halb wahnsinnig wurde und schimmlige Erde gefressen habe, aber  niemals
konnte ich  diejenigen hassen, die mich peinigten. Ich konnte einfach nicht.
Es war kein Platz mehr in mir für  Haß. - Verstehen Sie?  Und doch war  mein
ganzes Wesen getränkt damit.
     Nie hat mir Wassertrum auch nur das geringste angetan - ich  will damit
sagen,  daß  er  mich  jemals weder  geschlagen  oder  beworfen,  noch  auch
irgendwie  beschimpft hat,  wenn ich mich  als Gassenjunge unten herumtrieb:
ich weiß das genau, - und doch richtete sich alles, was an Rachsucht und Wut
in mir kochte, gegen ihn. Nur gegen ihn!
     Merkwürdig  ist,  daß ich  ihm trotzdem nie als Kind  einen Schabernack
gespielt  habe. Wenn's  die andern taten, zog  ich mich  sofort zurück. Aber
stundenlang konnte ich im Torweg stehen und,  hinter  der Haustür versteckt,
durch  die  Angelritzen  sein  Gesicht  unverwandt  anstieren,  bis mir  vor
unerklärlichem Haßgefühl schwarz vor den Augen wurde.
     Damals, glaube  ich, habe ich den Grundstein zu  dem Hellsehen  gelegt,
das  sofort in  mir aufwacht,  wenn  ich  mit Wesen,  ja sogar mit Dingen in
Berührung komme, die  in Verbindung mit ihm stehen. Ich muß wohl jede seiner
Bewegungen: seine  Art, den Rock zu tragen und  wie er Sachen anfaßt, hustet
und  trinkt,  und all das  Tausenderlei damals  unbewußt  auswendig  gelernt
haben, bis sich's mir  in die Seele  fraß, daß  ich überall die Spuren davon
auf den ersten Blick mit unfehlbarer Sicherheit als seine Erbstücke erkennen
kann.
     Später wurde das manchmal fast zur Manie: ich warf harmlose Gegenstände
von mir,  bloß  weil mich der  Gedanke quälte, seine Hand  könne sie berührt
haben, -  andere  wieder waren mir ans  Herz  gewachsen; ich liebte sie  wie
Freunde, die ihm Böses wünschten."
     Charousek  schwieg einen Moment. Ich sah, wie  er  geistesabwesend  ins
Leere blickte. Seine Finger streichelten mechanisch die Feile auf dem Tisch.
     "Als dann ein paar mitleidige Lehrer für  mich gesammelt hatten und ich
Philosophie und Medizin studierte - auch nebenbei selbst denken lernte -, da
kam mir langsam die Erkenntnis, was Haß ist:
     Wir können nur  etwas so tief hassen, wie ich es tue, was ein Teil  von
uns selbst ist.
     Und wie ich  später  dahinter kam,  - nach und  nach  alles erfuhr: was
meine Mutter war - und - und noch sein muß, wenn - wenn sie noch lebt, - und
daß  mein eigener  Leib" - er wendete sich ab,  damit ich sein Gesicht nicht
sehen sollte,  - "voll  ist von seinem eklen Blut - nun ja, Pernath, - warum
sollen Sie's nicht wissen:  er ist mein Vater! - da wurde  mir  klar, wo die
Wurzel lag.  -  -  - Zuweilen  kommt's mir  sogar  wie  ein  geheimnisvoller
Zusammenhang  vor,  daß ich  schwindsüchtig  bin und  Blut spucken muß: mein
Körper  wehrt sich gegen alles, was von ›ihm‹  ist, und stößt es mit Abscheu
von sich.
     Oft hat mich mein Haß bis in den Traum begleitet und zu trösten gesucht
mit Geschichten  von allen nur erdenklichen  Foltern, die ich ›ihm‹  zufügen
durfte,  aber  immer  verscheuchte  ich  sie  selber,  weil  sie  den  faden
Beigeschmack des - Unbefriedigtseins in mir hinterließen.
     Wenn ich über mich selbst nachdenke und mich wundern muß, daß es so gar
niemanden und nichts auf der Welt gibt, was ich zu hassen, - ja nicht einmal
als antipathisch zu empfinden imstande wäre, außer ›ihn‹ und seinen Stamm, -
beschleicht  mich  oft  das  widerliche Gefühl: ich könnte das sein, was man
einen ›guten Menschen‹ nennt.  Aber zum Glück ist es  nicht so. - Ich  sagte
Ihnen schon: es ist kein Platz mehr in mir.
     Und  glauben  Sie  nur ja  nicht,  daß  ein  trauriges  Schicksal  mich
verbittert hat: (Was er meiner Mutter angetan hat,  erfuhr ich überdies erst
in späteren  Jahren)  - ich habe  einen Freudentag  erlebt, der weit  in den
Schatten  stellt, was sonst einem Sterblichen vergönnt ist. Ich  weiß nicht,
ob Sie kennen, was  innere, echte, heiße Frömmigkeit ist, - ich hatte es bis
dahin auch nicht  gekannt - als  ich aber an jenem Tage, an dem Wassory sich
selbst ausgerottet hat, am Laden unten stand und sah, wie ›er‹ die Nachricht
bekam, -  sie ›stumpfsinnig‹, wie ein  Laie, der die echte  Bühne des Lebens
nicht  kennt,  hätte  glauben  müssen,  - hinnahm,  wohl  eine  Stunde  lang
teilnahmslos  stehen  blieb, seine  blutrote Hasenscharte nur ein ganz klein
bißchen höher über die Zähne gezogen als sonst und den Blick so gewiß - - so
-  so  -  so  eigenartig nach innen  gekehrt,  -  -  -  -  da fühlte ich den
Weihrauchduft von den Schwingen des Erzengels. - - Kennen Sie das Gnadenbild
der schwarzen  Muttergottes in der Teinkirche? Dort warf ich mich nieder und
die Finsternis des Paradieses hüllte meine Seele ein." -
     - -  - Wie ich  Charousek so  dastehen sah,  die  großen, träumerischen
Augen voll Tränen, da fielen mir Hillels Worte ein von der Unbegreiflichkeit
des dunklen Pfades, den die Brüder des Todes gehen.
     Charousek fuhr fort:
     "Die  äußeren  Umstande,  die meinen  Haß ›rechtfertigen‹  oder  in den
Gehirnen  der  amtlich  besoldeten  Richter  begreiflich  erscheinen  lassen
könnten,  werden Sie vielleicht  gar nicht interessieren:  - Tatsachen sehen
sich an wie  Meilensteine und sind doch nur leere Eierschalen. Sie  sind das
aufdringliche Knallen der Champagnerpfropfen an den  Tafeln der Protzen, das
nur der Schwachsinnige für das Wesentliche eines Gelages  hält. - Wassertrum
hat  meine  Mutter mit  all den  infernalischen  Mitteln, die seinesgleichen
Gewohnheit sind, gezwungen, ihm zu Willen zu sein, - wenn es nicht noch viel
schlimmer  war.  Und  dann  -  -  nun  ja  - und dann  hat er sie  an  - ein
Freudenhaus verkauft, - -  - so etwas ist nicht schwer, wenn man Polizeiräte
zu  Geschäftsfreunden hat,  - aber  nicht  etwa, weil er  ihrer  überdrüssig
gewesen  wäre, o nein!  Ich kenne die Schlupfwinkel seines  Herzens: an  dem
Tage hat  er  sie verkauft, wo er sich voll Schrecken bewußt wurde, wie heiß
er  sie  in  Wirklichkeit  liebte.  So einer  wie  er handelt  da  scheinbar
widersinnig, aber immer gleich. Das  Hamsterhafte in seinem  Wesen quietscht
auf, sowie jemand kommt und kauft ihm irgend etwas ab aus seiner Trödlerbude
gegen noch so teures Geld: er empfindet nur den Zwang des ›Hergebenmüssens‹.
Er möchte den  Begriff ›haben‹  am liebsten in sich hineinfressen und könnte
er  sich überhaupt ein Ideal ausdenken, so  wär's das, sich dereinst in  den
abstrakten Begriff ›Besitz‹ aufzulösen. - -
     Und da  ist es damals riesengroß in ihm gewachsen bis zu einem Berg von
Angst:  "seiner selbst nicht mehr sicher" zu sein, -  nicht: etwas an  Liebe
geben zu wollen,  sondern geben zu  müssen: die Gegenwart eines Unsichtbaren
in sich zu ahnen, das seinen Willen oder das, von dem er möchte, daß es sein
Wille sein sollte, heimlich in Fesseln schlug. - So war der Anfang. Was dann
folgte, geschah automatisch. Wie der Hecht mechanisch zubeißen  muß, - ob er
will  oder  nicht   -  wenn  ein  blitzender   Gegenstand  zu  rechter  Zeit
vorüberschwimmt.
     Das Verschachern meiner Mutter ergab sich für Wassertrum als natürliche
Folge. Es befriedigte  den  Rest der in ihm schlummernden Eigenschaften: die
Gier nach  Gold und die perverse  Wonne an der Selbstqual.  - - -  Verzeihen
Sie,  Meister  Pernath," -  Charouseks  Stimme  klang plötzlich so hart  und
nüchtern, daß  ich erschrak, - "verzeihen Sie, daß ich so furchtbar gescheit
daherrede, aber  wenn  man  an der Universität  ist,  kommt einem eine Menge
vertrottelter Bücher unter die  Hände;  unwillkürlich  verfällt man dann  in
eine teppenhafte Ausdrucksweise." -
     Ich zwang mich ihm zu Gefallen zu einem Lächeln; innerlich verstand ich
gar wohl, daß er mit dem Weinen kämpfte.
     Irgendwie muß ich ihm helfen, überlegte ich, wenigstens seine bitterste
Not  zu lindern  versuchen, soweit  das  in  meiner Macht  steht.  Ich  nahm
unauffällig  die Hundertguldennote,  die  ich noch zu Hause  hatte,  aus der
Kommodenschublade und steckte sie in die Tasche.
     "Wenn Sie später einmal in eine bessere Umgebung kommen und Ihren Beruf
als  Arzt ausüben, wird  Frieden bei Ihnen einziehen, Herr Charousek"; sagte
ich, um dem Gespräch eine versöhnliche Richtung zu geben, - "machen Sie bald
Ihr Doktorat?"
     "Demnächst.  Ich bin  es meinen Wohltätern  schuldig.  Zweck  hat's  ja
keinen, denn meine Tage sind gezählt."
     Ich  wollte den  üblichen Einwand  machen, daß  er doch wohl zu schwarz
sehe, aber erwehrte lächelnd ab:
     "Es  ist  das  beste  so.  Es  muß  überdies  kein Vergnügen sein,  den
Heilkomödianten  zu mimen  und  sich  zu  guterletzt  noch als  diplomierter
Brunnenvergifter  einen Adelstitel zuzuziehen. - - Andererseits",  setzte er
mit seinem galligen Humor hinzu, "wird mir leider jedes weitere segensreiche
Wirken hier im Diesseits-Getto ein für allemal abgeschnitten sein." Er griff
nach seinem Hut. "Jetzt  will ich aber nicht  langer stören. Oder  wäre noch
etwas zu besprechen  in  der Angelegenheit Savioli? Ich denke nicht.  Lassen
Sie mich  jedenfalls wissen, wenn  Sie etwas  Neues erfahren. Am besten, Sie
hängen  einen  Spiegel hier ans Fenster, als  Zeichen,  daß ich Sie besuchen
soll. Zu  mir  in den  Keller dürfen Sie auf  keinen Fall kommen: Wassertrum
wurde sofort Verdacht schöpfen, daß wir  zusammenhalten. - Ich  bin übrigens
sehr neugierig, was  er jetzt tun  wird, wo er gesehen hat, daß die Dame  zu
Ihnen gekommen ist. Sagen Sie ganz einfach, sie hätte Ihnen ein Schmuckstück
zu reparieren gebracht, und  wenn er zudringlich  wird, spielen Sie eben den
Rabiaten."
     Es  wollte  sich  keine passende  Gelegenheit  ergeben,  Charousek  die
Banknote  aufzudrängen;  ich   nahm  daher  das  Modellierwachs  wieder  vom
Fensterbrett und sagte: "Kommen Sie, ich  begleite Sie ein Stück die Treppen
hinunter. - Hillel erwartet mich", log ich.
     Er stutzte:
     "Sie sind mit ihm befreundet?"
     "Ein wenig.  Kennen Sie ihn? - - Oder mißtrauen Sie ihm", -  ich  mußte
unwillkürlich lächeln - "vielleicht auch?"
     "Da sei Gott vor!"
     "Warum sagen Sie das so ernst?"
     Charousek zögerte und dachte nach:
     "Ich weiß selbst nicht warum. Es  muß etwas Unbewußtes sein: so oft ich
ihm   auf  der  Straße  begegne,  möchte  ich  am  liebsten   vom   Pflaster
heruntertreten und das  Knie beugen wie vor einem Priester, der  die  Hostie
trägt.  -  Sehen Sie, Meister  Pernath, da  haben Sie einen Menschen, der in
jedem Atom das Gegenteil von Wassertrum  ist. Er gilt z. B. bei den Christen
hier im  Viertel, die,  wie immer, so auch in diesem Fall falsch  informiert
sind, als Geizhals und heimlicher Millionär und ist doch unsagbar arm."
     Ich fuhr entsetzt auf: "arm?"
     "Ja, womöglich  noch armer als ich. Das Wort ›nehmen‹ kennt er,  glaub'
ich, überhaupt nur aus Büchern; aber wenn  er  am Ersten  des Monats aus dem
›Rathaus‹ kommt, dann laufen die  jüdischen  Bettler vor ihm davon, weil sie
wissen,  er  würde dem  nächsten besten  von  ihnen seinen ganzen kärglichen
Gehalt in die Hand drücken und  ein paar  Tage später -  samt seiner Tochter
selber  verhungern. - Wenn's wahr  ist, was eine uralte talmudische  Legende
behauptet: daß von  den zwölf jüdischen Stämmen zehn verflucht sind und zwei
hellig,  so verkörpert er die zwei heiligen und Wassertrum  alle zehn andern
zusammen. - Haben  Sie noch nie  bemerkt,  wie  Wassertrum  sämtliche Farben
spielt, wenn Hillel an ihm vorüber  geht? Interessant, sag' ich Ihnen! Sehen
Sie,  solches Blut kann sich gar nicht  vermischen; da kamen die  Kinder tot
zur  Welt. Vorausgesetzt, daß die  Mütter nicht schon früher  vor  Entsetzen
stürben.  - Hillel  ist übrigens der  einzige, an den  sich Wassertrum nicht
herantraut; - er weicht ihm  aus wie dem Feuer. Vermutlich, weil Hillel  das
Unbegreifliche, das vollkommen Unenträtselbare, für ihn bedeutet. Vielleicht
wittert er in ihm auch den Kabballsten."
     Wir gingen bereits die Stiegen hinab.
     "Glauben  Sie, daß es heutzutage  noch Kabballsten gibt - daß überhaupt
an  der Kabbala  etwas  sein konnte?",  fragte  ich, gespannt, was  er  wohl
antworten würde, aber er schien nicht zugehört zu haben.
     Ich wiederholte meine Frage.
     Hastig lenkte er ab und deutete auf eine Tür des Treppenhauses, die aus
Kistendeckeln zusammengenagelt war:
     "Sie haben da  neue Mitbewohner bekommen,  eine zwar jüdische aber arme
Familie:  den  meschuggenen  Musikanten  Nephtali  Schaffranek mit  Tochter,
Schwiegersohn und Enkelkindern. Wenn's dunkel wird und er allein ist mit den
kleinen Mädchen, kommt der Rappel über ihn: dann bindet er sie an den Daumen
zusammen,  damit  sie  ihm nicht  davonlaufen,  zwängt sie  in  einen  alten
Hühnerkäfig  und  unterweist  sie im  ›Gesang‹,  wie er  es nennt, damit sie
später ihren Lebensunterhalt selbst erwerben können, -  das heißt,  er lehrt
sie  die verrücktesten Lieder, die es gibt, deutsche Texte, Bruchstücke, die
er  irgendwo  aufgeschnappt  hat und im Dämmer seines Seelenzustandes  für -
preußische Schlachthymnen oder dergleichen hält."
     Wirklich tönte da  eine sonderbare Musik leise auf den Gang heraus. Ein
Fiedelbogen  kratzte fürchterlich hoch und immerwährend in ein und demselben
Ton die Umrisse eines Gassenhauers, und zwei fadendünne Kinderstimmen sangen
dazu:
     "Frau Pick,
     Frau Hock,
     Frau Kle - pe - tarsch,
     se stehen beirenond
     und schmusen allerhond - -"
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     Es  war wie  Wahnwitz und Komik zugleich,  und ich  mußte wider  Willen
hellaut auflachen.
     "Schwiegersohn Schaffranek  -  seine  Frau verkauft  auf  dem Eiermarkt
Gurkensaft  gläschenweise an die Schuljugend - läuft den ganzen  Tag  in den
Büros  herum",  fuhr  Charousek  grimmig  fort,  "und  erbettelt  sich  alte
Briefmarken. Die sortiert er dann,  und wenn er  welche darunter findet, die
zufällig  nur  am Rande  gestempelt  sind, so legt  er  sie  aufeinander und
schneidet  sie  durch. Die  ungestempelten  Hälften  klebt  er  zusammen und
verkauft sie  als neu.  Anfangs blühte das  Geschäft und  warf manchmal fast
einen - Gulden  im  Tag  ab, aber schließlich  kamen  die  Prager  jüdischen
Großindustriellen  dahinter - und machen es jetzt selber.  Sie  schöpfen den
Rahm ab."
     "Würden  Sie  Not  lindern,  Charousek,  wenn  Sie  überflüssiges  Geld
hätten?" fragte ich rasch. - Wir standen vor Hillels Tür und ich klopfte an.
     "Halten  Sie mich für  so gemein,  daß Sie glauben können,  ich täte es
nicht?", fragte er verblüfft zurück.
     Mirjams Schritte  kamen näher,  und ich  wartete,  bis  sie die  Klinke
niederdrückte, dann schob ich ihm rasch die Banknote in die Tasche:
     "Nein, Herr Charousek, ich halte Sie nicht dafür, aber  mich müßten Sie
für gemein halten, wenn ich's unterließe."
     Ehe er etwas  erwidern konnte, hatte  ich  ihm die Hand geschüttelt und
die Tür  hinter  mir zugezogen. Während mich  Mirjam begrüßte, lauschte ich,
was er tun würde.
     Er  blieb  eine  Weile stehen,  dann  schluchzte er leise auf und  ging
langsam mit  suchendem Schritt die Treppe hinunter. Wie jemand, der  sich am
Geländer halten muß. - - -
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     Es war das erste Mal, daß ich Hillels Zimmer besuchte.
     Es sah schmucklos aus  wie ein Gefängnis. Der Boden peinlich sauber und
mit weißem Sand bestreut. Nichts an Möbeln als zwei Stühle und ein Tisch und
eine Kommode. Ein Holzpostament je links und rechts an den Wänden. - - -
     Mirjam saß  mir  gegenüber am  Fenster, und  ich  bossierte  an  meinem
Modellierwachs.
     "Muß  man denn  ein  Gesicht vor  sich  haben,  um  die  Ähnlichkeit zu
treffen?", fragte sie schüchtern und nur, um die Stille zu unterbrechen.
     Wir  wichen einander scheu  mit den Blicken aus. Sie wußte nicht, wohin
die Augen  richten in ihrer Qual und  Scham über die jammervolle Stube,  und
mir brannten die Wangen von innerem Vorwurf, daß ich mich nicht längst darum
gekümmert hatte, wie sie und ihr Vater lebten.
     Aber irgend etwas mußte ich doch antworten!
     "Nicht so sehr,  um  die Ähnlichkeit zu treffen, als um zu vergleichen,
ob man innerlich  auch richtig gesehen hat",  - ich fühlte, noch während ich
sprach, wie grundfalsch das alles war, was ich sagte.
     Jahrelang  hatte ich  den irrigen  Grundsatz  der Maler, man  müsse die
äußere  Natur  studieren, um  künstlerisch schaffen zu  können, stumpfsinnig
nachgebetet und befolgt; erst, seit Hillel mich in jener Nacht erweckt,  war
mir  das   innere   Schauen  aufgegangen:  das   wahre  Sehenkönnen   hinter
geschlossenen Lidern, das sofort erlischt, wenn man die Augen  aufschlägt, -
die  Gabe, die sie alle zu haben glauben und die doch unter Millionen keiner
wirklich besitzt.
     Wie konnte  ich  auch nur  von der Möglichkeit sprechen, die unfehlbare
Richtschnur  der geistigen  Vision an  den groben  Mitteln des  Augenscheins
nachmessen zu wollen!
     Mirjam schien Ähnliches zu denken, nach dem Erstaunen in  ihren  Mienen
zu schließen.
     "Sie dürfen es nicht so wörtlich nehmen", entschuldigte ich mich.
     Voll Aufmerksamkeit  sah sie  zu,  wie  ich mit  dem  Griffel  die Form
vertiefte.
     "Es  muß unendlich  schwer sein,  alles  dann haargenau  auf  Stein  zu
übertragen?"
     "Das ist nur mechanische Arbeit. So ziemlich wenigstens."

     Pause.

     "Darf ich die Gemme sehen, wenn sie fertig ist?" fragte sie.
     "Sie ist doch für Sie bestimmt, Mirjam."
     "Nein, nein; das geht nicht, - - das - das  -  -", -  ich sah, wie ihre
Hände nervös wurden.
     "Nicht  einmal  diese  Kleinigkeit  wollen  Sie  von   mir  annehmen?",
unterbrach ich sie schnell, "ich wollte, ich dürfte mehr für Sie tun."
     Hastig wandte sie das Gesicht ab.
     Was hatte ich da gesagt! Ich  mußte sie aufs tiefste verletzt haben. Es
hatte geklungen, als wollte ich auf ihre Armut anspielen.
     Konnte ich es noch beschönigen? Wurde es dann nicht weit schlimmer?
     Ich nahm einen Anlauf:
     "Hören Sie mich ruhig  an, Mirjam! Ich  bitte  Sie darum. - Ich schulde
Ihrem Vater so unendlich viel, - Sie können das gar nicht ermessen - -"
     Sie sah mich unsicher an; verstand offenbar nicht.
     "-ja ja: unendlich viel. Mehr als mein Leben."
     "Weil er Ihnen damals beistand, als Sie ohnmächtig waren? Das  war doch
selbstverständlich."
     Ich fühlte:  sie  wußte  nicht,  welches  Band  mich  mit  ihrem  Vater
verknüpfte. Vorsichtig  sondierte  ich,  wie weit ich  gehen durfte, ohne zu
verraten, was er ihr verschwieg.
     "Weit höher als äußere Hilfe, dachte ich, ist die  innere zu stellen. -
Ich meine die, die aus  dem  geistigen Einfluß eines Menschen auf den andern
überstrahlt. - Verstehen Sie, was ich damit sagen will,  Mirjam?  - Man kann
jemand auch seelisch heilen, nicht nur körperlich, Mirjam."
     "Und das hat - -?"
     "Ja, das hat Ihr Vater an mir getan!"  - ich faßte sie  an der  Hand, -
"begreifen Sie nicht, daß es mir da  ein Herzenswunsch sein muß, wenn  schon
nicht ihm, so doch jemand, der ihm so nahesteht,  wie Sie, irgendeine Freude
zu bereiten? - Haben Sie nur ein ganz klein wenig Vertrauen zu mir! - Gibt's
denn gar keinen Wunsch, den ich Ihnen erfüllen könnte?"
     Sie  schüttelte  den  Kopf:  "Sie glauben, ich  fühle  mich unglücklich
hier?"
     "Gewiß nicht. Aber vielleicht haben Sie  zuweilen Sorgen, die ich Ihnen
abnehmen  konnte? Sie  sind  verpflichtet - hören Sie!  - verpflichtet, mich
daran teilnehmen zu lassen! Warum leben Sie denn beide hier in  der finstern
traurigen Gasse, wenn Sie nicht müßten? Sie sind noch so jung, Mirjam, und -
-"
     "Sie  leben  doch  selbst  hier,  Herr  Pernath", unterbrach  sie  mich
lächelnd, "was fesselt Sie an das Haus?"
     Ich stutzte. - Ja.  Ja,  das  war richtig.  Warum lebte ich  eigentlich
hier? Ich konnte  es  mir  nicht  erklären, was fesselt  dich an  das  Haus?
wiederholte ich mir geistesabwesend. Ich konnte keine  Erklärung finden  und
vergaß  einen  Augenblick  ganz,  wo  ich  war.  -  Dann stand ich plötzlich
entrückt irgendwo hoch oben - in einem  Garten - roch  den zauberhaften Duft
von blühenden Holunderdolden, - sah herab auf die Stadt - - -
     "Habe  ich eine Wunde berührt? Hab' ich Ihnen  weh getan?", kam Mirjams
Stimme von weit, weit her zu mir.
     Sie hatte sich  über mich gebeugt und sah mir  ängstlich forschend  ins
Gesicht.
     Ich mußte wohl lange starr dagesessen haben, daß sie so besorgt war.
     Eine Weile schwankte es hin und her in mir, dann brach sich's plötzlich
gewaltsam Bahn, überflutete mich,  und ich schüttete Mirjam mein ganzes Herz
aus.
     Ich erzählte ihr, wie  einem lieben, alten Freund,  mit  dem  man  sein
ganzes Leben beisammen war und vor dem man kein Geheimnis hat, wie's um mich
stand  und auf welche Weise ich aus einer  Erzählung Zwakhs  erfahren hatte,
daß ich  in früheren Jahren wahnsinnig gewesen und  der  Erinnerung an meine
Vergangenheit  beraubt worden  war, - wie in letzter Zeit Bilder in mir wach
geworden,  die  in jenen Tagen  wurzeln mußten, immer häufiger und häufiger,
und daß  ich  vor dem Moment zitterte, wo mir alles offenbar werden und mich
von neuem zerreißen würde.
     Nur, was ich mit ihrem Vater  in  Zusammenhang bringen  mußte: -  meine
Erlebnisse in den unterirdischen Gängen und all das  übrige, verschwieg  ich
ihr.
     Sie  war  dicht zu  mir  gerückt  und hörte mit  einer tiefen atemlosen
Teilnahme zu, die mir unsäglich wohl tat.
     Endlich hatte ich einen Menschen gefunden, mit dem ich mich aussprechen
konnte, wenn mir meine geistige Einsamkeit zu  schwer wurde.  - Gewiß  wohl:
Hillel war  ja noch da, aber für mich nur wie ein Wesen jenseits der Wolken,
das kam und verschwand wie ein Licht, an das ich nicht herankonnte, wenn ich
mich sehnte.
     Ich sagte  es ihr und sie verstand  mich. Auch sie sah ihn so, trotzdem
er ihr Vater war.
     Er hing mit unendlicher Liebe an ihr und sie an ihm - "und doch bin ich
wie  durch eine Glaswand von  ihm getrennt," vertraute sie mir an, "die  ich
nicht durchbrechen kann. Solange ich  denke, war es  so. - Wenn ich ihn  als
Kind  im  Traum an meinem  Bette  stehen sah, immer  trug er  das Gewand des
Hohenpriesters: die goldene Tafel des Moses mit den 12 Steinen darin auf der
Brust, und blaue  leuchtende Strahlen gingen von seinen Schläfen  aus. - Ich
glaube, seine Liebe ist von der Art, die übers Grab hinausgeht, und zu groß,
als daß wir sie fassen könnten. - Das hat auch  meine Mutter  immer  gesagt,
wenn  wir  heimlich  über ihn  sprachen."  -  - Sie schauderte plötzlich und
zitterte am ganzen Leib. Ich wollte aufspringen, aber sie hielt mich zurück:
"Seien  Sie ruhig,  es ist  nichts. Bloß  eine Erinnerung. Als  meine Mutter
starb -  nur  ich  weiß, wie er  sie geliebt hat,  ich war  damals  noch ein
kleines Mädchen, - glaubte ich vor Schmerz ersticken zu müssen, und ich lief
zu ihm hin und krallte mich in seinen Rock und wollte aufschreien und konnte
doch nicht, weil alles gelähmt war in mir - und - und da - - - - mir lauft's
wieder eiskalt über den Rücken, wenn ich daran denke - sah er mich  lächelnd
an, küßte mich auf die Stirn und fuhr mir mit der Hand über die Augen. - - -
-  Und von dem  Moment  an bis  heute  war jedes  Leid, daß ich meine Mutter
verloren  hatte,  wie  ausgetilgt  in  mir.  Nicht  eine  Träne  konnte  ich
vergießen,  als sie begraben  wurde;  ich sah die Sonne als strahlende  Hand
Gottes  am Himmel stehen und wunderte mich, warum die Menschen weinten. Mein
Vater  ging hinter  dem Sarge  her,  neben mir,  und  wenn  ich  aufblickte,
lächelte er jedesmal leise und ich fühlte, wie das Entsetzen durch die Menge
fuhr, als sie es sahen."
     "Und  sind Sie  glücklich, Mirjam? Ganz glücklich? Liegt nicht zugleich
etwas Furchtbares für Sie in dem Gedanken, ein Wesen zum Vater zu haben, das
hinausgewachsen ist über alles Menschentum?", fragte ich leise.
     Mirjam schüttelte freudig den Kopf:
     "Ich  lebe wie in  einem seligen Schlaf dahin.  - Als Sie  mich  vorhin
fragten, Herr Pernath, ob ich nicht Sorgen hätte und warum wir hier wohnten,
mußte ich fast lachen. Ist denn die Natur schön? Nun ja, die Bäume sind grün
und  der  Himmel  ist  blau,  aber  das  alles  kann  ich  mir  viel schöner
vorstellen, wenn ich die Augen schließe. Muß ich  denn, um sie zu sehen, auf
einer Wiese sitzen? - Und das bißchen  Not und - und - und Hunger?  Das wird
tausendfach aufgewogen durch die Hoffnung und das Warten."
     "Das Warten?", fragte ich erstaunt.
     "Das Warten  auf ein Wunder. Kennen Sie  das  nicht? Nein? Da  sind Sie
aber ein ganz,  ganz armer Mensch.  - Daß das so  wenige kennen?! Sehen Sie,
das  ist auch der Grund,  weshalb ich nie ausgehe und  mit niemand verkehre.
Ich hatte wohl früher ein paar Freundinnen - Jüdinnen natürlich, wie ich  -,
aber wir redeten immer aneinander vorbei;  sie verstanden mich nicht und ich
sie  nicht. Wenn ich von  Wundern  sprach, glaubten  sie  anfangs, ich mache
Spaß,  und  als sie merkten,  wie ernst  es mir war und  daß  ich auch unter
Wundern  nicht  das  verstand,  was  die  Deutschen  mit  ihren  Brillen  so
bezeichnen: das  gesetzmäßige Wachsen des  Grases  und dergleichen,  sondern
eher das Gegenteil, -  hätten sie mich  am liebsten  für  verrückt gehalten,
aber dagegen stand ihnen wieder im Wege, daß  ich  ziemlich gelenkig bin  im
Denken,  hebräisch  und  aramäisch gelernt habe, die Targumim und Midraschim
lesen kann, und  was dergleichen  Nebensächlichkeiten mehr sind. Schließlich
fanden sie ein Wort,  das überhaupt nichts mehr  ausdrückt: sie nannten mich
›überspannt‹.
     Wenn  ich ihnen  dann  klarmachen  wollte,  daß  das Bedeutsame  -  das
Wesentliche  - für mich  in  der  Bibel und anderen  heiligen Schriften  das
Wunder und bloß das Wunder sei und nicht Vorschriften  über Moral und Ethik,
die nur versteckte Wege sein können, um  zum Wunder zu gelangen, - so wußten
sie  nur  mit  Gemeinplätzen  zu  erwidern,  denn sie  scheuten sich,  offen
einzugestehen, daß  sie  aus  den Religionsschriften  nur das glaubten,  was
ebensogut  im bürgerlichen  Gesetzbuch  stehen  könnte. Wenn  sie  das  Wort
›Wunder‹ nur  hörten,  wurde ihnen schon unbehaglich. Sie verlören den Boden
unter den Füßen, sagten sie.
     Als ob  es etwas Herrlicheres  geben  könnte,  als den Boden  unter den
Füßen zu verlieren!
     Die Welt ist  dazu da,  um von uns kaputt gedacht zu werden, hörte  ich
einmal meinen Vater  sagen, - dann, dann erst fängt das Leben an. - Ich weiß
nicht, was er mit dem ›Leben‹ meinte, aber ich fühle zuweilen, daß ich eines
Tages so wie: ›erwachen‹ werde.  Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, in
welchen Zustand hinein. Und Wunder müssen  dem vorhergehen,  denke  ich  mir
immer.
     ›Hast  du denn schon welche erlebt, daß du fortwährend darauf wartest?‹
fragten  mich oft  meine  Freundinnen,  und wenn ich  verneinte, wurden  sie
plötzlich froh  und siegesgewiß. Sagen Sie, Herr Pernath,  können Sie solche
Herzen  verstehen? Daß ich doch Wunder erlebt habe, wenn auch nur kleine,  -
winzig  kleine  -",  -  Mirjams  Augen glänzten,  - "wollte  ich ihnen nicht
verraten, - - -"
     Ich hörte, wie Freudentränen ihre Stimme fast erstickten.
     "- aber Sie werden mich verstehen: oft,  Wochen,  ja Monate", -  Mirjam
wurde  ganz leise - "haben wir nur von  Wundern gelebt. Wenn  gar  kein Brot
mehr im Hause war, aber  auch nicht ein Bissen  mehr, dann wußte  ich: jetzt
ist  die Stunde da! - Und dann saß ich hier und wartete und wartete, bis ich
vor  Herzklopfen kaum  mehr  atmen  konnte.  Und -  und  dann,  wenn's  mich
plötzlich  zog, lief ich hinunter und kreuz und quer  durch die Straßen,  so
rasch ich konnte, um  rechtzeitig  wieder im Hause  zu sein, ehe mein  Vater
heimkam. Und - und jedesmal fand ich Geld. Einmal mehr, einmal weniger, aber
immer soviel, daß  ich  das Nötigste  einkaufen konnte. Oft  lag ein  Gulden
mitten auf der Straße; ich sah ihn  von weitem blitzen  und die Leute traten
darauf,  rutschten aus darüber, aber keiner  bemerkte ihn. - Das machte mich
zuweilen so  übermütig, daß ich  gar nicht  erst ausging, sondern nebenan in
der Küche  den Boden durchsuchte wie  ein  Kind, ob nicht Geld oder Brot vom
Himmel gefallen sei."
     - Ein  Gedanke  schoß  mir durch  den Kopf,  und ich mußte  aus  Freude
darüber lächeln. -
     Sie sah es.
     "Lachen  Sie nicht,  Herr Pernath", flehte sie.  "Glauben  Sie mir, ich
weiß, daß diese Wunder wachsen werden und daß sie eines Tages -"
     Ich beruhigte sie: "Aber  ich lache doch nicht,  Mirjam! Was denken Sie
denn! Ich bin unendlich  glücklich, daß Sie nicht  sind wie  die andern, die
hinter jeder Wirkung die gewohnte Ursache  suchen und  bocken, wenn's -  wir
rufen in solchen Fallen: Gott sei Dank! - einmal anders kommt."
     Sie streckte mir die Hand hin:
     "Und nicht wahr, Sie werden nie mehr sagen, Herr Pernath, daß Sie mir -
oder uns - helfen wollen? Jetzt, wo Sie wissen, daß Sie mir die Möglichkeit,
ein Wunder zu erleben, rauben würden, wenn Sie es täten?"
     Ich versprach es. Aber im Herzen machte ich einen Vorbehalt.
     Da ging die Tür und Hillel trat ein.
     Mirjam  umarmte  ihn;  und  er  begrüßte   mich.   Herzlich   und  voll
Freundschaft, aber wieder mit dem kühlen "Sie".
     Auch schien  etwas  wie leise  Müdigkeit oder  Unsicherheit auf ihm  zu
lasten. - Oder irrte ich mich?
     Vielleicht kam es nur von der Dämmerung, die in der Stube lag.
     "Sie  sind gewiß hier, mich um Rat zu fragen", fing  er an, als  Mirjam
uns allein gelassen hatte, "in der Sache, die die fremde Dame betrifft - -?"
     Ich wollte ihn verwundert unterbrechen, aber er fiel mir in die Rede:
     "Ich weiß es von dem Studenten Charousek. Ich sprach ihn auf der  Gasse
an, weil  er mir merkwürdig verändert vorkam. Er hat  mir alles  erzählt. In
der Überfülle seines  Herzens. Auch, daß - Sie ihm Geld geschenkt haben." Er
sah mich durchdringend an und betonte jedes seiner Worte auf höchst seltsame
Weise, aber ich verstand nicht, was er damit wollte:
     "Gewiß, es hat dadurch ein paar Tropfen Glück mehr vom  Himmel geregnet
- und - und in diesem - Fall hat's vielleicht auch nicht geschadet, aber -,"
er dachte eine Weile nach, - "aber manchmal schafft man sich und anderen nur
Leid damit. Gar so leicht ist das Helfen nicht, wie Sie denken, mein  lieber
Freund! Da wäre es  sehr, sehr einfach, die Welt zu erlösen. -  Oder glauben
Sie nicht?"
     "Geben Sie  denn  nicht auch den Armen?  Oft alles,  was  Sie besitzen,
Hillel?", fragte ich.
     Er schüttelte lächelnd den Kopf: "Mir  scheint, Sie sind über Nacht ein
Talmudist geworden, daß Sie eine  Frage wieder mit einer Frage  beantworten.
Da ist freilich schwer streiten."
     Er  hielt  inne,  als ob  ich darauf  antworten  sollte,  aber wiederum
verstand ich nicht, worauf er eigentlich wartete.
     "Übrigens, um zu dem Thema zurückzukommen", fuhr er in verändertem Tone
fort,  "ich glaube  nicht,  daß Ihrem Schützling  - ich  meine  die  Dame  -
augenblicklich  Gefahr droht. Lassen Sie die  Dinge an  sich herantreten. Es
heißt zwar: ›der kluge Mann baut vor‹, aber der Klügere, scheint mir, wartet
ab und ist auf  alles  gefaßt.  Vielleicht  ergibt sich die Gelegenheit, daß
Aaron Wassertrum mit mir zusammentrifft, aber das muß dann von ihm ausgehen,
- ich tue keinen Schritt, er muß herüberkommen. Ob zu Ihnen oder zu mir, ist
gleichgültig - und dann will ich mit ihm reden. An ihm  wird's sein, sich zu
entscheiden,  ob  er meinen Rat befolgen will oder nicht.  Ich wasche  meine
Hände in Unschuld."
     Ich versuchte  ängstlich  in  seinem  Gesicht  zu lesen.  So  kalt  und
eigentümlich  drohend  hatte er  noch  nie  gesprochen.  Aber  hinter diesem
schwarzen, tiefliegenden Auge schlief ein Abgrund.
     "Es  ist wie  eine Glaswand  zwischen ihm und  uns", fielen mir Mirjams
Worte ein.
     Ich konnte ihm nur wortlos die Hand drücken und - gehen.
     Er begleitete mich bis vor die Türe und, als ich  die Treppe hinaufging
und mich noch einmal umdrehte, sah ich, daß er  stehen geblieben war und mir
freundlich nachwinkte, aber wie jemand, der noch gern etwas sagen möchte und
nicht kann.

     Ich hatte die Absicht, mir Mantel und Stock  zu holen und in die kleine
Wirtsstube  "Zum  alten  Ungelt"  essen  zu  gehen, wo  allabendlich  Zwakh,
Vrieslander  und Prokop  bis spät in die Nacht beisammen  saßen und einander
verrückte Geschichten erzählten; aber  kaum betrat ich  mein Zimmer, da fiel
der Vorsatz von mir ab,  - wie wenn mir Hände ein Tuch oder sonst etwas, was
ich am Leibe getragen, abgerissen hätten.
     Es lag eine  Spannung in der Luft, über die ich  mir keine Rechenschaft
geben konnte, die aber trotzdem vorhanden  war wie etwas Greifbares und sich
im Verlauf  weniger Sekunden derart heftig  auf  mich übertrug,  daß ich vor
Unruhe anfangs kaum wußte, was ich zuerst tun sollte: Licht anzünden, hinter
mir abschließen, mich niedersetzen oder auf und ab gehen.
     Hatte  sich  jemand in meiner Abwesenheit eingeschlichen und versteckt?
War's die Angst eines  Menschen  vor  dem Gesehenwerden, die mich ansteckte?
War Wassertrum vielleicht hier?
     Ich griff hinter die Gardinen, öffnete den Schrank, tat einen Blick ins
Nebenzimmer: - niemand.
     Auch die Kassette stand unverrückt an ihrem Platz.
     Ob es nicht am besten war, ich verbrannte die Briefe kurz entschlossen,
um ein für allemal die Sorge um sie los zu sein?
     Schon suchte ich nach dem Schlüssel in meiner Westentasche - aber mußte
es denn jetzt geschehen? Es blieb mir doch Zeit genug bis morgen früh.
     Erst Licht machen!
     Ich konnte die Streichhölzer nicht finden.
     War  die  Tür abgesperrt? - Ich  ging ein  paar Schritte  zurück. Blieb
wieder stehen.
     Warum mit einemmal die Angst?
     Ich  wollte  mir Vorwürfe  machen,  daß  ich  feig  sei: - die Gedanken
blieben stecken. Mitten im Satz.
     Eine wahnwitzige  Idee  überfiel mich  plötzlich: rasch, rasch  auf den
Tisch  steigen,  einen  Sessel packen und zu mir  hinaufziehen und "dem" den
Schädel damit von oben herab einschlagen, das da auf dem Boden herumkroch, -
- wenn - wenn es in die Nähe kam.
     "Es ist doch niemand hier," sagte ich mir laut und ärgerlich vor, "hast
du dich denn je im Leben gefürchtet?"
     Es half nichts. Die Luft, die ich einatmete, wurde dünn und  schneidend
wie Äther.
     Wenn  ich  irgendetwas  gesehen  hätte:  das Gräßlichste, was man  sich
vorstellen kann, - im Nu wäre die Furcht von mir gewichen.
     Es kam nichts.
     Ich bohrte meine Augen in alle Winkel:
     Nichts.
     Überall lauter wohlbekannte Dinge: Möbel, Truhen,  die Lampe, das Bild,
die Wanduhr - leblose, alte, treue Freunde.
     Ich hoffte, sie würden sich vor meinen  Blicken verändern und mir Grund
geben, eine Sinnestäuschung als Ursache für das würgende Angstgefühl  in mir
zu finden.
     Auch das nicht. - Sie blieben  ihrer  Form  starr getreu. Viel zu starr
für das herrschende Halbdunkel, als daß es natürlich gewesen wäre.
     "Sie  stehen unter  demselben Zwang  wie  du  selbst", fühlte ich. "Sie
trauen sich nicht, auch nur die leiseste Bewegung zu machen."
     Warum tickt die Wanduhr nicht? -
     Das Lauern ringsum trank jeden Laut.
     Ich rüttelte  am Tisch und  wunderte mich,  daß ich  das Geräusch hören
konnte.
     Wenn doch wenigstens der Wind ums Haus pfiffe! - Nicht einmal das! Oder
das Holz im Ofen aufknallen wollte: - das Feuer war erloschen.
     Und immerwährend dasselbe entsetzliche  Lauern in der Luft - pausenlos,
lückenlos, wie das Rinnen von Wasser.
     Dieses  vergebliche  Auf-dem-Sprung-stehen  aller  meiner  Sinne!   Ich
verzweifelte  daran, es  je überdauern zu können. - Der Raum voll Augen, die
ich nicht sehen, - voll von planlos wandernden Händen, die ich nicht greifen
konnte.
     "Es ist das Entsetzen, das  sich aus sich  selbst gebiert, die lähmende
Schrecknis des unfaßbaren Nicht-Etwas, das keine Form  hat und unserm Denken
die Grenzen zerfrißt", begriff ich dumpf.
     Ich stellte mich steif hin und wartete.
     Wartete wohl eine  Viertelstunde: vielleicht  ließ  "es" sich verleiten
und schlich von rückwärts an mich heran - und ich konnte es ertappen?!
     Mit einem Ruck fuhr ich herum: wieder nichts.
     Dasselbe  markverzehrende  "Nichts", das nicht war und  doch das Zimmer
mit seinem grausigen Leben erfüllte.
     Wenn ich hinausliefe? Was hinderte mich?
     "Es  würde  mit  mir  gehen",   wußte  ich  sofort   mit  unabweisbarer
Sicherheit.  Auch, daß es mir nichts nützen könnte, wenn ich  Licht  machte,
sah ich ein, - dennoch  suchte ich so  lange nach dem Feuerzeug, bis ich  es
gefunden hatte.
     Aber der  Kerzendocht wollte nicht brennen und kam lang aus dem Glimmen
nicht  heraus: die kleine Flamme konnte nicht leben  und  nicht sterben, und
als sie sich endlich doch ein  schwindsüchtiges Dasein erkämpft hatte, blieb
sie glanzlos wie gelbes, schmutziges Blech. Nein, da war die Dunkelheit noch
besser.
     Ich löschte wieder  aus und warf mich angezogen übers  Bett. Zählte die
Schläge meines Herzens: eins, zwei, drei - vier ... bis  tausend, und  immer
von neuem - Stunden,  Tage, Wochen, wie mir schien, bis meine Lippen trocken
wurden und das Haar sich mir sträubte: keine Sekunde der Erleichterung.
     Auch nicht eine einzige.
     Ich  fing an, mir Worte vorzusagen,  wie sie mir  gerade  auf die Zunge
kamen: "Prinz", "Baum", "Kind", "Buch" -  und sie krampfhaft zu wiederholen,
bis sie plötzlich als  sinnlose, schreckhafte Laute aus barbarischer Vorzeit
nackt  mir gegenüberstanden, und ich  mit aller Kraft nachdenken  mußte,  in
ihre Bedeutung zurückzufinden: P-r-i-n-z? - B-u-ch?
     War  ich nicht schon wahnsinnig?  Oder  gestorben? - Ich tastete an mir
herum.
     Aufstehen!
     Mich in den Sessel setzen!
     Ich ließ mich in den Lehnstuhl fallen.
     Wenn doch endlich der Tod käme!
     Nur dieses blutlose, furchtbare Lauern nicht mehr fühlen! "Ich - will -
nicht - ich will - nicht!", schrie ich. "Hört ihr denn nicht?!"
     Kraftlos fiel ich zurück.
     Konnte es nicht fassen, daß ich immer noch lebte.
     Unfähig, irgend etwas zu denken oder zu  tun, stierte ich geradeaus vor
mich hin.
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     "Weshalb er mir nur  die Körner  so  beharrlich hinreicht?", ebbte  ein
Gedanke auf mich zu, zog sich zurück und  kam wieder.  Zog sich zurück.  Kam
wieder.
     Langsam wurde mir endlich klar, daß ein seltsames Wesen vor mir stand -
vielleicht  schon, seit ich hier  saß, dagestanden hatte - und  mir die Hand
hinstreckte:
     Ein  graues,  breitschultriges  Geschöpf, in der Größe  eines gedrungen
gewachsenen  Menschen,  auf  einen  spiralförmig  gedrehten Knotenstock  aus
weißem Holz gestützt.
     Wo  der Kopf hätte  sitzen müssen, konnte ich nur einen Nebelballen aus
fahlem Dunst unterscheiden.
     Ein  trüber  Geruch nach  Sandelholz  und  nassem Schiefer ging von der
Erscheinung aus.
     Ein Gefühl vollkommenster Wehrlosigkeit  raubte mir fast die Besinnung.
Was  ich  die ganze lange Zeit an nervenzernagender Qual mitgemacht, drängte
sich  jetzt  zu  Todesschrecken zusammen und war  in diesem  Wesen zur  Form
geronnen.
     Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, ich  würde wahnsinnig  werden vor
Entsetzen und  Furcht,  wenn ich  das Gesicht  des Phantoms sehen könnte,  -
warnte mich davor, schrie es mir in die Ohren - und doch zog es mich wie ein
Magnet, daß ich den Blick von dem fahlen Nebelballen nicht wenden konnte und
darin forschte nach Augen, Nase und Mund.
     Aber  so sehr ich mich auch abmühte: der Dunst blieb unbeweglich.  Wohl
glückte es mir, Köpfe aller Art auf den Rumpf zu setzen, doch jedesmal wußte
ich, daß sie nur meiner Einbildungskraft entstammten.
     Sie zerrannen  auch stets - fast in derselben Sekunde, in der  ich  sie
geschaffen hatte.
     Nur  die  Form eines  ägyptischen  Ibiskopfs  blieb  noch  am  längsten
bestehen.
     Die Umrisse  des Phantoms  schleierten  schemenhaft in  der Dunkelheit,
zogen sich kaum  merklich  zusammen und dehnten sich  wieder aus,  wie unter
langsamen  Atemzügen,  die  die  ganze  Gestalt   durchliefen,  die  einzige
Bewegung, die zu bemerken  war. Statt der  Füße berührten Knochenstumpen den
Boden, von  denen  das  Fleisch -  grau  und blutleer - auf Spannenbreite zu
wulstigen Rändern emporgezogen war.
     Regungslos hielt das Geschöpf mir seine Hand hin.
     Kleine Körner lagen dann. Bohnengroß, von roter Farbe und mit schwarzen
Punkten am Rande.
     Was sollte ich damit?!
     Ich fühlte  dumpf:  eine  ungeheure  Verantwortung lag auf  mir  - eine
Verantwortung,  die weit hinausging über  alles Irdische, -  wenn  ich jetzt
nicht das Richtige tat.
     Zwei  Waagschalen,   jede  belastet   mit  dem   Gewicht   des   halben
Weltgebäudes,  schweben  irgendwo im  Reich  der Ursachen, ahnte  ich -  auf
welche von beiden ich ein Stäubchen warf: die sank zu Boden.
     Das war das furchtbare Lauern ringsum!,  verstand  ich. "Keinen  Finger
rühren!", riet mir mein Verstand, - "und wenn der Tod in alle Ewigkeit nicht
kommen sollte und mich erlösen aus dieser Qual." -
     Auch  dann hättest  du  deine  Wahl getroffen:  du hättest  die  Körner
abgelehnt, raunte es in mir. Hier gibt's kein Zurück.
     Hilfesuchend blickte ich  um  mich, ob mir denn kein Zeichen wurde, was
ich tun sollte. Nichts.
     Auch in mir kein Rat, kein Einfall - alles tot, gestorben.
     Das Leben von Myriaden Menschen wiegt leicht wie  eine  Feder in diesem
furchtbaren Augenblick, erkannte ich. - -
     Es  mußte  bereits tiefe  Nacht sein, denn ich konnte die  Wände meines
Zimmers nicht mehr unterscheiden.
     Nebenan im Atelier stampften  Schritte; ich hörte, daß jemand  Schränke
rückte,  Schubladen aufriß und polternd  zu Boden  warf, glaubte Wassertrums
Stimme zu erkennen, wie er in seinem  röchelnden Baß wilde  Fluche ausstieß;
ich horchte nicht hin. Es war mir belanglos wie das Rascheln einer  Maus.  -
Ich schloß die Augen:
     Menschliche Antlitze  zogen in  langen Reihen an mir vorüber. Die Lider
zugedrückt  - starre Totenmasken: -  mein eigenes  Geschlecht, meine eigenen
Vorfahren.
     Immer dieselbe Schädelbildung, wie auch der  Typus zu  wechseln schien,
so  stand es auf  aus  seinen Grüften,  -  mit glattem  gescheiteltem  Haar,
gelocktem  und  kurz   geschnittenem,  mit  Allongeperücken  und   in  Ringe
gezwängten Schöpfen - durch  Jahrhunderte heran, bis  die Züge mir bekannter
und bekannter  wurden  und in  ein letztes Gesicht  zusammenflossen:  -  das
Gesicht des Golem, mit dem die Kette meiner Ahnen abbrach.
     Dann löste die Finsternis mein Zimmer in einen unendlichen leeren  Raum
auf, in dessen Mitte ich mich auf meinem Lehnstuhl sitzen wußte, vor mir der
graue Schatten wieder mit dem ausgestreckten Arm.
     Und  als  ich  die Augen aufschlug, standen  in zwei sich  schneidenden
Kreisen, die einen Achter bildeten, fremdartige Wesen um uns herum:
     Die des einen  Kreises gehüllt in Gewänder mit violettem Schimmer,  die
des anderen mit rötlich schwarzem.  Menschen einer fremden Rasse, von hohem,
unnatürlich schmächtigem  Wuchs,  die Gesichter  hinter  leuchtenden Tüchern
verborgen.
     Das  Herzbeben  in  meiner  Brust  sagte  mir,  daß  der Zeitpunkt  der
Entscheidung gekommen war. Meine  Finger zuckten nach  den Körnern: - und da
sah ich, wie ein Zittern durch die Gestalten des rötlichen Kreises ging. -
     Sollte ich die Körner zurückweisen?: Das Zittern ergriff den bläulichen
Kreis;  -  ich  blickte  den  Mann ohne Kopf  scharf an;  er stand  da -  in
derselben Stellung: regungslos wie früher.
     Sogar sein Atem hatte aufgehört.
     Ich hob  den Arm, wußte  noch immer nicht,  was  ich  tun sollte, und -
schlug auf die  ausgestreckte  Hand  des  Phantoms, daß die Körner  über den
Boden hinrollten.
     Einen  Moment,  so jäh wie  ein  elektrischer Schlag, entglitt  mir das
Bewußtsein, und ich  glaubte in endlose Tiefen zu stürzen,  - dann stand ich
fest auf den Füßen.
     Das  graue  Geschöpf  war verschwunden. Ebenso die Wesen des  rötlichen
Kreises.
     Die bläulichen Gestalten hingegen  hatten einen Ring um  mich gebildet;
sie trugen eine Inschrift aus goldnen Hieroglyphen auf der Brust und hielten
stumm  - es sah aus  wie ein  Schwur  - zwischen Zeigefinger und  Daumen die
roten  Körner in  die  Hohe,  die  ich dem Phantom  ohne Kopf  aus  der Hand
geschlagen hatte.
     Ich  hörte,  wie  draußen  Hagelschauer  gegen  die  Fenster tobten und
brüllender Donner die Luft zerriß:
     Ein Wintergewitter in seiner ganzen  besinnungslosen Wut raste über die
Stadt  hinweg.  Vom  Fluß  her  dröhnten  durch  das  Heulen  des Sturms  in
rhythmischen Intervallen die  dumpfen  Kanonenschüsse,  die das  Brechen der
Eisdecke  auf  der  Moldau  verkündeten.  Die Stube  loderte  im  Licht  der
ununterbrochen  aufeinanderfolgenden  Blitze.  Ich  fühlte mich plötzlich so
schwach, daß mir die Knie zitterten und ich mich setzen mußte.
     "Sei ruhig," sagte deutlich eine Stimme neben mir, "sei ganz  ruhig, es
ist heute die Lelschimurim: die Nacht der Beschützung." -
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     Allmählich ließ das Unwetter nach, und der betäubende Lärm ging über in
das eintönige Trommeln der Schloßen auf die Dacher.
     Die Mattigkeit in meinen  Gliedern nahm derart zu, daß ich nur mehr mit
stumpfen Sinnen und halb im Traum wahrnahm, was um mich her vorging:
     Jemand aus dem Kreis sagte die Worte:
     "Den ihr suchet, der ist nicht hier."
     Die andern erwiderten etwas in einer fremden Sprache.
     Hierauf sagte der erste wieder leise einen Satz, dann kam der Name
     "Henoch"
     vor, aber ich verstand das übrige nicht: der Wind trug das  Stöhnen der
berstenden Eisschollen zu laut vom Flusse herüber.
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     Dann löste sich einer aus dem Kreis, trat vor mich hin, deutete auf die
Hieroglyphen auf seiner Brust - sie  waren  dieselben Buchstaben wie die der
übrigen - und fragte mich, ob ich sie lesen könne.
     Und als  ich  - lallend vor Müdigkeit,  -  verneinte,  streckte er  die
Handfläche  gegen mich aus, und die Schrift  erschien  leuchtend  auf meiner
Brust in Lettern, die zuerst lateinisch waren:
     CHABRAT ZEREH AUR BOCHER
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     und  sich  langsam  in die mir unbekannten verwandelten. - - - Und  ich
fiel  in einen tiefen, traumlosen  Schlaf, wie  ich ihn seit jener Nacht, in
der Hillel mir die Zunge gelöst, nicht mehr gekannt hatte.

     Wie im  Fluge  waren mir die Stunden der  letzten Tage vergangen. Kaum,
daß ich mir Zeit zu den Mahlzeiten ließ.
     Ein  unwiderstehlicher Drang nach äußerer Tätigkeit hatte mich von früh
bis abends an meinen Arbeitstisch gefesselt.
     Die  Gemme war fertig  geworden, und Mirjam  hatte  sich  wie  ein Kind
darüber gefreut.
     Auch der Buchstabe "I" in dem Buche Ibbur war ausgebessert.
     Ich lehnte mich zurück  und ließ ruhevoll  all die kleinen Geschehnisse
der heutigen Stunden an mir vorüberziehen:
     Wie das alte Weib,  das mich bediente, am Morgen nach dem Ungewitter zu
mir ins Zimmer gestürzt kam mit der Meldung, die steinerne Brücke sei in der
Nacht eingestürzt. -
     Seltsam:  -  Eingestürzt! Vielleicht gerade in der Stunde,  wo ich  die
Körner - - - nein, nein,  nicht daran denken;  es  könnte einen Anstrich von
Nüchternheit  bekommen,  was  damals   geschehen  war,  und  ich  hatte  mir
vorgenommen, es in meiner Brust  begraben  sein zu lassen, bis es von selbst
wieder erwachte, - nur nicht daran rühren.
     Wie  lange war's her,  da ging  ich  noch  über  die  Brücke,  sah  die
steinernen  Statuen  -  und  jetzt  lag sie,  die  Brücke,  die Jahrhunderte
gestanden, in Trümmern.
     Es stimmte mich beinahe  wehmütig, daß ich nie  mehr meinen Fuß auf sie
setzen sollte. Wenn man sie auch wieder aufbaute, war es doch nicht mehr die
alte, geheimnisvolle, steinerne Brücke.
     Stundenlang  hatte ich,  während ich  an  der  Gemme  schnitt,  darüber
nachdenken müssen, und so selbstverständlich, als hätte ich es nie vergessen
gehabt,  war  es lebendig in mir geworden: wie  oft ich als Kind und auch in
spätern  Jahren zu dem Bildnis der heiligen Luitgard und all den andern, die
jetzt begraben lagen in den tosenden Wassern, aufgeblickt.
     Die vielen, kleinen lieben  Dinge, die ich in  meiner Jugend mein eigen
genannt, hatte ich  wieder  gesehen im Geiste  - und meinen Vater  und meine
Mutter und die Menge Schulkameraden. Nur an das Haus, wo ich gewohnt, konnte
ich mich nicht mehr erinnern.
     Ich wußte, es würde plötzlich, eines  Tages, wenn ich  es am  wenigsten
erwartete, wieder vor mir stehen; und ich freute mich darauf.
     Die  Empfindung, daß sich  mit einemmal alles natürlich und  einfach in
mir abwickelte, war so behaglich.
     Als ich vorgestern  das Buch Ibbur aus der Kassette  geholt hatte, - es
war so gar nichts Erstaunliches daran gewesen, daß es  aussah, nun, wie eben
ein altes,  mit wertvollen Initialen  geschmücktes Pergamentbuch  aussieht -
schien es mir ganz selbstverständlich.
     Ich konnte nicht begreifen, daß es jemals gespenstisch auf mich gewirkt
hatte!
     Es war in hebräischer  Sprache  geschrieben, vollkommen  unverständlich
für mich.
     Wann wohl der Unbekannte es wieder holen kommen wurde?
     Die Freude am Leben, die während der Arbeit heimlich in mich eingezogen
war,  erwachte  von   neuem  in   ihrer  ganzen  erquickenden   Frische  und
verscheuchte  die  Nachtgedanken, die  mich  hinterrücks  wieder  überfallen
wollten.
     Rasch nahm  ich  Angelinas Bild - ich  hatte die Widmung,  die darunter
stand, abgeschnitten - und küßte es.
     Es war das alles so töricht  und widersinnig, aber  warum nicht  einmal
von  -  Glück träumen, die  glitzernde  Gegenwart festhalten und  sich daran
freuen, wie über eine Seifenblase?
     Konnte denn nicht vielleicht  doch  in Erfüllung gehen,  was mir da die
Sehnsucht meines Herzens vorgaukelte? War  es so ganz und gar unmöglich, daß
ich über Nacht ein berühmter Mann wurde? Ihr ebenbürtig, wenn auch  nicht an
Herkunft? Zumindest Dr. Savioli ebenbürtig? Ich dachte an die Gemme Mirjams:
wenn mir noch andere so gelangen wie diese - kein Zweifei, selbst die ersten
Künstler aller Zeiten hatten nie etwas Besseres geschaffen.
     Und nur einen Zufall angenommen: der Gatte Angelinas stürbe plötzlich?
     Mir wurde heiß und kalt: ein winziger Zufall -  und meine Hoffnung, die
verwegenste  Hoffnung, gewann  Gestalt. An einem dünnen Faden, der stündlich
reißen konnte, hing das Glück, das mir dann in den Schoß fallen müßte.
     War  mir  denn nicht  schon tausendfach Wunderbareres geschehen? Dinge,
von denen die Menschheit gar nicht ahnte, daß sie überhaupt existierten?
     War es kein Wunder, daß binnen weniger Wochen künstlerische Fähigkeiten
in mir  erwacht  waren,  die  mich  jetzt schon  weit über  den Durchschnitt
erhoben?
     Und ich stand doch erst am Anfang des Weges!
     Hatte ich denn kein Anrecht auf Glück?
     Ist denn Mystik gleichbedeutend mit Wunschlosigkeit?
     Ich übertönte das: "Ja" in mir: -  nur noch  eine Stunde träumen - eine
Minute - ein kurzes Menschendasein!
     Und ich träumte mit offenen Augen:
     Die  Edelsteine auf dem Tisch wuchsen und wuchsen und umgaben mich  von
allen  Seiten mit farbigen Wasserfällen. Bäume aus  Opal standen  in Gruppen
beisammen und strahlten die Lichtwellen des Himmels, der blau schillerte wie
der Flügel eines gigantischen Tropenschmetterlings, in Funkensprühregen über
unabsehbare Wiesen voll heißem Sommerduft.
     Mich  dürstete, und ich kühlte meine Glieder in dem eisigen  Gischt der
Bäche, die über Felsblöcke rauschten aus schimmerndem Perlmutter.
     Schwüler Hauch strich über Hänge, übersät  mit Blüten und  Blumen,  und
machte  mich trunken  mit  den Gerüchen von  Jasmin, Hyazinthen,  Narzissen,
Seidelbast - - -
     Unerträglich! Unerträglich! Ich verlöschte das Bild. - Mich dürstete.
     Das waren die Qualen des Paradieses.
     Ich riß die Fenster auf und ließ den Tauwind an meine Stirne wehen.
     Es roch nach kommendem Frühling - - -
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     Mirjam!
     Ich mußte an Mirjam denken.
     Wie  sie sich vor  Erregung  an der  Wand hatte halten müssen, um nicht
umzufallen, als  sie mir erzählen  gekommen, ein Wunder  sei  geschehen, ein
wirkliches Wunder: sie habe ein Goldstück gefunden in  dem Brotlaib, den der
Bäcker vom Gang aus durchs Gitter ins Küchenfenster gelegt. - - -
     Ich griff nach meiner  Börse. - Hoffentlich war es heute nicht schon zu
spät, und ich kam noch zurecht, ihr wieder einen Dukaten zuzuzaubern!
     Täglich hatte sie mich besucht, um mir Gesellschaft zu leisten, wie sie
es  nannte, dabei  aber fast nicht  gesprochen, so erfüllt war  sie  von dem
"Wunder"  gewesen.  Bis  in  die  tiefsten  Tiefen hatte  das  Erlebnis  sie
aufgewühlt und, wenn ich  mir vorstellte, wie sie  manchmal  plötzlich  ohne
äußern Grund - nur unter dem  Einfluß ihrer  Erinnerung - totenblaß geworden
war bis  in die Lippen, schwindelte  mir bei dem bloßen Gedanken, ich könnte
in  meiner  Blindheit  Dinge  angerichtet  haben, deren  Tragweite  bis  ins
Grenzenlose ging.
     Und wenn ich mir die letzten, dunklen Worte Hillels ins Gedächtnis rief
und in Zusammenhang damit brachte, überlief es mich eiskalt.
     Die Reinheit des Motivs war  keine Entschuldigung für mich, - der Zweck
heiligt die Mittel nicht, das sah ich ein.
     Und  was, wenn überdies  das Motiv: "helfen  zu  wollen" nur  scheinbar
"rein" war?  Hielt sich nicht vielleicht  doch eine  heimliche Lüge dahinter
verborgen?: der selbstgefällige, unbewußte Wunsch,  in der Rolle des Helfers
zu schwelgen?
     Ich fing an, irre an mir selbst zu werden.
     Daß ich Mirjam viel zu oberflächlich beurteilt hatte, war klar.
     Schon als die Tochter Hillels mußte sie anders sein als andere Mädchen.
     Wie hatte ich nur so vermessen sein können, auf solch törichte Weise in
ein Innenleben einzugreifen,  das vielleicht  himmelhoch über meinem eigenen
stand!
     Schon ihr Gesichtsschnitt, der hundertmal eher in die Zeit der sechsten
ägyptischen  Dynastie paßte  und  selbst für diese  noch viel zu vergeistigt
war, als in die unsrige mit ihren Verstandesmenschentypen, hätte mich warnen
müssen.
     "Nur  der ganz  Dumme mißtraut  dem  äußern Schein", hatte ich irgendwo
einmal gelesen. - Wie richtig! Wie richtig!
     Mirjam  und  ich waren jetzt gute Freunde; sollte ich ihr  eingestehen,
daß ich  es gewesen war, der die Dukaten Tag für Tag  ins Brot  geschmuggelt
hatte?
     Der Schlag käme zu plötzlich. Würde sie betäuben.
     Ich durfte das nicht wagen, mußte behutsamer vorgehen.
     Das "Wunder" irgendwie abschwächen? Statt das Geld ins Brot zu stecken,
es auf die  Treppenstufe zu legen, daß sie es finden mußte, wenn sie die Tür
aufmachte,  und so weiter,  und so  weiter?  Etwas Neues,  weniger Schroffes
würde  sich  schon  ausdenken  lassen,  irgendein   Weg,  der  sie  aus  dem
Wunderbaren allmählich  wieder  ins Alltägliche herüberlenkte,  tröstete ich
mich.
     Ja! Das war das Richtige.
     Oder den Knoten zerhauen? Ihren Vater einweihen und zu Rate ziehen? Die
Schamröte stieg  mir ins  Gesicht. Zu diesem  Schritt blieb Zeit genug, wenn
alle andern Mittel versagten.
     Nur gleich ans Werk gehen, keine Zeit versäumen!
     Ein  guter   Einfall   kam  mir:   Ich   mußte  Mirjam  zu  etwas  ganz
Absonderlichem bewegen, sie für ein paar Stunden aus der  gewohnten Umgebung
reißen, daß sie andere Eindrücke bekam.
     Wir würden einen Wagen nehmen  und eine Spazierfahrt machen. Wer kannte
uns denn, wenn wir das Judenviertel mieden?
     Vielleicht   interessierte   es  sie,   die  eingestürzte   Brücke   zu
besichtigen?
     Oder der alte Zwakh oder eine ihrer früheren Freundinnen sollte mit ihr
fahren, wenn sie es ungeheuerlich finden würde, daß ich mit dabei sei.
     Ich war fest entschlossen, keinen Widerspruch gelten zu lassen. - - -
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     An der Türschwelle rannte ich einen Mann beinahe über den Haufen.
     Wassertrum!
     Er  mußte  durchs  Schlüsselloch  hereingespäht  haben,  denn  er stand
gebückt, als ich mit ihm zusammengestoßen war.
     "Suchen Sie mich?", fragte ich barsch.
     Er  stammelte ein paar Worte  der Entschuldigung in  seinem unmöglichen
Jargon; dann bejahte er.
     Ich forderte ihn auf, näher zu treten und sich zu setzen, aber er blieb
am  Tisch  stehen  und  drehte  krampfhaft  mit  der Hutkrempe.  Eine  tiefe
Feindseligkeit, die  er vergebens  vor  mir verbergen wollte, spiegelte  aus
seinem Gesicht und jeder seiner Bewegungen.
     Noch  nie hatte  ich den Mann in so unmittelbarer  Nähe gesehen.  Seine
grauenhafte Häßlichkeit war es nicht, die einen so abstieß; (sie machte mich
eher mitleidig  gestimmt: er sah aus wie ein Geschöpf,  dem die Natur selbst
bei  seiner  Geburt  voll Wut und Abscheu mit  dem  Fuß ins Gesicht getreten
hatte)  - etwas anderes, Unwägbares, das von  ihm  ausging, trug  die Schuld
daran.
     Das "Blut", wie Charousek es treffend bezeichnet hatte.
     Unwillkürlich  wischte ich  mir  die Hand  ab,  die ich ihm  bei seinem
Eintritt gereicht hatte.
     So wenig auffällig ich es  machte,  er schien es doch bemerkt zu haben,
denn er mußte  sich plötzlich mit  Gewalt zwingen, das Aufflammen des Hasses
in seinen Zügen zu unterdrücken.
     "Hübsch  ham Se's hier", fing er endlich  stockend  an, als er sah, daß
ich ihm nicht den Gefallen tat, das Gespräch zu beginnen.
     Im Widerspruch zu seinen  Worten schloß er dabei die Augen, vielleicht,
um  meinem Blick nicht zu begegnen. Oder glaubte  er, daß es seinem  Gesicht
einen harmloseren Ausdruck verleihen würde?
     Man konnte  ihm deutlich anhören, welche Mühe er sich gab,  hochdeutsch
zu reden.
     Ich fühlte mich nicht zu einer Entgegnung verpflichtet und wartete, was
er weiter sagen würde.
     In seiner Verlegenheit griff er nach der Feile, die - weiß Gott wieso -
noch  seit Charouseks Besuch  auf  dem  Tisch  lag, fuhr  aber unwillkürlich
sofort  wie von einer  Schlange gebissen zurück.  Ich staunte innerlich über
seine unterbewußte seelische Feinfühligkeit.
     "Freilich, natürlich,  es  gehört zum  Geschäft, daß  man's  fein hat,"
raffte  er sich auf, zu sagen, "wenn man  -  so noble Besuche  bekommt."  Er
wollte  die Augen  aufschlagen, um zu sehen, welchen  Eindruck die Worte auf
mich machten,  hielt  es  aber offenbar noch  für verfrüht  und  schloß  sie
schnell wieder.
     Ich wollte ihn  in die Enge treiben: "Sie meinen die Dame,  die neulich
hier vorfuhr? Sagen Sie doch offen, wo Sie hinauswollen!"
     Er zögerte einen Moment,  dann packte er mich  heftig am Handgelenk und
zerrte mich ans Fenster.
     Die  sonderbare,  unmotivierte  Art, mit  der er es tat, erinnerte mich
daran, wie er vor einigen Tagen den taubstummen Jaromir unten in seine Höhle
gerissen hatte.
     Mit krummen Fingern hielt er mir einen blitzenden Gegenstand hin:
     "Was glauben Sie, Herr Pernath, laßt sich da noch was machen?"
     Es war eine goldene  Uhr  mit so stark verbeulten Deckeln, daß es  fast
aussah, als hätte sie jemand mit Absicht verbogen.
     Ich  nahm  ein  Vergrößerungsglas:  die  Scharniere  waren  zur  Hälfte
abgerissen und innen - stand da nicht etwas eingraviert? Kaum mehr leserlich
und noch überdies mit einer Menge ganz frischer Schrammen zerkratzt. Langsam
entzifferte ich:
     K-rl Zott-mann.
     Zottmann? Zottmann? - Wo hatte ich diesen Namen doch gelesen? Zottmann?
Ich konnte mich nicht entsinnen. Zottmann?
     Wassertrum schlug mir die Lupe beinahe aus der Hand:
     "Im Werk is nix, da hab' ich schon selber geschaut. Aber mit'm Gehäuse,
da stinkt's."
     "Braucht man nur gerade zu klopfen - höchstens ein paar Lötstellen. Das
kann Ihnen ebensogut jeder beliebige Goldarbeiter machen, Herr Wassertrum."
     "Ich leg' doch Wert darauf, daß es eine solide Arbeit  wird. Was man so
sagt: künstlerisch", unterbrach er mich hastig. Fast ängstlich.
     "Nun gut, wenn Ihnen derart viel daran liegt -"
     "Viel  daran  liegt!" Seine  Stimme schnappte über vor Eifer. "Ich will
sie doch selber tragen, die Uhr. Und wenn ich sie  jemandem zeig',  will ich
sagen können: schauen Sie mal her, so arbeitet der Herr von Pernath."
     Ich  ekelte  mich  vor  dem  Kerl; er spuckte mir  seine  widerwärtigen
Schmeicheleien förmlich ins Gesicht.
     "Wenn Sie in einer Stunde wiederkommen, wird alles fertig sein."
     Wassertrum  wand  sich in Krämpfen: "Das gibt's  nicht.  Das  will  ich
nicht. Drei Tag. Vier Tag. Die nächste Woche  is Zeit genug. Das ganze Leben
möcht' ich mir Vorwürfe machen, daß ich Ihnen gedrängt hab'."
     Was  wollte  er nur, daß  er  so außer sich geriet? -  Ich machte einen
Schritt  ins Nebenzimmer  und  sperrte  die Uhr in  die  Kassette. Angelinas
Photographie lag obenauf. Schnell schlug ich den  Deckel wieder zu - für den
Fall, daß Wassertrum mir nachblicken sollte.
     Als ich zurückkam, fiel mir auf, daß er sich verfärbt hatte.
     Ich  musterte ihn  scharf, ließ aber  meinen  Verdacht  sofort  fallen:
Unmöglich! Er konnte nichts gesehen haben.
     "Also,  dann vielleicht nächste Woche", sagte ich, um seinem Besuch ein
Ende zu machen.
     Er schien mit einemmal keine Eile  mehr zu haben, nahm einen Sessel und
setzte sich.
     Im Gegensatz zu früher hielt er seine  Fischaugen jetzt beim Reden weit
offen und fixierte beharrlich meinen obersten Westenknopf.
     Pause.
     "Die  Duksel hat Ihnen  natürlich  gesagt,  Sie sollen sich  nix wissen
machen, wenn's  heraus  kommt.  Waas?"  sprudelte  er  plötzlich  ohne  jede
Einleitung auf mich los und schlug mit der Faust auf den Tisch.
     Es lag etwas merkwürdig Schreckhaftes in der Abgerissenheit, mit der er
von  einer  Sprechweise  in  die  andere  übergehen  -  von  Schmeicheltönen
blitzartig  ins  Brutale  springen  konnte,  und  ich  hielt  es  für   sehr
wahrscheinlich,   daß  die  meisten  Menschen,  besonders  Frauen,  sich  im
Handumdrehen in seiner  Gewalt befinden  mußten,  wenn er nur die  geringste
Waffe gegen sie besaß.
     Ich wollte auffahren, ihn am Hals  packen und  vor die  Tür setzen, war
mein  erster  Gedanke;  dann  überlegte  ich,  ob es  nicht  klüger sei, ihn
zuvörderst einmal gründlich auszuhorchen.
     "Ich verstehe wahrhaftig nicht, was Sie meinen, Herr Wassertrum;" - ich
bemühte mich, ein möglichst dummes Gesicht zu machen - "Duksel? Was ist das:
Duksel?"
     "Soll ich Ihnen vielleicht Deitsch lernen?", fuhr er mich grob an. "Die
Hand  werden  Sie aufheben  müssen bei Gericht, wenn's um  die Wurscht geht.
Verstehen Sie mich?! Das sag ich Ihnen!" - Er fing an zu schreien:  "Mir ins
Gesicht hinein werden Sie nicht  abschwören,  daß ›sie‹ von  da drüben" - er
deutete mit dem Daumen nach dem Atelier - "zu Ihnen heribber geloffen is mit
en Teppich an und - sonst nix!"
     Die  Wut stieg mir in  die Augen; ich packte den Halunken an der  Brust
und schüttelte ihn:
     "Wenn Sie jetzt noch ein Wort in diesem Ton sagen, breche ich Ihnen die
Knochen im Leibe entzwei! Verstanden?"
     Aschfahl sank er in den Stuhl zurück und stotterte:
     "Was is? Was is? Was wollen Sie? Ich mein' doch bloß."
     Ich  ging ein paarmal im Zimmer  auf  und  ab,  um  mich zu  beruhigen.
Horchte nicht hin, was er alles zu seiner Entschuldigung herausgeiferte.
     Dann setzte  ich mich ihm dicht  gegenüber, in der festen Absicht,  die
Sache, soweit  sie  Angelina  betraf, ein für allemal mit ihm  ins  reine zu
bringen und, sollte  es  im Frieden nicht gehen, ihn zu zwingen, endlich die
Feindseligkeiten zu  eröffnen und seine paar schwachen  Pfeile  vorzeitig zu
verschießen.
     Ohne seine Unterbrechungen im geringsten zu beachten, sagte ich ihm auf
den Kopf  zu, daß  Erpressungen  irgendwelcher Art - ich betonte  das Wort -
mißglücken  müßten, da er auch nicht eine einzige Anschuldigung mit Beweisen
erhärten  könnte  und  ich  mich  einer  Zeugenschaft  (angenommen,  es wäre
überhaupt im  Bereiche der Möglichkeit, daß es je zu  einer solchen käme)  -
bestimmt  zu entziehen wissen würde.  Angelina stünde mir  viel zu nahe, als
daß  ich  sie nicht in der  Stunde  der  Not  retten würde, koste es, was es
wolle, sogar einen Meineid!
     Jede Muskel in  seinem Gesicht zuckte, seine  Hasenscharte zog sich bis
zur Nase auseinander, er fletschte die Zähne  und kollerte wie ein  Truthahn
mir immer wieder  in die Rede hinein: "Will ich  denn was von die Duksel? So
hören  Sie doch zu!" -  Er war außer  sich vor  Ungeduld, daß ich mich nicht
beirren  ließ.  - "Um den Savioli is  mir's  zu  tun, um den gottverfluchten
Hund, - den - den -", fuhr es ihm plötzlich brüllend heraus.
     Er japste nach Luft. Rasch hielt  ich inne: endlich war er dort, wo ich
ihn haben wollte, aber schon hatte er sich gefaßt und fixierte wieder  meine
Weste.
     "Hören  Sie  zu,  Pernath;"  er   zwang  sich,  die   kühle,  abwägende
Sprechweise eines Kaufmanns nachzuahmen, "Sie reden fort von der Duk - - von
der Dame. Gut!  sie ist verheiratet. Gut: sie hat sich eingelassen mit dem -
mit dem jungen Lauser. Was hab' ich  damit zu tun?" Er bewegte die Hände vor
meinem Gesicht hin und her,  die  Fingerspitzen zusammengedrückt, als hielte
er eine Prise Salz darin - "soll sie sich das selber abmachen, die Duksel. -
Ich bin e Weltmann und  Sie sin auch e Weltmann. Wir kennen  doch das beide.
Waas? Ich will doch nur zu meinem Geld kommen. Verstehen Sie, Pernath?!"
     Ich horchte erstaunt auf:
     "Zu welchem Geld? Ist Ihnen denn Dr. Savioli etwas schuldig?"
     Wassertrum wich aus:
     "Abrechnungen hab' ich mit ihm. Das kommt doch auf eins heraus."
     "Sie wollen ihn ermorden!" schrie ich.
     Er sprang auf. Taumelte. Gluckste ein paarmal.
     "Jawohl!  Ermorden! Wie lange  wollen Sie mir noch Komödie vorspielen!"
Ich deutete auf die Tür. "Schauen Sie, daß Sie hinauskommen."
     Langsam  griff er  nach seinem Hut, setzte ihn  auf und wandte sich zum
Gehen. Dann blieb er noch einmal stehen und sagte  mit einer Ruhe, deren ich
ihn nie für fähig gehalten hätte:
     "Auch recht. Ich hab' Sie herauslassen  wollen. Gut. Wenn nicht: Nicht.
Barmherzige Barbiere  machen faule Wunden. Mein Zarbüchel ist voll. Wenn Sie
gescheit gewesen  wären -:  der Savioli  is Ihnen  doch nur im Weg?! Jetzt -
mach  -  ich -  mit - Ihnen allen dreien" - er deutete mit einer  Geste  des
Erdrosselns an, womit er es meinte - "Preßcolleeh".
     Seine Mienen drückten eine  so satanische Grausamkeit aus und er schien
seiner Sache so sicher zu sein, daß mir  das Blut in den Adern erstarrte. Er
mußte  eine  Waffe  in Händen  haben, von  der  ich nichts ahnte,  die  auch
Charousek nicht kannte. Ich fühlte den Boden unter mir wanken.
     "Die  Feile!  Die Feile!" hörte  ich es  in  meinem Hirn  flüstern. Ich
schätzte die Entfernung ab: ein Schritt bis zum Tisch - zwei Schritte bis zu
Wassertrum  -  - ich  wollte  zuspringen -  - -  da stand wie aus  dem Boden
gewachsen Hillel auf der Schwelle.
     Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen.
     Ich sah nur  - wie durch Nebel -, daß  Hillel unbeweglich stehen  blieb
und Wassertrum Schritt für Schritt bis an die Wand zurückwich.
     Dann hörte ich Hillel sagen:
     "Sie kennen doch,  Aaron, den Satz: Alle Juden sind Bürgen füreinander?
Machen Sie's einem nicht  zu schwer."  - Er fügte ein paar hebräische  Worte
hinzu, die ich nicht verstand.
     "Was haben Sie  das  netig, an der  Türe zu  schnüffeln?" geiferte  der
Trödler mit bebenden Lippen.
     "Ob  ich  gehorcht  habe oder nicht,  braucht Sie  nicht zu kümmern!" -
wieder  schloß  Hillel mit  einem  hebräischen Satz,  der diesmal  wie  eine
Drohung  klang.  Ich  erwartete, daß es  zu einem Zank  kommen  würde,  aber
Wassertrum antwortete nicht eine Silbe,  überlegte einen Augenblick und ging
dann trotzig hinaus.
     Gespannt blickte ich Hillel an. Er  winkte mir zu, ich solle schweigen.
Offenbar wartete er auf irgend  etwas,  denn  er horchte angestrengt auf den
Gang  hinaus.  Ich  wollte die Türe schließen gehen: er hielt mich mit einer
ungeduldigen Handbewegung zurück.
     Wohl  eine  Minute  verging, dann  kamen  die schleppenden Schritte des
Trödlers  wieder  die Stufen  herauf. Ohne ein Wort zu sprechen  ging Hillel
hinaus und machte ihm Platz.
     Wassertrum wartete,  bis er  außer Hörweite war, dann knurrte  er  mich
verbissen an:
     "Geben Se mer meine Uhr zorück."

     Wo nur Charousek blieb?
     Beinahe 24  Stunden waren vergangen, und noch immer ließ  er sich nicht
blicken.
     Sollte er das Zeichen vergessen haben, das  wir verabredet hatten? Oder
sah er es vielleicht nicht?
     Ich ging ans Fenster und richtete den Spiegel so, daß der Sonnenstrahl,
der  darauf schien,  genau auf das vergitterte Guckloch seiner Kellerwohnung
fiel.
     Das  Eingreifen  Hillels -  gestern  -  hatte mich  ziemlich  beruhigt.
Bestimmt würde er mich gewarnt haben, wenn eine Gefahr im Anzug wäre.
     Überdies: Wassertrum  konnte nichts von Belang mehr unternommen  haben;
gleich,   nachdem  er   mich  verlassen   hatte,  war  er  in  seinen  Laden
zurückgekehrt,  - ich  warf  einen  Blick  hinunter:  richtig,  da lehnte er
unbeweglich  hinter  seinen  Herdplatten,  genau  so,  wie  ich   ihn  schon
frühmorgens gesehen - - -
     Unerträglich, das ewige Warten!
     Die  milde  Frühlingsluft,  die  durch  das  offene  Fenster   aus  dem
Nebenzimmer hereinströmte, machte mich krank vor Sehnsucht.
     Dies  schmelzende  Tropfen   von  den  Dächern!  Und  wie   die  feinen
Wasserschnüre im Sonnenlicht glänzten!
     Es zog mich hinaus an unsichtbaren Fäden. Voll Ungeduld ging ich in der
Stube auf und ab. Warf mich in einen Sessel. Stand wieder auf.
     Dieses  süchtige Keimen einer  Ungewissen Verliebtheit in meiner Brust,
es wollte nicht weichen.
     Die ganze Nacht über  hatte es  mich gequält.  Einmal  war es  Angelina
gewesen, die sich an mich geschmiegt,  dann wieder sprach ich scheinbar ganz
harmlos mit  Mirjam, und kaum  hatte  ich das  Bild  zerrissen, kam abermals
Angelina und küßte mich;  ich  roch den Duft  ihres Haares, und ihr  weicher
Zobelpelz kitzelte mich am Hals,  rutschte von ihren entblößten  Schultern -
und sie wurde zu Rosina, die mit trunkenen, halbgeschlossenen Augen tanzte -
im  Frack - nackt;  - - - und alles in  einem Halbschlaf,  der doch genau so
gewesen war wie Wachsein. Wie ein süßes, verzehrendes, dämmeriges Wachsein.
     Gegen  Morgen  stand  dann  mein  Doppelgänger  an  meinem  Bett,   der
schattenhafte  Habal  Garmin,  "der  Hauch  der  Knochen",  von  dem  Hillel
gesprochen, - und ich sah ihm an den Augen an: er war in meiner Macht, mußte
mir  jede Frage beantworten,  die ich ihm stellen würde  nach irdischen oder
jenseitigen Dingen, und  er  wartete nur  darauf,  aber der  Durst nach  dem
Geheimnisvollen  konnte  nicht  an  gegen  die  Schwüle  meines  Blutes  und
versickerte im dürren Erdreich meines Verstandes. - Ich schickte das Phantom
weg, es  solle zum  Spiegelbild Angelinas werden, und es schrumpfte zusammen
zu  dem Buchstaben "Aleph", wuchs wieder empor, stand  da als das Koloßweib,
splitternackt, wie ich es einstens  im Buche Ibbur gesehen,  mit  dem  Pulse
gleich  einem  Erdbeben,  und  beugte sich  über mich,  und  ich  atmete den
betäubenden Geruch ihres heißen Fleisches ein.
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     Kam  denn Charousek  immer noch  nicht? -  Die  Glocken  sangen von den
Kirchtürmen.
     Eine Viertelstunde wollte  ich noch  warten -  dann  aber hinaus! Durch
belebte Straßen voll festtägig  gekleideter Menschen schlendern, mich in das
frohe Gewimmel mischen in den Stadtteilen  der  Reichen, schöne Frauen sehen
mit koketten Gesichtern und schmalen Händen und Füßen.
     Vielleicht  begegnete ich dabei Charousek  zufällig, entschuldigte  ich
mich vor mir selbst.
     Ich holte das altertümliche Tarockspiel vom Bücherbord, um mir die Zeit
rascher zu vertreiben. -
     Vielleicht  ließ sich aus den  Bildern  Anregung schöpfen  zum  Entwurf
einer Kamee?
     Ich suchte nach dem Pagad.
     Nicht zu finden. Wo konnte er hingeraten sein?
     Ich  blätterte  noch  einmal  die  Karten  durch  und  verlor  mich  in
Nachdenken  über  ihren verborgenen  Sinn.  Besonders der "Gehenkte", -  was
konnte er nur bedeuten?:
     Ein  Mann hängt an einem Seil zwischen  Himmel und Erde, den  Kopf nach
abwärts, die  Arme auf den Rücken  gebunden, den  rechten Unterschenkel über
das linke  Bein  verschränkt,  daß es  aussieht  wie  ein  Kreuz über  einem
verkehrten Dreieck?
     Unverständliches Gleichnis.
     Da! - Endlich! Charousek kam.
     Oder doch nicht?
     Freudige Überraschung, es war Mirjam.
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     "Wissen Sie, Mirjam, daß  ich  soeben zu Ihnen hinuntergehen wollte und
Sie bitten,  eine  Spazierfahrt  mit  mir zu machen?" Es war nicht  ganz die
Wahrheit, aber ich machte mir weiter keine Gedanken darüber.  - "Nicht wahr,
Sie schlagen es mir  nicht ab?! Ich bin heute  so unendlich froh im  Herzen,
daß Sie, gerade Sie, Mirjam, meiner Freude die Krone aufsetzen müssen."
     "-  spazierenfahren?",  wiederholte sie derart verblüfft, daß  ich laut
auflachen mußte.
     "Ist denn der Vorschlag gar so wunderbar?"
     "Nein, nein, aber -  -," sie suchte nach Worten,  "unerhört merkwürdig.
Spazierenfahren!"
     "Durchaus   nicht   merkwürdig,  wenn  Sie  sich   vorhalten,   daß  es
Hunderttausende  von  Menschen  tun  -  eigentlich  ihr ganzes Leben  nichts
anderes tun."
     "Ja, andere Menschen!" gab sie, immer noch vollständig überrumpelt, zu.
     Ich faßte ihre beiden Hände:
     "Was andere  Menschen an  Freude erleben  dürfen, möchte ich,  daß Sie,
Mirjam, in noch unendlich viel reicherem Maße genießen."
     Sie wurde plötzlich leichenblaß,  und ich sah  an der  starren Taubheit
ihres Blickes, woran sie dachte. Es gab mir einen Stich.
     "Sie  dürfen es nicht immer mit sich  herumtragen,  Mirjam," redete ich
ihr zu, "das - das Wunder. Wollen Sie mir das nicht versprechen  - aus - aus
Freundschaft?"
     Sie hörte die Angst aus meinen Worten und blickte mich erstaunt an.
     "Wenn es Sie nicht so angriffe, könnte  ich mich mit Ihnen freuen, aber
so? Wissen Sie,  daß ich tief besorgt bin um  Sie, Mirjam? -  Um -  um - wie
soll  ich nur  sagen? - um  Ihre seelische Gesundheit! Fassen Sie  es  nicht
wörtlich auf, aber -: ich wollte, das Wunder wäre nie geschehen."
     Ich  erwartete, sie würde mir widersprechen,  aber  sie nickte  nur  in
Gedanken versunken.
     "Es verzehrt Sie. Habe ich nicht recht, Mirjam?" Sie raffte sich auf:
     "Manchmal möchte ich beinahe auch, es wäre nicht geschehen."
     Es  klang wie  ein  Hoffnungsstrahl für mich.  -  "Wenn ich mir  denken
soll,"  sie  sprach  ganz  langsam  und  traumverloren,  "daß Zeiten  kommen
könnten, wo ich ohne solche Wunder leben müßte - - -."
     "Sie können doch über  Nacht  reich werden und brauchen dann nicht mehr
-,"  fuhr ich ihr unbedacht in die Rede, hielt aber rasch inne, als ich  das
Entsetzen  in ihrem Gesicht bemerkte, - "ich meine: Sie können plötzlich auf
natürliche Weise Ihrer  Sorgen enthoben werden, und die Wunder, die Sie dann
erleben, würden geistiger Art sein: - innere Erlebnisse."
     Sie schüttelte den Kopf  und sagte hart: "Innere Erlebnisse sind  keine
Wunder. Erstaunlich  genug, daß es Menschen zu geben  scheint, die überhaupt
keine  haben.  - Seit meiner Kindheit, Tag für Tag, Nacht  für Nacht, erlebe
ich -" (sie  brach mit einem Ruck ab, und ich erriet, daß noch etwas anderes
in ihr war, von  dem sie  mir  nie gesprochen  hatte,  vielleicht  das Weben
unsichtbarer  Geschehnisse, ähnlich den meinigen)  -  "aber das gehört nicht
hierher.  Selbst,  wenn  einer  aufstünde  und  machte Kranke  gesund  durch
Handauflegen, ich könnte es kein Wunder nennen. Erst, wenn der leblose Stoff
- die Erde  - beseelt wird vom  Geist und die Gesetze  der Natur zerbrechen,
dann ist  das geschehen, wonach ich mich sehne, seit ich denken  kann. - Mir
hat einmal mein Vater gesagt: es gäbe zwei Seiten der Kabbala: eine magische
und eine  abstrakte, die sich niemals zur Deckung bringen ließen. Wohl könne
die magische die  abstrakte an sich ziehen,  aber  nie und nimmer umgekehrt.
Die magische ist ein  Geschenk,  die andere  kann errungen werden, wenn auch
nur  mit Hilfe eines Führers."  Sie  nahm den ersten Faden wieder  auf: "Das
Geschenk  ist es,  nach dem ich dürste;  was  ich mir erringen kann, ist mir
gleichgültig und  wertlos wie Staub. Wenn ich  mir  denken soll,  es könnten
Zeiten kommen,  sagte  ich  vorhin, wo  ich wieder ohne  diese  Wunder leben
müßte," -  ich  sah,  wie  sich ihre Finger  krampften  und Reue und  Jammer
zerfleischten mich,  - "ich glaube,  ich  sterbe jetzt  schon angesichts der
bloßen Möglichkeit."
     "Ist  das der Grund, weshalb  auch  Sie wünschten, das  Wunder wäre nie
geschehen?", forschte ich.
     "Nur zum Teil. Es ist  noch etwas anderes da. Ich - ich - ", sie dachte
einen Augenblick nach, "war noch nicht reif dazu, ein Wunder  in dieser Form
zu erleben. Das ist  es. Wie soll ich  es Ihnen  erklären? Nehmen Sie einmal
an, bloß  als Beispiel,  ich hätte seit  Jahren jede Nacht ein und denselben
Traum, der sich immer weiter fortspinnt und in dem  mich jemand - sagen wir:
ein  Bewohner einer  andern  Welt -  belehrt  und  mir  nicht nur  an  einem
Spiegelbilde von mir selbst und seinen allmählichen Veränderungen zeigt, wie
weit  ich von der  magischen Reife, ein ›Wunder‹ erleben zu können, entfernt
bin, sondern: mir  auch in Verstandesfragen, wie  sie  mich  einmal tagsüber
beschäftigen, derart Aufschluß gibt,  daß ich  es jederzeit nachprüfen kann.
Sie werden mich  verstehen:  Ein solches Wesen ersetzt einem an Glück alles,
was sich auf  Erden ausdenken läßt; es ist für mich die Brücke, die mich mit
dem  ›Drüben‹ verbindet, ist  die Jakobsleiter, auf der  ich  mich  über die
Dunkelheit des Alltags erheben kann ins  Licht, - ist mir Führer und Freund,
und  alle meine  Zuversicht, daß ich mich auf den  dunkeln Wegen,  die meine
Seele  geht, nicht verirren  kann in Wahnsinn  und Finsternis, setze ich auf
›ihn‹, der mich noch nie belogen hat.  -  Da  mit einem Mal, entgegen allem,
was er mir gesagt hat, kreuzt  ein  ›Wunder‹ mein Leben!  Wem soll ich jetzt
glauben? War das, was mich die vielen Jahre über ununterbrochen erfüllt hat,
eine Täuschung? Wenn ich daran zweifeln müßte, ich stürzte kopfüber in einen
bodenlosen  Abgrund.  -  Und  doch  ist  das  Wunder  geschehen!  Ich  würde
aufjauchzen vor Freude, wenn -"
     "Wenn  - - -?" unterbrach ich sie atemlos. Vielleicht sprach sie selbst
das erlösende Wort, und ich konnte ihr alles eingestehen.
     "- wenn ich erführe, daß ich mich geirrt habe, - daß es gar kein Wunder
war! Aber ich  weiß so genau, wie  ich weiß, daß ich  hier sitze, ich  ginge
zugrunde daran"; (mir  blieb das  Herz stehen) - "zurückgerissen werden, vom
Himmel wieder herab müssen  auf die Erde? Glauben Sie,  daß  das  ein Mensch
ertragen kann?"
     "Bitten Sie doch Ihren Vater um Hilfe", sagte ich ratlos vor Angst.
     "Meinen Vater? Um Hilfe?" - sie blickte mich verständnislos an - "wo es
nur  zwei Wege  für mich  gibt, kann  er da einen dritten finden? - - Wissen
Sie, was die einzige Rettung für mich wäre? Wenn mir das geschähe, was Ihnen
geschehen ist. Wenn ich  in dieser Minute alles,  was hinter mir liegt: mein
ganzes  Leben  bis zum  heutigen Tag -  vergessen  könnte.  -  Ist  es nicht
merkwürdig: was Sie als Unglück empfinden, wäre für mich das höchste Glück!"
     Wir  schwiegen  beide noch eine  lange Zeit. Dann ergriff sie plötzlich
meine Hand und lächelte. Beinahe fröhlich.
     "Ich will nicht, daß Sie sich meinetwegen grämen;" - (sie tröstete mich
- mich!) - "vorhin  waren Sie so voll  Freude  und Glück  über den  Frühling
draußen, und jetzt sind  Sie die Betrübnis selbst. Ich hätte Ihnen überhaupt
nichts sagen  sollen.  Reißen Sie  es aus Ihrem  Gedächtnis  und denken  Sie
wieder so heiter wie vorhin! - Ich bin ja so froh -"
     "Sie? Froh? Mirjam?", unterbrach ich sie bitter.
     Sie  machte ein  überzeugtes Gesicht: "Ja! Wirklich!  Froh!  Als ich zu
Ihnen  heraufging,  war ich  so unbeschreiblich ängstlich, -  ich weiß nicht
warum: ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß Sie in einer großen Gefahr
schweben",  -  ich  horchte auf -  "aber, statt mich darüber  zu freuen, Sie
gesund und wohlauf zu treffen, habe ich Sie angeunkt und - -"
     Ich zwang mich zur Lustigkeit: "und das  können Sie nur gutmachen, wenn
Sie mit  mir ausfahren." (Ich bemühte mich, so viel Übermut  wie  möglich in
meine Stimme zu  legen:)  "Ich möchte doch einmal sehen, Mirjam,  ob es  mir
nicht gelingt, Ihnen die trüben Gedanken zu verscheuchen. Sagen Sie, was Sie
wollen: Sie sind noch lange kein ägyptischer Zauberer, sondern vorläufig nur
ein junges Mädchen,  dem  der  Tauwind  noch manchen  bösen Streich  spielen
kann."
     Sie wurde plötzlich ganz lustig:
     "Ja, was ist  denn das  heute mit  Ihnen, Herr Pernath? So hab' ich Sie
noch  nie  gesehen!  -  Übrigens  ›Tauwind‹:  bei  uns  Judenmädchen  lenken
bekanntlich die  Eltern den Tauwind, und wir haben nur zu gehorchen. Tuen es
natürlich auch. Es steckt uns schon so im Blut. - Mir  ja nicht", setzte sie
ernsthafter  hinzu, "meine Mutter hat bös gestreikt, als sie den  gräßlichen
Aaron Wassertrum heiraten sollte."
     "Was? Ihre Mutter? Den Trödler da unten?"
     Mirjam nickte. "Gott sei Dank ist es nicht zustande gekommen. - Für den
armen Menschen freilich war es ein vernichtender Schlag."
     "Armer Mensch, sagen Sie?" fuhr ich auf. "Der Kerl ist ein Verbrecher."
     Sie wiegte nachdenklich den Kopf: "Gewiß, er  ist  ein Verbrecher. Aber
wer  in  einer solchen Haut steckt und kein Verbrecher wird, muß ein Prophet
sein."
     Ich rückte neugierig näher;
     "Wissen  Sie Genaueres  über  ihn?  Mich  interessiert  das.  Aus  ganz
besonderen - -"
     "Wenn Sie einmal  seinen  Laden von innen gesehen hätten, Herr Pernath,
wüßten Sie sofort, wie es  in seiner Seele ausschaut. Ich sage das, weil ich
als Kind sehr oft drin  war. - Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Ist denn
das  so  merkwürdig?  - Gegen mich war er immer freundlich und gütig. Einmal
sogar, erinnere ich mich, schenkte er mir einen großen blitzenden Stein, der
mir besonders unter seinen Sachen gefallen hatte. Meine Mutter sagte, es sei
ein Brillant, und ich mußte ihn natürlich sofort zurücktragen.
     Erst wollte er ihn lange  nicht wiedernehmen, aber dann riß  er ihn mir
aus  der Hand  und warf ihn voll  Wut weit  von sich. Ich habe  aber dennoch
gesehen, wie  ihm dabei die Tränen  aus den Augen  stürzten; ich konnte auch
damals  schon genug  Hebräisch, um zu verstehen, was er murmelte: ›Alles ist
verflucht, was meine Hand berührt.‹ - -  Es war das  letzte Mal, daß ich ihn
besuchen durfte. Nie  wieder  hat  er mich seitdem  aufgefordert, zu ihm  zu
kommen. Ich weiß auch warum: Hätte ich  ihn nicht zu trösten versucht,  wäre
alles beim alten geblieben, so aber, weil er mir unendlich leid tat  und ich
es  ihm sagte, wollte er  mich nicht  mehr  sehen. - -  - Sie  verstehen das
nicht, Herr Pernath? Es  ist doch so einfach:  er ist  ein Besessener, - ein
Mensch, der sofort mißtrauisch,  unheilbar mißtrauisch wird, wenn jemand  an
sein  Herz  rührt.  Er  hält  sich  für  noch  viel  häßlicher,  als  er  in
Wirklichkeit ist, - wenn das überhaupt möglich sein  kann, und darin wurzelt
sein ganzes  Denken und Handeln. Man sagt, seine Frau hätte ihn gern gehabt,
vielleicht war  es mehr  Mitleid als  Liebe, aber immerhin glaubten  es sehr
viele Leute. Der  einzige, der vom Gegenteil tief durchdrungen  war, war er.
Überall wittert er Verrat und Haß.
     Nur bei seinem Sohn  machte er eine Ausnahme.  Ob es  daher kam, daß er
ihn vom  Säuglingsalter an hatte  heranwachsen sehen, also das Keimen  jeder
Eigenschaft von Urbeginn in dem Kinde sozusagen miterlebte und daher nie  zu
einem Punkte gelangte, wo sein  Mißtrauen hätte einsetzen können, oder ob es
im jüdischen Blute lag:  alles, was  an  Liebesfähigkeit  in ihm lebte,  auf
seinen Nachkommen  auszugießen - in jener instinktiven Furcht unserer Rasse:
wir könnten  aussterben  und eine Mission nicht  erfüllen, die wir vergessen
haben, die aber dunkel in uns fortlebt, - wer kann das wissen!
     Mit  einer Umsicht, die beinahe  an Weisheit  grenzte,  und  bei  einem
unbelesenen Menschen, wie er, wunderbar ist, leitete er die Erziehung seines
Sohnes.  Mit  dem  Scharfsinn eines Psychologen räumte  er dem  Kinde  jedes
Erlebnis aus dem  Wege,  das  zur Entwicklung der  Gewissenstätigkeit  hätte
beitragen können, um ihm künftige seelische Leiden zu ersparen.
     Er hielt ihm als Lehrer einen hervorragenden Gelehrten, der die Ansicht
verfocht,  die  Tiere  seien empfindungslos  und  ihre  Schmerzäußerung  ein
mechanischer Reflex.
     Aus   jedem   Geschöpf  so  viel  Freude  und  Genuß  für  sich  selbst
herauspressen,  wie  nur  irgend  möglich,  und dann die Schale  sofort  als
nutzlos  wegzuwerfen:  das  war  ungefähr  das  Abc  seines   weitblickenden
Erziehungssystems.
     Daß das Geld als Standarte und  Schlüssel zur ›Macht‹ dabei eine  erste
Rolle spielte, können Sie sich denken,  Herr  Pernath. Und  so wie er selbst
den eigenen Reichtum  sorgsam geheim hält, um die  Grenzen seines Einflusses
in Dunkel zu hüllen, so ersann er sich  ein Mittel, seinem Sohn Ähnliches zu
ermöglichen, ihm aber gleichzeitig die Qual eines scheinbar ärmlichen Lebens
zu ersparen:  er durchtränkte  ihn  mit  der  infernalischen  Lüge  von  der
›Schönheit‹,  brachte ihm die äußere und  innere Gebärde  der Ästhetik  bei,
lehrte  ihn äußerlich:  die Lilie auf  dem Felde heucheln und innerlich  ein
Aasgeier sein.
     Natürlich war das mit der  ›Schönheit‹ wohl  kaum  eigene Erfindung von
ihm - vermutlich die ›Verbesserung‹ eines Ratschlags, den ihm ein Gebildeter
gegeben hatte.
     Daß ihn sein Sohn später verleugnete, wo und  wann er nur  konnte, nahm
er niemals  übel. Im  Gegenteil, er machte es  ihm  zur  Pflicht: denn seine
Liebe war  selbstlos, und wie ich  es schon einmal von meinem Vater sagte: -
von der Art, die übers Grab hinausgeht."
     Mirjam schwieg  einen  Augenblick  und  ich sah ihr  an,  wie  sie ihre
Gedanken stumm weiterspann, hörte  es an dem veränderten Klang ihrer Stimme,
als sie sagte:
     "Seltsame Früchte wachsen auf dem Baume des Judentums."
     "Sagen Sie,  Mirjam,"  fragte ich,  "haben Sie  nie  davon  gehört, daß
Wassertrum eine  Wachsfigur in seinem Laden stehen hat? Ich weiß nicht mehr,
wer es mir erzählt hat, - es war vielleicht nur ein Traum - -"
     "Nein,  nein,  es  ist  schon  richtig, Herr Pernath:  eine lebensgroße
Wachsfigur steht in der Ecke, in der er, mitten unter dem tollsten Gerümpel,
auf seinem Strohsack schläft. Er hat sie vor Jahren einem Schaubudenbesitzer
abgewuchert,  heißt  es, bloß  weil  sie  einem  Mädchen - einer  Christin -
ähnlich sah, die angeblich einmal seine Geliebte gewesen sein soll."
     "Charouseks Mutter!" drängte es sich mir auf.
     "Ihren Namen wissen Sie nicht, Mirjam?"
     Mirjam  schüttelte den Kopf. "Wenn Ihnen daran liegt,  - soll ich  mich
erkundigen?"
     "Ach Gott, nein, Mirjam; es ist  mir vollkommen gleichgültig", (ich sah
an ihren blitzenden Augen,  daß sie sich in  Eifer geredet hatte. Sie durfte
nicht wieder zu  sich kommen, nahm  ich mir vor),  "aber was mich viel  mehr
interessiert,  ist das  Gebiet,  von dem Sie vorhin  flüchtig  sprachen. Ich
meine  das  ›vom  Tauwind‹.  -  Ihr  Vater  würde  Ihnen  doch  gewiß  nicht
vorschreiben, wen Sie heiraten sollen?"
     Sie lachte lustig auf. "Mein Vater? Wo denken Sie hin!"
     "Nun, das ist ein großes Glück für mich."
     "Wieso?" fragte sie arglos.
     "Weil ich dann noch Chancen habe."
     Es war nur ein Scherz, und sie nahm es auch nicht anders hin, aber doch
sprang sie rasch auf  und  ging ans Fenster,  um mich nicht sehen zu lassen,
daß sie rot wurde.
     Ich lenkte ein, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen:
     "Das  eine  bitte  ich  mir  aus  als  alter  Freund:  Mich  müssen Sie
einweihen, wenn's einmal so weit ist. - Oder gedenken Sie überhaupt ledig zu
bleiben?"
     "Nein!  nein!   nein!"  -  sie  wehrte  so  entschlossen  ab,  daß  ich
unwillkürlich lächelte - "einmal muß ich ja doch heiraten."
     "Natürlich! Selbstverständlich!"
     Sie wurde nervös wie ein Backfisch.
     "Können Sie denn nicht eine Minute ernsthaft  bleiben, Herr Pernath?" -
Ich  machte gehorsam ein Lehrergesicht, und sie setzte sich wieder. - "Also:
wenn ich sage, ich muß doch einmal heiraten, so meine ich damit, daß ich mir
zwar bis jetzt den Kopfüber  die näheren Umstände nicht zerbrochen habe, den
Sinn des Lebens aber gewiß nicht verstünde, wenn ich annehmen würde, ich sei
als Weib auf die Welt gekommen, um kinderlos zu bleiben."
     Das erste Mal,  seit ich sie kannte,  sah ich das Frauenhafte in  ihren
Zügen.
     "Es  gehört  mit   zu  meinen  Träumen",  fuhr  sie  leise  fort,  "mir
vorzustellen, daß es ein Endziel sei, wenn zwei Wesen zu einem verschmelzen,
- zu dem, was - - haben Sie nie von dem ägyptischen Osiriskult gehört?  - zu
dem verschmelzen, was der ›Hermaphrodit‹ als Symbol bedeuten mag."
     Ich horchte gespannt auf: "Der Hermaphrodit -?"
     "Ich meine:  Die  magische  Vereinigung  von männlich und  weiblich  im
Menschengeschlecht  zu  einem  Halbgott.  Als  Endziel! -  Nein,  nicht  als
Endziel, als Beginn eines neuen Weges, der ewig ist - kein Ende hat."
     "Und  hoffen  Sie,   dereinst  denjenigen   zu   finden,"   fragte  ich
erschüttert, "den Sie suchen? - Kann es nicht  sein, daß er in  einem fernen
Land lebt, vielleicht gar nicht auf Erden ist?"
     "Davon weiß ich nichts"; sagte sie einfach, "ich  kann nur warten. Wenn
er durch Zeit und Raum von mir getrennt ist, - was ich nicht glaube, weshalb
wäre  ich  dann  hier  im  Getto  angebunden?  -  oder   durch   die  Klüfte
gegenseitigen Nichterkennens - und  ich finde ihn nicht, dann hat mein Leben
keinen Zweck gehabt und war das gedankenlose Spiel eines idiotischen Dämons.
- Aber, bitte, bitte, reden wir nicht mehr davon," flehte sie, "wenn man den
Gedanken  nur  ausspricht,  bekommt  er  schon  einen  häßlichen,  irdischen
Beigeschmack, und ich möchte nicht -"
     Sie brach plötzlich ab.
     "Was möchten Sie nicht, Mirjam?"
     Sie hob die Hand. Stand rasch auf und sagte:
     "Sie bekommen Besuch, Herr Pernath!"
     Seidenkleider raschelten auf dem Gang.
     Ungestümes Klopfen. Dann:
     Angelina!
     Mirjam wollte gehen; ich hielt sie zurück:
     "Darf  ich vorstellen: die Tochter eines lieben  Freundes - Frau Gräfin
-"
     "Nicht   einmal  vorfahren  kann  man   mehr.   Überall   das  Pflaster
aufgerissen. Wann werden Sie  einmal in eine menschenwürdige Gegend siedeln,
Meister Pernath? Draußen schmilzt der Schnee und der  Himmel  jubelt, daß es
einem  die Brust zersprengt,  und Sie hocken  hier in Ihrer Tropfsteingrotte
wie ein alter  Frosch, - -  übrigens wissen Sie,  daß ich gestern bei meinem
Juwelier  war und  er gesagt hat: Sie seien der größte Künstler, der feinste
Gemmenschneider,  den es heute gibt,  wenn nicht  einer der  größten, die je
gelebt  haben?!"  - Angelina  plauderte  wie ein  Wasserfall,  und  ich  war
verzaubert. Sah nur mehr ihre strahlenden, blauen Augen, die kleinen Füße in
den  winzigen  Lackstiefeln,  sah  das kapriziöse  Gesicht aus dem Wust  von
Pelzwerk leuchten und die rosigen Ohrläppchen.
     Sie ließ sich kaum Zeit auszuatmen.
     "An  der Ecke  steht mein Wagen.  Ich  hatte schon Angst, Sie nicht  zu
Hause  zu treffen. Sie haben doch hoffentlich noch nicht zu Mittag gegessen?
Wir fahren zuerst  - ja, wohin fahren wir zuerst? Wir fahren zuerst einmal -
warten Sie - - ja: vielleicht in den  Baumgarten, oder kurz: irgendwohin ins
Freie, wo man  so recht das Keimen und heimliche Sprossen in  der Luft ahnt.
Kommen Sie, kommen Sie, nehmen Sie Ihren Hut;  und dann essen Sie bei mir, -
und dann schwätzen wir  bis abends. Nehmen Sie doch Ihren Hut! Worauf warten
Sie denn? - Eine warme,  ganz weiche Decke ist unten: da wickeln wir uns ein
bis an die Ohren und kuscheln uns zusammen, bis uns siedheiß wird."
     Was sollte ich  nur  sagen?! "Soeben  habe ich mit  der Tochter  meines
Freundes eine Spazierfahrt verabredet - -"
     Mirjam hatte  sich bereits  hastig von Angelina verabschiedet, noch ehe
ich aussprechen konnte.
     Ich  begleitete  sie  bis  vor  die  Tür,  obschon  sie mich freundlich
abwehren wollte.
     "Hören Sie mich an, Mirjam, ich kann es Ihnen hier auf der Treppe nicht
so sagen, wie ich an Ihnen hänge - - und daß ich tausendmal lieber mit Ihnen
- -"
     "Sie dürfen die Dame nicht warten lassen, Herr  Pernath,"  drängte sie,
"adieu und viel Vergnügen!"
     Sie sagte es voll Herzlichkeit und unverstellt und  echt, aber ich sah,
daß der Glanz in ihren Augen erloschen war.
     Sie eilte  die Treppe hinunter,  und  das  Leid schnürte mir  die Kehle
zusammen.
     Mir war, als hätte ich eine Welt verloren.
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     Wie im  Rausch saß ich an Angelinas Seite.  Wir fuhren in rasendem Trab
durch die menschenüberfüllten Straßen.
     Eine Brandung des Lebens rings um mich, daß ich, halb betäubt, nur noch
die  kleinen   Lichtflecke  in  dem  Bilde,  das  an   mir   vorüberhuschte,
unterscheiden  konnte: blitzende Juwelen in Ohrringen und Muffketten, blanke
Zylinderhüte, weiße  Damenhandschuhe, einen Pudel mit rosa Halsschleife, der
kläffend   in   die  Räder  beißen   wollte,  schäumende  Rappen,   die  uns
entgegensausten in silbernen Geschirren, ein  Ladenfenster, drin schimmernde
Schalen  voll Perlschnüren  und  funkelnden  Geschmeiden,  -  Seidenglanz um
schlanke Mädchenhüften.
     Der scharfe Wind, der uns ins Gesicht  schnitt, ließ mich die Wärme von
Angelinas Körper doppelt sinnverwirrend empfinden.
     Die Schutzleute an den Kreuzungen sprangen respektvoll zur Seite,  wenn
wir an ihnen vorüberjagten.
     Dann ging's im Schritt über das Quai, das eine einzige  Wagenreihe war,
an der eingestürzten steinernen Brücke vorbei, umstaut vom Gewühl  gaffender
Gesichter.
     Ich blickte kaum hin: - das kleinste Wort aus dem Munde Angelinas, ihre
Wimpern,  das eilige Spiel  ihrer Lippen, - alles, alles  war mir  unendlich
viel  wichtiger,  als  zuzusehen,  wie  die   Felstrümmer   dort  unten  den
antaumelnden Eisschollen die Schultern entgegenstemmten. -
     Parkwege. Dann - gestampfte, elastische  Erde. Dann Laubrascheln  unter
den  Hufen  der  Pferde,  nasse  Luft,   blätterlose   Baumriesen  voll  von
Krähennestern, totes  Wiesengrün mit weißlichen Inseln schwindenden Schnees,
alles zog an mir vorbei wie geträumt.
     Nur mit ein paar kurzen Worten, fast gleichgültig, kam Angelina auf Dr.
Savioli zu sprechen.
     "Jetzt,  wo  die  Gefahr  vorüber  ist",  sagte  sie  mit entzückender,
kindlicher  Unbefangenheit,  "und ich  weiß,  daß es ihm auch wieder  besser
geht, kommt mir alles das,  was ich mitgemacht  habe, so gräßlich langweilig
vor.  - Ich  will mich endlich einmal wieder freuen, die Augen  zumachen und
untertauchen in dem glitzernden Schaum des Lebens. Ich glaube,  alle  Frauen
sind so. Sie  gestehen es bloß nicht ein. Oder sie sind so dumm,  daß sie es
selbst nicht wissen. Meinen  Sie nicht auch?" Sie  hörte gar nicht hin,  was
ich   darauf   antwortete.  "Übrigens   sind   mir  die  Frauen  vollständig
uninteressant.  Sie dürfen  es natürlich  nicht als Schmeichelei  auffassen:
aber  -  wahrhaftig, die bloße  Nähe eines  sympathischen Mannes ist mir  im
kleinen  Finger  lieber  als das  anregendste  Gespräch  mit  einer noch  so
gescheiten  Frau. Es ist ja schließlich doch alles  dummes Zeug, was man  da
zusammenschwätzt. - Höchstens: das bißchen Putz - na und! Die Moden wechseln
ja  nicht gar so häufig. - - Nicht wahr, ich bin  leichtsinnig?", fragte sie
plötzlich  kokett,  daß ich  mich, bestrickt  von ihrem Reiz, zusammennehmen
mußte, nicht  ihr  Köpfchen zwischen meine  Hände zu nehmen  und sie in  den
Nacken zu küssen, - "sagen Sie, daß ich leichtsinnig bin!"
     Sie schmiegte sich noch dichter an und hängte sich in mich ein.
     Wir   fuhren   aus  der   Allee  heraus   an   Bosketts   entlang   mit
strohumwickelten Zierstauden, die  aussahen  in ihren Hüllen  wie Rümpfe von
Ungeheuern mit abgehauenen Gliedern und Häuptern.
     Leute saßen auf Bänken in der Sonne und  blickten hinter uns  drein und
steckten die Köpfe zusammen.
     Wir  schwiegen eine  Weile und hingen  unseren Gedanken  nach. Wie  war
Angelina  doch so vollständig anders, als sie  bisher in  meiner  Einbildung
gelebt hatte! - Als sei sie erst heute für mich in die Gegenwart gerückt!
     War  das  wirklich  dieselbe  Frau, die  ich damals  in  der  Domkirche
getröstet hatte?
     Ich konnte den Blick nicht wenden von ihrem halboffenen Mund.
     Sie sprach noch immer kein Wort. Schien im Geiste ein Bild zu sehen.
     Der Wagen bog über eine feuchte Wiese.
     Es roch nach erwachender Erde.
     "Wissen Sie, - - Frau - -?"
     "Nennen Sie mich doch Angelina", unterbrach sie mich leise.
     "Wissen Sie, Angelina, daß  - daß ich heute die  ganze Nacht von  Ihnen
geträumt habe?", stieß ich gepreßt hervor.
     Sie  machte eine  kleine rasche  Bewegung, als wolle sie  ihren Arm aus
meinem  ziehen, und sah mich groß an. "Merkwürdig! Und ich  von Ihnen! - Und
in diesem Moment habe ich dasselbe gedacht."
     Wieder  stockte  das Gespräch, und beide  errieten  wir,  daß  wir auch
dasselbe geträumt hatten.
     Ich fühlte es an dem Beben ihres Blutes. Ihr Arm zitterte kaum merklich
an meiner Brust. Sie blickte  krampfhaft von mir weg aus dem Wagen hinaus. -
- -
     Langsam zog  ich  ihre  Hand  an  meine Lippen,  streifte  den  weißen,
duftenden Handschuh  zurück, hörte, wie  ihr Atem  heftig wurde, und  preßte
toll vor Liebe meine Zähne in ihren Handballen.
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     -  - Stunden  später  ging ich wie ein Trunkener  durch  den Abendnebel
hinab der  Stadt zu. Planlos wählte ich die Straßen  und ging lange, ohne es
zu wissen, im Kreise herum.
     Dann stand ich am Fluß über eisernes Geländer gebeugt und starrte hinab
in die tosenden Wellen.
     Noch  immer  fühlte  ich  Angelinas  Arme um  meinen  Nacken,  sah  das
steinerne  Becken  des  Springbrunnens,  an  dem  wir schon einmal  Abschied
voneinander  genommen  vor  vielen  Jahren,  vor   mir,  mit  den  faulenden
Ulmenblättern  darin, und sie wanderte  wieder mit mir,  wie soeben erst vor
kurzem, den Kopf an  meine  Schulter  gelehnt, stumm  durch den frösteldnen,
dämmrigen Park ihres Schlosses.
     Ich setzte mich  auf eine  Bank und zog den Hut tief ins Gesicht, um zu
träumen.
     Die Wasser  brausten  über  das  Wehr und  ihr Rauschen verschlang  die
letzten, aufmurrenden Geräusche der schlafengehenden Stadt.
     Wenn  ich  von  Zeit  zu  Zeit meinen  Mantel  fester  um mich zog  und
aufblickte, lag der Fluß in immer tieferen Schatten, bis er endlich, von der
schweren  Nacht  erdrückt,  schwarzgrau  dahinströmte  und  der  Gischt  des
Staudamms als weißer,  blendender  Streifen  schräg  hinüber zum andern Ufer
lief.
     Mich  schauderte  bei  dem  Gedanken, wieder zurück  zu müssen in  mein
trauriges Haus.
     Der Glanz eines kurzen Nachmittags hatte mich  für immer  zum Fremdling
in meiner Wohnstätte gemacht.
     Eine Spanne  von wenigen Wochen, vielleicht  nur von Tagen, dann  mußte
das  Glück vorüber sein  - und  nichts  blieb  davon als  eine wehe,  schöne
Erinnerung.
     Und dann?
     Dann war  ich heimatlos  hier  und drüben, diesseits  und jenseits  des
Flusses.
     Ich  stand  auf!  Wollte noch durch das Parkgitter einen  Blick auf das
Schloß werfen, hinter dessen  Fenstern sie schlief, ehe ich in  das finstere
Getto ging. -  - - Ich schlug die Richtung  ein, aus  der ich  gekommen war,
tappte  mich  durch  den dichten Nebel  an  Häuserreihen  entlang  und  über
schlummernde Plätze, sah  schwarze  Monumente drohend auftauchen und einsame
Schilderhäuser  und die  Schnörkel  von Barockfassaden.  Der  matte Schimmer
einer Laterne  wuchs  zu  riesigen,  phantastischen  Ringen  in verblichenen
Regenbogenfarben aus dem Dunst heraus, wurde zum fahlgelben, stechenden Auge
und zerging hinter mir in der Luft.
     Mein Fuß tastete breite, steinerne Stufenflächen, mit Kies bestreut. Wo
war ich? Ein Hohlweg, der steil aufwärts führt?
     Glatte Gartenmauern links  und  rechts? Die  kahlen  Äste  eines Baumes
hängen herüber. Sie kommen  vom  Himmel herunter:  der Stamm  verbirgt  sich
hinter der Nebelwand. -
     Ein paar morsche, dünne Zweige  brechen krachend ab,  wie  mein Hut sie
streift, und fallen an meinem Mantel hinab  in den  nebligen grauen Abgrund,
der mir meine Füße verbirgt.
     Dann ein strahlender Punkt: ein  einsames Licht in der Ferne - irgendwo
- rätselhaft - zwischen Himmel und Erde. - - -
     Ich mußte fehlgegangen sein. Es konnte nur die "alte Schloßstiege" sein
neben den Hängen der Fürstenbergschen Gärten - - -
     Dann lange Strecken lehmiger Erde. - Ein gepflasterter Weg.
     Ein  massiger  Schatten  ragt hoch  auf, den  Kopf  in einer schwarzen,
steifen Zipfelmütze: "die Daliborka" = der Hungerturm, in dem Menschen einst
verschmachteten, derweilen Könige unten im "Hirschgraben" das Wild hetzten.
     Ein schmales, gewundenes Gäßchen mit Schießscharten, ein Schneckengang,
kaum breit genug,  die Schultern durchzulassen  -  und  ich stand  vor einer
Reihe von Häuschen, keines höher als ich.
     Wenn ich den Arm ausstreckte, konnte ich auf die Dächer greifen.
     Ich war  in  die  "Goldmachergasse"  geraten,  wo  im  Mittelalter  die
alchimistischen  Adepten  den  Stein der Weisen geglüht und die Mondstrahlen
vergiftet haben.
     Es rührte kein anderer Weg hinaus als der, den ich gekommen war.
     Aber ich fand die Mauerlücke nicht mehr, die mich  eingelassen, - stieß
an ein Holzgatter.
     Es nützt  nichts, ich  muß jemand wecken,  damit man mir den Weg zeigt,
sagte ich mir. Sonderbar, daß hier ein  Haus die Gasse  abschließt  - größer
als die andern und anscheinend wohnlich? Ich  kann mich  nicht entsinnen, es
je bemerkt zu haben.
     Es muß wohl weiß getüncht sein, daß es so hell aus dem Nebel leuchtet?
     Ich gehe durch das Gatter über  den  schmalen Gartenstreif,  drücke das
Gesicht an die Scheiben: - alles finster. Ich  klopfe ans Fenster. - Da geht
drinnen ein steinalter Mann, eine  brennende  Kerze  in der Hand, durch eine
Tür mit greisenhaft  wankenden  Schritten  bis  mitten  in die Stube, bleibt
stehen, dreht langsam den Kopf nach den verstaubten alchimistischen Retorten
und  Kolben an der Wand, starrt  nachdenklich auf die riesigen Spinnweben in
den Ecken und richtet dann seinen Blick unverwandt auf mich.
     Der Schatten seiner Backenknochen fällt ihm auf die Augenhöhlen, daß es
aussieht, als seien sie leer wie die einer Mumie.
     Er sieht mich offenbar nicht.
     Ich klopfe ans Glas.
     Er hört mich  nicht. Geht  lautlos wie ein Schlafwandler wieder aus dem
Zimmer.
     Ich warte vergebens.
     Klopfe ans Haustor: niemand öffnet. - - -
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     Es  blieb mir nichts übrig, als so lange zu suchen, bis ich den Ausgang
aus der Gasse endlich fand.
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     Ob  es nicht am besten  wäre, ich ginge noch unter Menschen,  überlegte
ich. -  Zu meinen Freunden: Zwakh, Prokop und Vrieslander ins "alte Ungelt",
wo sie bestimmt sein würden -, um meine verzehrende Sehnsucht nach Angelinas
Küssen wenigstens für ein paar  Stunden zu  übertäuben? Rasch mache ich mich
auf den Weg.
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     Wie  ein  Trifolium von  Toten hockten sie  um den wurmstichigen, alten
Tisch herum, - alle drei: weiße dünnstielige Tonpfeifen zwischen den Zähnen,
und das Zimmer voll Rauch.
     Man  konnte  kaum ihre Gesichtszüge  unterscheiden,  so  schluckten die
dunkelbraunen Wände das spärliche Licht der altmodischen Hängelampe ein.
     In  der  Ecke die  spindeldürre, wortkarge,  verwitterte Kellnerin  mit
ihrem   ewigen   Strickstrumpf,   dem  farblosen  Blick   und   der   gelben
Entenschnabelnase!
     Mattrote Decken hingen vor den geschlossenen  Türen, so daß die Stimmen
der  Gäste im  Nebenzimmer  nur  wie das leise  Summen eines  Bienenschwarms
herüberdrangen.
     Vrieslander, seinen  kegelförmigen Hut mit der  geraden Krempe auf  dem
Kopf, mit  seinem  Knebelbart,  der  bleigrauen Gesichtsfarbe  und der Narbe
unter  dem Auge, sah aus wie ein ertrunkener Holländer aus einem vergessenen
Jahrhundert.
     Josua  Prokop  hatte  sich  eine  Gabel quer  durch  die  Musikerlocken
gesteckt,   klapperte   unaufhörlich    mit   seinen   gespenstisch   langen
Knochenfingern und sah bewundernd zu, wie sich  Zwakh abmühte, der bauchigen
Arakflasche das Purpurmäntelchen einer Marionette umzuhängen.
     "Das  wird Babinski",  erklärte mir Vrieslander mit  tiefem Ernst. "Sie
wissen  nicht,  wer Babinski  war? Zwakh,  erzählen Sie  Pernath  rasch, wer
Babinski war!"
     "Babinski  war",  begann  Zwakh sofort, ohne  auch nur eine Sekunde von
seiner Arbeit aufzusehen, "einst ein  berühmter Raubmörder  in Prag. - Viele
Jahre betrieb  er  sein  schändliches Handwerk,  ohne daß  es jemand bemerkt
hätte. Nach und nach  jedoch fiel es in den besseren Familien auf,  daß bald
dieses, bald jenes Mitglied der Sippe  beim Essen fehlte und sich nie wieder
blicken ließ. Wenn man auch anfangs nichts sagte, da die Sache gewissermaßen
ihre  guten Seiten  hatte, indem  man weniger  zu kochen brauchte, so durfte
wiederum  nicht  außer  acht   gelassen  werden,  daß  das  Ansehen  in  der
Gesellschaft leicht darunter leiden und man ins Gerede kommen konnte.
     Besonders, wenn es sich um das  spurlose Verschwinden mannbarer Töchter
handelte.
     Überdies verlangte die  Hochachtung vor sich selbst,  daß  man  auf ein
bürgerliches Zusammenleben in der Familie nach außen hin das nötige  Gewicht
legte.
     Die Zeitungsrubriken: "Kehre zurück, alles ist verziehen" wuchsen immer
mehr und  mehr, -  ein  Umstand,  den Babinski, leichtsinnig wie die meisten
Berufsmörder, in seine  Berechnungen nicht einbezogen hatte, - und  erregten
schließlich die allgemeine Aufmerksamkeit.
     In dem  lieblichen Dörfchen Krtsch  bei Prag hatte sich  Babinski,  der
innerlich  ein ausgesprochen  idyllischer Charakter war,  mit der Zeit durch
seine unverdrossene Tätigkeit ein kleines, aber trautes Heim geschaffen. Ein
Häuschen, blitzend  vor  Sauberkeit,  und  ein Gärtchen davor mit  blühenden
Geranien.
     Da es ihm seine Einkünfte nicht gestatteten, sich zu vergrößern, sah er
sich genötigt, um  die Leichen seiner Opfer unauffällig bestatten zu können,
statt  eines  Blumenbeetes  -  wie  er  es  gern   gesehen   hätte  -  einen
grasbewachsenen und schlichten, aber, den Umständen angemessen: zweckmäßigen
Grabhügel anzulegen,  der sich  mühelos verlängern ließ, wenn es der Betrieb
oder die Saison erforderte.
     Auf  dieser  Weihestätte pflegte Babinski allabendlich nach  des  Tages
Last und Mühen in  den  Strahlen der untergehenden  Sonne  zu sitzen und auf
seiner Flöte allerlei schwermütige Weisen zu blasen." - -
     "Halt!"  unterbrach Josua Prokop rauh, zog einen  Hausschlüssel aus der
Tasche, hielt ihn wie eine Klarinette an den Mund und sang:
     "Zimzerlim zambusla - deh."
     "Waren  Sie denn dabei,  daß Sie die Melodie so genau kennen?",  fragte
Vrieslander erstaunt.
     Prokop warf ihm einen bitterbösen Blick zu: "Nein. Dazu hat Babinski zu
früh gelebt. Aber was er gespielt haben kann, muß  ich als Komponist doch am
besten  wissen.  Ihnen   steht  darüber  kein  Urteil  zu:  Sie  sind  nicht
musikalisch. - - Zimzerlim - zambusla - busla - deh."
     Zwakh hörte  ergriffen  zu,  bis  Prokop  seinen  Hausschlüssel  wieder
einsteckte, und fuhr dann fort:
     "Das beständige Wachsen des Hügels erweckte allmählich Verdacht bei den
Anrainern, und einem Polizeimann aus der Vorstadt  Zizkov, der  gelegentlich
von weitem  zusah, wie Babinski gerade eine alte Dame der guten Gesellschaft
erwürgte,  gebührt das  Verdienst, dem selbstsüchtigen Treiben  des Unholdes
ein für allemal Schranken gesetzt zu haben:
     Man verhaftete Babinski in seinem Tuskulum.
     Der  Gerichtshof  verurteilte  ihn  unter  Zubilligung  des  mildernden
Umstandes  eines  ansonsten trefflichen  Leumundes zum Tode durch den Strang
und beauftragte zugleich die Firma  Gebrüder Leipen - Seilwaren  en gros und
en detail - die nötigen Hinrichtungsutensilien, soweit diese in ihre Branche
fielen,  unter  Anrechnung  ziviler  Preise  einem  hohen  Staatsärar  gegen
Quittung auszuhändigen.
     Nun   fügte  es  sich  aber,  daß  der  Strick   riß  und  Babinski  zu
lebenslänglichem Gefängnis begnadigt wurde.
     Zwanzig  Jahre  verbüßte  der  Raubmörder hinter den  Mauern von  Sankt
Pankraz, ohne daß je ein  Vorwurf  über seine  Lippen gekommen wäre;  - noch
heute ist der  Beamtenstab  des Institutes  voll Lob über seine vorbildliche
Aufführung,  ja,  man  gestattete ihm  sogar,  an  den Geburtstagen  unseres
Allerhöchsten Landesherrn ab und zu die Flöte zu blasen; -"
     Prokop suchte  sofort  wieder  nach  seinem Hausschlüssel,  aber  Zwakh
wehrte ihm.
     "- infolge allgemeiner  Amnestie wurde dem Babinski der Rest der Strafe
nachgesehen,  und  er  bekam  die  Stelle eines  Pförtners  im  Kloster  der
›Barmherzigen Schwestern‹.
     Die  leichte Gartenarbeit, die er nebenbei  mit zu versehen hatte, ging
ihm  dank der  großen,  während seines  früheren Wirkungskreises  erworbenen
Geschicklichkeit im Gebrauch  des Spatens hurtig  von  der Hand, so daß  ihm
hinlänglich  Muße  blieb,  Herz und Geist  an guter, sorgfältig ausgewählter
Lektüre zu läutern.
     Die daraus resultierenden Folgen waren hocherfreulich.
     Sooft ihn  die Oberin Samstagabends  ins Wirtshaus  schickte, damit  er
sein Gemüt  ein wenig erheitere, jedesmal kam er pünktlich vor  Anbruch  der
Nacht nach Hause mit dem  Hinweis, der Verfall der  allgemeinen Moral stimme
ihn  trübe  und  soviel  lichtscheues  Gesindel schlimmster  Sorte mache die
Landstraße unsicher, daß es  für jeden Friedliebenden ein Gebot der Klugheit
sei, rechtzeitig die Schritte heimwärts zu lenken.
     Es  war  nun damaliger Zeit  in  Prag bei den  Wachsziehern die Unsitte
eingerissen, kleine Figürchen feilzuhalten,  die ein rotes Manterle umhängen
hatten und den Raubmörder Babinski darstellten.
     Wohl in keiner der leidtragenden Familien fehlte ein solches.
     Gewöhnlich  aber standen sie in den Läden unter Glasstürzen,  und  über
nichts  konnte  sich  Babinski  so  empören,  als wenn  er  eines derartigen
Wachsbildes ansichtig wurde.
     ›Es ist  im höchsten  Grade unwürdig  und  zeugt von einer Gemütsroheit
sondersgleichen, einem Menschen beständig die Verfehlungen seiner Jugendzeit
vor  Augen zu führen,‹ pflegte Babinski  in solchen Fällen zu sagen ›und  es
ist  tief  zu  bedauern, daß von Seiten der  Obrigkeit  nichts geschieht, so
offenkundigem Unfug zu steuern.‹
     Noch auf dem Totenbette äußerte er sich in ähnlichem Sinne.
     Nicht vergebens, denn bald darauf verfügte die Behörde  die Einstellung
des Handels mit den ärgerniserregenden Babinskischen Statuetten." - - -
     -  - - Zwakh tat einen mächtigen Schluck  aus seinem Grogglas und  alle
drei grinsten wie  die Teufel, dann wandte er vorsichtig den Kopf  nach  der
farblosen Kellnerin, und ich sah, wie sie eine Träne im Auge zerdrückte.
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     - "Na, und Sie geben nichts zum besten, außer - natürlich - daß Sie aus
Dankbarkeit   für   den   überstandenen  Kunstgenuß  die   Zeche   berappen,
wertgeschätzter Kollege und Gemmenschneider?", fragte mich  Vrieslander nach
einer langen Pause allgemeinen Tiefsinnes.
     Ich erzählte ihnen meine Wanderung durch den Nebel.
     Als ich in der  Schilderung  zu der  Stelle kam, wo ich das weiße  Haus
erblickt hatte,  nahmen alle drei vor Spannung  die  Pfeifen aus den Zähnen,
und als ich schloß, schlug Prokop mit der Faust auf den Tisch und rief:
     "Das ist doch rein - -! Alle Sagen, die es gibt,  erlebt dieser Pernath
am eigenen Kadaver. - A propos, der Golem von damals - Sie wissen: die Sache
hat sich aufgeklärt."
     "Wieso aufgeklärt?" fragte ich baff.
     "Sie kennen doch den verrückten jüdischen Bettler ›Haschile‹? Nein? Nun
also: dieser Haschile war der Golem."
     "Ein Bettler der Golem?"
     "Jawohl, der Haschile war der Golem. Heute nachmittag ging das Gespenst
seelenvergnügt   bei  hellichtem   Sonnenschein   in   seinem   berüchtigten
altmodischen  Anzug  aus  dem  XVII.  Jahrhundert  durch  die  Salnitergasse
spazieren, und  da  hat  es der  Schinder mit  einer Hundeschlinge glücklich
eingefangen."
     "Was soll das heißen? Ich verstehe kein Wort!" fuhr ich auf.
     "Ich sage  Ihnen doch: der  Haschile war  es! Er  hat die Kleider, höre
ich, vor längerer Zeit hinter einem Haustor gefunden. - Übrigens, um auf das
weiße  Haus  auf  der  Kleinseite  zurückzukommen: die  Sache  ist furchtbar
interessant.  Es  geht  nämlich  eine  alte  Sage,  daß  dort  oben  in  der
Alchimistengasse ein Haus steht,  das nur bei Nebel sichtbar  wird, und auch
da bloß ›Sonntagskindern‹. Man nennt es ›die Mauer zur letzten Laterne‹. Wer
bei Tag hinaufgeht,  sieht  dort nur einen großen,  grauen Stein, - dahinter
stürzt es  jäh ab in die Tiefe in den Hirschgraben, und Sie können von Glück
sagen, Pernath,  daß  Sie keinen Schritt  weiter gemacht  haben:  Sie  wären
unfehlbar hinuntergefallen und hätten sämtliche Knochen gebrochen.
     Unter dem Stein, heißt es, ruht ein riesiger Schatz, und  er  soll  von
dem Orden der ›Asiatischen Brüder‹, die  angeblich Prag gegründet haben, als
Grundstein für ein  Haus gelegt worden sein, das  dereinst am  Ende der Tage
ein  Mensch bewohnen wird - besser gesagt ein  Hermaphrodit -  ein Geschöpf,
das sich aus  Mann und Weib zusammensetzt. Und der wird das Bild eines Hasen
im Wappen tragen, - nebenbei: der Hase  war das Symbol des Osiris, und daher
stammt wohl die Sitte mit dem Osterhasen.
     Bis die Zeit gekommen  ist, heißt es, hält Methusalem in eigener Person
Wache an dem Ort, damit Satan  nicht den Stein beflattert und einen Sohn mit
ihm zeugt: den sogenannten Armilos. - Haben  Sie noch nie von diesem Armilos
erzählen  hören? -  Sogar  wie er aussehen würde, weiß man - das heißt,  die
alten Rabbiner wissen es; - wenn er auf die Welt käme:  Haare aus Gold würde
er haben,  rückwärts zum Schopf gebunden, dann: zwei Scheitel, sichelförmige
Augen und Arme bis herunter zu den Füßen."
     "Dieses Ehrengigerl  sollte  man  aufzeichnen", brummte Vrieslander und
suchte nach einem Bleistift.
     "Also:  Pernath,  wenn  Sie  einmal   das   Glück  haben  sollten,  ein
Hermaphrodit zu werden  und en passant den  vergrabenen  Schatz  zu finden,"
schloß Prokop, "dann vergessen Sie nicht,  daß  ich  stets Ihr bester Freund
gewesen bin!"
     - Mir war nicht zum Spaßmachen zumute, und ich fühlte ein leises Weh im
Herzen.
     Zwakh mochte es mir ansehen, wenn  er auch den Grund  nicht wußte, denn
er kam mir rasch zu Hilfe:
     "Jedenfalls  ist es  höchst  merkwürdig,  fast unheimlich, daß  Pernath
gerade eine Vision an jener Stelle hatte, die mit einer  uralten Sage so eng
verknüpft ist. - Da  sind  Zusammenhänge,  aus deren Umklammerung  sich  ein
Mensch anscheinend  nicht befreien kann, wenn seine Seele die Fähigkeit hat,
Formen zu  sehen,  die dem Tastsinn vorenthalten sind.  - Ich kann mir nicht
helfen: das Übersinnliche ist doch das Reizvollste! - Was meint ihr?"
     Vrieslander  und Prokop waren  ernst geworden,  und jeder von uns hielt
eine Antwort für überflüssig.
     "Was  meinen Sie,  Eulalia?"  wiederholte Zwakh, zurückgewendet,  seine
Frage.
     Die alte Kellnerin  kratzte  sich mit der Stricknadel am Kopf, seufzte,
errötete und sagte:
     "Aber gähn' Sie! Sie sind mir ein Schlimmer."
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     "Eine  verdammt  gespannte Luft war  heute den ganzen  Tag über",  fing
Vrieslander an, nachdem sich unser Heiterkeitsausbruch gelegt hatte,  "nicht
einen Pinselstrich  hab' ich  fertiggebracht. Fortwährend  hab'  ich an  die
Rosina denken müssen, wie sie im Frack getanzt hat."
     "Ist sie wieder aufgefunden worden?", fragte ich.
     "›Aufgefunden‹ ist gut. Die Sittenpolizei hat sie doch für ein längeres
Engagement gewonnen! - Vielleicht hat sie dem Herrn Kommissär - damals ›beim
Loisitschek‹, ins Auge  gestochen?  Jedenfalls  ist  sie jetzt  - fieberhaft
tätig und trägt  wesentlich zur Hebung des Fremdenverkehrs in der Judenstadt
bei.  Ein verflucht dralles  Mensch ist sie  übrigens schon  geworden in der
kurzen Zeit."
     "Wenn  man bedenkt,  was  ein Weib  aus  einem  Mann machen  kann  bloß
dadurch, daß  sie ihn verliebt sein läßt in sich: es ist zum  Staunen", warf
Zwakh hin. "Um das Geld aufzubringen,  zu ihr gehen zu  können, ist der arme
Bursche,  der  Jaromir,  über  Nacht  Künstler  geworden.  Er  geht  in  den
Wirtshäusern herum  und schneidet  Silhouetten für Gäste aus, die  sich  auf
diese Art porträtieren lassen."
     Prokop, der den Schluß überhört hatte, schmatzte mit den Lippen:
     "Wirklich?  Ist  sie so  hübsch geworden, die  Rosina? - Haben  Sie ihr
schon ein Küßchen geraubt, Vrieslander?"
     Die Kellnerin sprang sofort auf und verließ indigniert das Zimmer.
     "Das Suppenhuhn!  Die  hat's wahrhaftig nötig,  - Tugendanfälle! Pah!",
brummte Prokop ärgerlich hinter ihr drein.
     "Was wollen  Sie,  sie  ist doch bei der unrichtigen Stelle abgegangen.
Und außerdem war der Strumpf gerade fertig", beschwichtigte ihn Zwakh.
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     Der Wirt  brachte  neuen  Grog und die Gespräche  fingen allmählich an,
eine  schwüle Richtung zu nehmen. Zu schwül,  als daß sie mir nicht ins Blut
gegangen wären bei meiner fiebrigen Stimmung.
     Ich sträubte mich dagegen, aber je mehr ich mich innerlich abschloß und
an Angelina zurückdachte, um so heißer brauste es mir in den Ohren.
     Ziemlich unvermittelt verabschiedete ich mich.
     Der Nebel  war durchsichtiger  geworden,  sprühte  feine  Eisnadeln auf
mich, war aber  immer noch so  dicht, daß ich die Straßentafeln  nicht lesen
konnte und von meinem Heimweg um ein geringes abkam.
     Ich war in eine andere Gasse geraten und wollte eben umkehren, da hörte
ich meinen Namen rufen:
     "Herr Pernath! Herr Pernath!"
     Ich blickte um mich, in die Höhe:
     Niemand!
     Ein offenes Haustor, darüber diskret  eine kleine, rote Laterne, gähnte
neben  mir  auf, und eine helle Gestalt  -  schien mir - stand  tief im Flur
darin.
     Wieder: "Herr Pernath! Herr Pernath!" Im Flüsterton.
     Ich trat erstaunt in den Gang, - da  schlangen sich warme Frauenarme um
meinen Hals, und  ich sah bei dem  Lichtstrahl,  der aus  einem sich langsam
öffnenden Türspalt fiel, daß es Rosina war, die sich heiß an mich preßte.

     Ein grauer, blinder Tag.
     Bis  tief  in  den  Morgen  hinein  hatte  ich   geschlafen,  traumlos,
bewußtlos, wie ein Scheintoter.
     Meine   alte  Bedienerin   war   ausgeblieben  oder   hatte   vergessen
einzuheizen.
     Kalte Asche lag im Ofen.
     Staub auf den Möbeln.
     Der Fußboden nicht gekehrt.
     Fröstelnd ging ich auf und ab.
     Widerwärtiger  Geruch  nach  ausgeatmetem  Fusel lag  im  Zimmer.  Mein
Mantel, meine Kleider stanken nach altem Tabakrauch.
     Ich  riß  das Fenster  auf,  schloß es wieder: - der kalte,  schmutzige
Hauch von der Straße war unerträglich.
     Spatzen  mit durchnäßtem  Gefieder hockten regungslos  draußen auf  den
Dachrinnen.
     Wohin  ich  blickte,  mißfarbene  Verdrossenheit.  Alles  in   mir  war
zerrissen, zerfetzt.
     Das  Sitzpolster  auf  dem Lehnstuhl  -  wie fadenscheinig  es war! Die
Roßhaare quollen hervor aus den Rändern.
     Man mußte es zum Tapezierer schicken  - - ach was, sollte es so bleiben
- noch ein ödes Menschenleben hindurch, bis alles zu Gerumpel zerfiel!
     Und   dort,  welch   geschmackloser,   zweckwidriger   Plunder,   diese
Zwirnlappen an den Fenstern!
     Warum drehte ich sie nicht zu einem Strick und erhenkte mich daran?!
     Dann brauchte ich diese augenverletzenden Dinge wenigstens  nie mehr zu
sehen,  und  der  ganze graue,  zermürbende Jammer  war  vorüber -  ein  für
allemal.
     Ja! Das war das gescheiteste! Ein Ende machen.
     Heute noch.
     Jetzt  noch  -  vormittags.  Gar nicht erst  zum  Essen  gehen.  -  Ein
ekelhafter Gedanke,  mit vollem Magen sich  aus der Welt zu schaffen! In der
nassen Erde liegen und unverdaute, verfaulende Speisen in sich zu haben.
     Wenn nur nie wieder die Sonne scheinen wollte und ihre freche Lüge  von
der Freude des Daseins einem ins Herz funkeln.
     Nein!  ich  ließ  mich  nicht  mehr  narren,  wollte nicht  länger  der
Spielball sein eines  täppischen,  zwecklosen Schicksals, das  mich emporhob
und dann wieder  in Pfützen stieß, bloß damit ich die Vergänglichkeit  alles
Irdischen einsehen sollte, etwas, was ich längst wußte, was jedes Kind weiß,
jeder Hund auf der Straße weiß.
     Arme, arme Mirjam! Wenn ich ihr wenigstens helfen könnte.
     Es  hieß,  einen  Entschluß  fassen,   einen  ernsten,  unabänderlichen
Beschluß, bevor der  verfluchte  Trieb  zum  Dasein  wieder  in mir erwachen
konnte und mir neue Trugbilder vorgaukeln.
     Wozu hatten sie mir denn  gedient: alle diese Botschaften aus dem Reich
des Unverweslichen?
     Zu nichts, zu gar, gar nichts.
     Nur dazu  vielleicht, daß ich im Kreis herumgetaumelt war und jetzt die
Erde als unmögliche Qual empfand.
     Da gab es nur noch eins.
     Ich rechnete  im Kopf zusammen, wieviel Geld  ich auf  der  Bank liegen
hatte.
     Ja,  nur  so ging es. Das war noch das Einzige, Winzige, was von meinen
nichtigen Taten im Leben irgendeinen Wert haben konnte!
     Alles, was ich  besaß - die  paar Edelsteine in  der  Schublade dazu, -
zusammenschnüren  in ein  Paket  und  es  Mirjam  schicken.  Ein  paar Jahre
wenigstens würde es die Sorge ums tägliche Leben von  ihr  nehmen. Und einen
Brief an Hillel schreiben, in dem ich ihm sagte, wie es um sie stand mit dem
"Wunder".
     Er allein konnte ihr helfen.
     Ich fühlte: ja, er würde Rat wissen für sie.
     Ich suchte die  Steine zusammen, steckte sie ein, sah auf die Uhr: wenn
ich  jetzt  auf  die Bank ging - in  einer Stunde  konnte  alles in  Ordnung
gebracht sein.
     Und dann noch  einen Strauß roter Rosen kaufen für Angelina! - - - - es
schrie auf in mir vor  Weh und wilder Sehnsucht. - Nur noch einen Tag, einen
einzigen Tag möchte ich leben!
     Um dann abermals dieselbe würgende Verzweiflung mitmachen zu müssen?
     Nein, nicht eine einzige Minute  mehr warten!  Es  kam wie Befriedigung
über mich, daß ich mir nicht nachgegeben hatte.
     Ich blickte umher. Blieb mir noch etwas zu tun?
     Richtig: die Feile  dort. Ich  steckte sie in die  Tasche, - wollte sie
fortwerfen irgendwo auf der Gasse, wie ich es mir neulich schon vorgenommen.
     Ich  haßte die Feile! Wieviel  hatte gefehlt, und  ich wäre zum  Mörder
geworden durch sie.
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     Wer kam mich denn da wieder stören?
     Es war der Trödler.
     "Nur en Augenblick, Herr  von Pernath", bat er fassungslos, als ich ihm
bedeutete, daß ich keine Zeit hätte. "Nur en ganz en kurzen Augenblick.  Nur
ä paar Worte."
     Der Schweiß lief ihm übers Gesicht, und er zitterte vor Aufregung.
     "Kann man hier auch ungestört mit Ihnen sprechen, Herr von Pernath? Ich
möcht'  nicht, daß  der  -  der Hillel wieder hereinkommt.  Sperren Sie doch
lieber die Tür  ab, oder geh'mer besser ins Nebenzimmer", - er  zog mich  in
seiner gewohnten, heftigen Art hinter sich drein.
     Dann sah er sich ein paarmal scheu um und flüsterte heiser:
     "Ich  hab mir's  überlegt, wissen  Sie, - das von neilich. Es is besser
so. Es kommt nix hereaus dabei. Gut. Vorüber is vorüber."
     Ich suchte in seinen Augen zu lesen.
     Er  hielt meinen Blick aus, krampfte aber die Hand  in die  Stuhllehne,
solche Anstrengung kostete es ihn.
     "Das freut mich, Herr Wassertrum," sagte ich, so freundlich ich konnte,
"das  Leben ist  zu  trüb,  als  daß man es sich gegenseitig  noch  mit  Haß
verbittern sollte."
     "Rein,  als  ob  man  ein  gedrücktes  Buch  reden  hört,"  grunzte  er
erleichtert, wühlte in  seinen  Hosentaschen und zog wieder die  goldene Uhr
mit den  verbogenen Sprungdeckeln hervor,  "und damit Sie  sehen, ich mein's
ehrlich, müssen Sie die Kleinigkeit da von mir annehmen. Als Geschenk."
     "Was fällt Ihnen denn ein,"  wehrte ich ab, "Sie werden doch wohl nicht
glauben  -", da fiel  mir  ein, was Mirjam über ihn gesagt  hatte,  und  ich
streckte ihm die Hand hin, um ihn nicht zu kränken.
     Er achtete  nicht darauf,  wurde plötzlich weiß wie die Wand,  lauschte
und röchelte:
     "Da! Da! Hab' ich's doch gewußt. Schon wieder der Hillel! Er klopft."
     Ich horchte, ging ins andere Zimmer zurück und zog zu seiner Beruhigung
die Verbindungstür hinter mir halb zu.
     Es war  diesmal  nicht  Hillel. Charousek  trat  ein,  legte,  wie  zum
Zeichen,  daß  er  wisse, wer nebenan sei,  den  Finger  an die  Lippen  und
überschüttete  mich in der  nächsten Sekunde und ohne  abzuwarten,  was  ich
sagen würde, mit einem Schwall von Worten:
     "Oh, mein hochverehrter, liebwerter Meister  Pernath, wie  soll ich nur
die Worte finden, Ihnen  meine Freude auszudrücken, daß  ich Sie allein  und
wohlauf zu Hause antreffe." - - -  Er sprach wie ein Schauspieler, und seine
schwülstige, unnatürliche Redeweise  stand in so krassem Gegensatz zu seinem
verzerrten Gesicht, daß ich ein tiefes Grauen vor ihm empfand.
     "Niemals hätte  ich,  Meister, es gewagt, in dem zerlumpten Zustande zu
Ihnen zu  kommen, in  dem Sie  mich gewiß schon des  öfteren auf der  Straße
erblickt  haben,  -  doch, was sage  ich: erblickt! haben  Sie mir doch  oft
huldreich die Hand gereicht.
     Daß ich heute vor Sie hintreten kann mit weißem Kragen und  in sauberem
Anzug,  - wissen Sie, wem  ich es verdanke? Einem der edelsten und  leider -
ach - meist verkannten Menschen unserer Stadt. Rührung übermannt  mich, wenn
ich seiner gedenke.
     Selber in bescheidenen Verhältnissen, hat er  dennoch eine offene  Hand
für Arme und  Bedürftige.  Von jeher, wenn ich ihn traurig vor seinem  Laden
stehen sah, trieb  es mich aus tiefstem Herzen heraus, zu  ihm zu treten und
ihm stumm die Hand zu drücken.
     Vor  einigen Tagen rief er mich an,  als  ich vorüberging, schenkte mir
Geld und versetzte  mich dadurch in die Lage, mir  gegen Ratenzahlung  einen
Anzug kaufen zu können.
     Und wissen Sie, Meister Pernath, wer mein Wohltäter war? -
     Mit Stolz  sage ich es, denn  ich war von jeher der einzige, der geahnt
hat,  welch  goldenes  Herz  in seinem  Busen schlägt: Es  war - Herr  Aaron
Wassertrum!" - -
     -  -  Ich verstand  natürlich,  daß  Charousek seine  Komödie  auf  den
Trödler,  der nebenan lauschte, gemünzt hatte,  wenn mir auch unklar  blieb,
was er damit bezweckte; keinesfalls schien mir die allzuplumpe  Schmeichelei
geeignet, den mißtrauischen Wassertrum  hinters Licht  zu führen.  Charousek
erriet offenbar aus meiner  bedenklichen Miene, was  ich dachte,  schüttelte
grinsend den Kopf, und auch seine nächsten Worte sollten mir  wahrscheinlich
sagen,  daß er seinen  Mann  genau kenne und wisse,  wie dick  er  auftragen
dürfe.
     "Jawohl! Herr - Aaron - Wassertrum! Es drückt mir fast das Herz ab, daß
ich ihm nicht selbst  sagen  kann,  wie  unendlich  dankbar ich ihm bin, und
beschwöre Sie, Meister, verraten Sie ihm niemals, daß ich hier war und Ihnen
alles  erzählt  habe.  -  Ich weiß,  die Selbstsucht der  Menschen  hat  ihn
verbittert  und tiefes, unheilbares  -  ach, leider  nur zu gerechtfertigtes
Mißtrauen in seine Brust gepflanzt.
     Ich bin Seelenarzt,  aber auch mein Gefühl sagt mir, es  ist am besten:
Herr Wassertrum erfährt nie - auch aus meinem Munde nicht - wie hoch ich von
ihm denke. - Es hieße das:  Zweifel in sein unglückliches Herz säen. Und das
sei ferne von mir. Lieber soll er mich für undankbar halten.
     Meister  Pernath!  Ich  bin  selbst  ein  Unglücklicher  und  weiß  von
Kindesbeinen an,  was es heißt, einsam und verlassen in der Welt zu  stehen!
Ich kenne nicht einmal den  Namen  meines Vaters.  Auch mein Mütterlein habe
ich niemals von Angesicht zu Angesicht gesehen. Sie muß frühzeitig gestorben
sein -"  Charouseks Stimme wurde  seltsam geheimnisvoll und eindringlich,  -
"und  war,  wie  ich  bestimmt glaube,  eine  jener tiefseelisch  angelegten
Naturen, die nie sagen können,  wie unendlich sie lieben, und zu denen  auch
Herr Aaron Wassertrum gehört.
     Ich besitze eine abgerissene Seite aus dem Tagebuch meiner Mutter - ich
trage das Blatt beständig auf  der Brust -  und  darin steht, daß sie meinen
Vater, obschon er häßlich gewesen sein soll, geliebt hat, wie wohl noch  nie
ein sterbliches Weib auf Erden einen Mann geliebt hat.
     Dennoch scheint sie es nie gesagt  zu haben. - Vielleicht aus ähnlichen
Gründen, weshalb ich z.  B. Herrn Wassertrum  nicht sagen könnte -  und wenn
mir das Herz darüber bräche - was ich für ihn an Dankbarkeit fühle.
     Aber noch eins geht aus dem Tagebuchblatt hervor,  wenn ich es auch nur
erraten  kann, denn die Sätze  sind  fast unleserlich vor Tränenspuren: mein
Vater  - sein  Andenken  möge  vergehen  im  Himmel  und  auf  Erden! -  muß
scheußlich an meiner Mutter gehandelt haben."
     - Charousek fiel  plötzlich  auf die Knie, daß  der Boden  dröhnte, und
schrie in so markerschütternden Tönen, daß ich nicht wußte, spielte  er noch
immer Komödie oder war er wahnsinnig geworden:
     "Du Allmächtiger,  dessen Namen der Mensch nicht aussprechen soll, hier
auf meinen Knien liege ich vor Dir: verflucht, verflucht, verflucht sei mein
Vater in alle Ewigkeit!"
     Er  biß das letzte Wort förmlich entzwei  und horchte eine Sekunde lang
mit aufgerissenen Augen.
     Dann feixte er wie der Satan. Auch mir schien  es, als hätte Wassertrum
nebenan leise gestöhnt.
     "Verzeihen Sie, Meister," fuhr Charousek nach einer Pause mit mimenhaft
erstickter Stimme fort, "verzeihen Sie, daß  es mich  übermannt hat, aber es
ist  mein  Gebet  früh  und spät, der Allmächtige wolle  es  fügen, daß mein
Vater, wer immer er auch sein möge, dereinst das gräßlichste Ende nehme, das
sich ausdenken läßt."
     Ich wollte unwillkürlich  etwas erwidern,  allein  Charousek unterbrach
mich rasch:
     "Doch jetzt,  Meister Pernath, komme  ich zu  der Bitte, die  ich Ihnen
vorzutragen habe:
     Herr Wassertrum  besaß einen Schützling, den er über die Maßen ins Herz
geschlossen  hatte, - es  dürfte  ein Neffe von  ihm gewesen sein. Es  heißt
sogar, es sei sein Sohn gewesen,  aber ich will es nicht glauben, denn sonst
hätte  er  doch  denselben  Namen  getragen, in  Wirklichkeit  aber hieß er:
Wassory, Dr. Theodor Wassory.
     Die  Tränen treten mir in  die  Augen, wenn  ich ihn im Geiste vor  mir
sehe. Ich war ihm aus ganzer Seele zugetan, als hätte mich ein unmittelbares
Band der Liebe und Verwandtschaft mit ihm verknüpft."
     Charousek   schluchzte,   als   könne   er   vor   Ergriffenheit   kaum
weitersprechen.
     "Ach, daß dieser Edeling von der Erde gehen mußte! - Ach! Ach!
     Was auch  der Grund gewesen sein mag, - ich habe ihn nie erfahren, - er
hat sich selbst den  Tod gegeben.  Und ich  war unter denen,  die  zu  Hilfe
gerufen wurden - - ach, ach, zu spät - zu  spät - zu spät! Und als ich  dann
allein  am  Totenlager  stand  und  seine  kalte,  bleiche Hand  mit  Küssen
bedeckte,  da -  warum soll ich  es nicht eingestehen, Meister Pernath? - es
war ja doch kein Diebstahl - da nahm ich eine Rose von der  Brust der Leiche
und eignete mir das Fläschchen an, mit dessen Inhalt der Unglückliche seinem
blühenden Leben ein schnelles Ende bereitet hatte."
     Charousek zog eine Medizinflasche hervor und fuhr bebend fort:
     "Beides lege  ich hier auf  Ihren  Tisch,  die verdorrte  Rose und  die
Phiole; sie waren mir ein Andenken an meinen dahingegangenen Freund.
     Wie  oft  in  Stunden  innerer Verlassenheit,  wenn  ich  mir  den  Tod
herbeiwünschte  in  der Einsamkeit  meines  Herzens und  der  Sehnsucht nach
meiner toten Mutter, spielte ich mit diesem Fläschchen, und es gab mir einen
seligen Trost, zu  wissen:  ich brauchte nur die Flüssigkeit auf ein Tuch zu
gießen und  einzuatmen und schwebte schmerzlos  hinüber in  die Gefilde,  wo
mein lieber, guter Theodor ausruht von den Mühsalen unseres Jammertales.
     Und  nun  bitte ich Sie, hochverehrter Meister, - und  deswegen bin ich
hergekommen - nehmen Sie beides und bringen Sie es Herrn Wassertrum.
     Sagen  Sie,  Sie  hätten  es  von  jemandem bekommen,  dem Dr.  Wassory
nahestand,  dessen  Namen  Sie  jedoch  gelobt  hätten,  nie  zu  nennen,  -
vielleicht von einer Dame.
     Er  wird es glauben,  und  es wird  ihm ein Andenken sein,  wie es  ein
teures Andenken für mich war.
     Das soll der heimliche Dank sein, den ich ihm gebe. Ich bin arm  und es
ist  alles, was ich habe,  aber es macht mich  froh,  zu wissen: beides wird
jetzt ihm gehören, und dennoch ahnt er nicht, daß ich der Geber bin.
     Es liegt darin zugleich auch für mich etwas unendlich Süßes.
     Und  jetzt leben  Sie  wohl, teurer Meister, und  seien  Sie  im voraus
vieltausendmal bedankt."
     Er hielt  meine  Hand fest,  zwinkerte und flüsterte mir, als  ich noch
immer nicht verstand, kaum hörbar etwas zu.
     "Warten  Sie,   Herr   Charousek,   ich   werde   Sie   ein   Stückchen
hinunterbegleiten", sagte ich  mechanisch die Worte nach, die ich von seinen
Lippen las, und ging mit ihm hinaus.
     Auf dem finsteren Treppenabsatz im ersten Stock blieben wir stehen, und
ich wollte mich von Charousek verabschieden.
     "Ich kann mir denken, was Sie mit der Komödie bezweckt haben. - - Sie -
Sie wollen,  daß sich Wassertrum mit dem Fläschchen vergiftet!" Ich sagte es
ihm ins Gesicht.
     "Freilich", gab Charousek aufgeräumt zu.
     "Und dazu, glauben Sie, werde ich meine Hand bieten?"
     "Durchaus nicht nötig."
     "Aber ich  sollte  Wassertrum doch  die  Flasche  bringen,  sagten  Sie
vorhin!"
     Charousek schüttelte den Kopf:
     "Wenn  Sie  jetzt  zurückgehen, werden Sie  sehen,  daß  er sie bereits
eingesteckt hat."
     "Wie können Sie das nur annehmen?",  fragte ich  erstaunt. "Ein  Mensch
wie Wassertrum  wird sich  niemals umbringen,  -  ist viel  zu  feig  dazu -
handelt nie nach plötzlichen Impulsen."
     "Da kennen Sie das schleichende Gift der  Suggestion nicht", unterbrach
mich Charousek ernst. "Hätte ich in alltäglichen Worten geredet,  würden Sie
vielleicht recht behalten, aber auch den kleinsten Tonfall habe  ich  vorher
berechnet. Nur das widerlichste Pathos wirkt auf solche Hundsfötter! Glauben
Sie mir! Sein Mienenspiel bei jedem meiner Sätze hätte ich Ihnen hinzeichnen
können.  - Kein ›Kitsch‹ wie  es die Maler nennen, ist niederträchtig genug,
als daß er nicht der bis  ins Mark  verlogenen Menge Tränen  entlockte - sie
ins Herz trifft! Glauben Sie denn, man hätte nicht längst  sämtliche Theater
mit   Feuer  und  Schwert   ausgetilgt,   wenn   es  anders  wäre?  An   der
Sentimentalität  erkennt  man  die  Kanaille.  Tausende  armer Teufel können
verhungern, da wird nicht geweint, aber wenn ein Schminkkamel auf der Buhne,
als Bauerntrampel  verkleidet, die Augen verdreht,  dann heulen  sie wie die
Schloßhunde. - -  Wenn Väterchen Wassertrum vielleicht auch morgen vergessen
hat,  was ihm soeben  noch  - Herzjauche kostete:  jedes meiner  Worte  wird
wieder  in ihm  lebendig werden, wenn die Stunden  reifen, wo er sich selbst
unendlich bedauernswert vorkommt. - In solchen Momenten des großen Misereres
bedarf es bloß eines leisen Anstoßes, -  und für den werde  ich sorgen - und
selbst  die feigste Pfote  greift nach dem Gift. Es  muß nur zur Hand  sein!
Theodorchen hätte wahrscheinlich auch nicht zugegrapst, wenn ich's ihm nicht
so bequem gemacht hätte."
     "Charousek,  Sie  sind ein  furchtbarer  Mensch",  rief  ich  entsetzt.
"Empfinden Sie denn gar kein - - -"
     Er hielt mir schnell den Mund zu und drängte mich in eine Mauernische!
     "Still! Da ist er!"
     Mit taumelnden Schritten, sich an der Wand stützend, kam Wassertrum die
Stiege herunter und wankte an uns vorüber.
     Charousek schüttelte mir fluchtig die Hand und schlich ihm nach. - -
     Als ich in mein Zimmer zurückgekehrt war, sah ich, daß die Rose und das
Fläschchen verschwunden waren und an ihrer Stelle die goldene, zerbeulte Uhr
des Trödlers auf dem Tisch lag.
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     "Acht Tage müsse ich warten, ehe  ich mein Geld bekommen  könne; es sei
das die übliche Kündigungsfrist", hatte man mir auf der Bank gesagt.
     Man solle den Direktor holen, denn ich sei in größter Eile und gedächte
in einer Stunde abzureisen, hatte ich eine Ausrede gebraucht.
     Er sei nicht zu sprechen und könne an den Gepflogenheiten der Bank auch
nichts  ändern,  hieß es, und ein  Kerl mit einem Glasauge, der zugleich mit
mir an den Schalter getreten war, hatte darüber gelacht.
     Acht graue, furchtbare Tage auf den Tod sollte ich also warten!
     Wie ein Zeitraum ohne Ende kam es mir vor. - - -
     Ich  war so niedergeschlagen, daß ich mir gar  nicht bewußt wurde,  wie
lange ich schon  vor der  Türe eines Kaffeehauses auf und nieder geschritten
sein mochte.
     Endlich trat ich ein, bloß  um  den widerwärtigen Kerl mit dem Glasauge
los zu werden,  der mir von der Bank her nachgekommen war und sich immer  in
meiner  Nähe  hielt  und,  wenn  ich  ihn  anblickte, sofort auf  dem  Boden
herumsuchte, als habe er etwas verloren.
     Er  hatte  einen  hellkarierten,  viel zu engen Rock  an und  schwarze,
speckglänzende  Hosen, die  ihm  wie  Säcke um  die  Beine schlotterten. Auf
seinem linken Stiefel war ein  eiförmiger, gewölbter Lederfleck aufgesteppt,
daß es aussah, als trüge er darunter einen Siegelring auf der Zehe.
     Kaum hatte ich mich niedergesetzt, kam auch  er herein und ließ sich an
einem Nebentisch nieder.
     Ich glaubte,  er wolle mich  anbetteln, und  suchte  schon  nach meinem
Portemonnai,  da  sah  ich  einen  großen  Brillanten  an  seinen  wulstigen
Metzgerfingern aufblitzen.
     Stunden und Stunden saß ich in  dem Kaffeehaus und glaubte vor  innerer
Nervosität wahnsinnig werden zu müssen,  - aber wohin sollte ich gehen? Nach
Hause? Herumschlendern? Eines schien mir gräßlicher als das andere.
     Die veratmete  Luft, das ewige,  alberne Klappen der Billardkugeln, das
trockene,  unaufhörliche  Gerausper  eines  halbblinden  Zeitungstigers  mir
gegenüber, ein storchbeiniger Infanteneleutnant, der abwechselnd in der Nase
bohrte oder sich mit gelben Zigarettenfingern  vor einem  Taschenspiegel den
Schnurrbart kämmte, ein braunsammetenes Gebrodel ekelhafter,  verschwitzter,
schnatternder  Italiener  um  den  Kartentisch in der Ecke,  die  bald unter
gellem Gekreisch  ihre Trumpfe mit dem Faustknochel hinschlugen, bald  unter
Brecherscheinungen ins Zimmer  spuckten. Und  das alles in den  Wandspiegeln
doppelt und  dreifach sehen zu müssen! Es sog mir  langsam das Blut aus  den
Adern. -
     Es wurde  allmählich dunkel  und ein plattfußiger, knieweicher  Kellner
tastete mit einer Stange nach den Gaslüstern, um sich endlich kopfschüttelnd
zu überzeugen, daß sie nicht brennen wollten.
     So oft  ich das Gesicht wandte,  immer  begegnete  ich  dem schielenden
Wolfsblick des Glasäugigen, der sich dann jedesmal rasch hinter eine Zeitung
versteckte oder seinen schmutzigen Schnurrbart  in die langst  ausgetrunkene
Kaffeetasse tauchte.
     Er hatte seinen steifen, runden Hut tief aufgestülpt, daß ihm die Ohren
fast waagerecht abstanden, machte aber keine Miene, aufzubrechen.
     Es war nicht mehr auszuhalten.
     Ich zahlte und ging.
     Als ich die Glastür hinter mir  zumachen  wollte, nahm mir  jemand  die
Klinke aus der Hand - Ich drehte mich um:
     Wieder der Kerl!
     Ärgerlich wollte  ich nach links biegen, in der Richtung der Judenstadt
zu, da drängte er sich an meine Seite und hinderte mich daran.
     "Da hört denn doch alles auf!" schrie ich ihn an.
     "Nach rechts geht's," sagte er kurz.
     "Was soll das heißen?"
     Er fixierte mich frech:
     "Sie sind der Pernath!"
     "Sie wollen wahrscheinlich sagen: Herr Pernath?"
     Er lachte nur hämisch:
     "Alsdann keine Faxen jetz! Sie gah'n Sie mit!"
     "Ja, sind Sie toll? Wer sind Sie eigentlich?", fuhr ich auf.
     Er gab keine Antwort, schlug seinen Rock zurück  und zeigte  vorsichtig
auf einen abgeschabten Blechadler, der im Futter festgesteckt war.
     Ich begriff: der Falott war Geheimpolizist und verhaftete mich.
     "So sagen Sie doch, um Himmels willen, was ist denn los?"
     "Sie werden sich's  schonn erfahrrähn. Auf  dem Däpartemänt", erwiderte
er grob. "Alla marsch jetz!"
     Ich schlug ihm vor, ich wollte einen Wagen nehmen.
     "Nix da!"
     Wir gingen zur Polizei.
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     Ein Gendarm führte mich vor eine Tür.
     ALOIS OTSCHIN
     Polizeirat
     las ich auf der Porzellantafel.
     "Sie kännen sich einträtten", sagte der Gendarm.
     Zwei schmierige Schreibtische mit meterhohen Aufsätzen standen einander
gegenüber.
     Ein paar verkraxte Stühle dazwischen.
     Das Bild des Kaisers an der Wand.
     Ein Glas mit Goldfischen auf dem Fensterbrett.
     Sonst nichts im Zimmer.
     Ein Klumpfuß und daneben ein  dicker Filzschuh unter zerfransten grauen
Hosen hinter dem linken Schreibpult.
     Ich  hörte  rascheln.  Jemand  murmelte  ein paar Worte  in  böhmischer
Sprache  und  gleich darauf  tauchte  der  Herr Polizeirat aus  dem  rechten
Schreibtisch auf und trat vor mich hin.
     Er war ein  kleiner Mann mit grauem Spitzbart  und hatte die sonderbare
Manier, bevor er anfing zu reden, die Zähne  zu fletschen wie jemand, der in
grelles Sonnenlicht schaut.
     Dabei kniff er  die  Augen hinter den Brillenglasern  zusammen, was ihm
den Ausdruck furchterregender Niedertracht verlieh.
     "Sie heißen  Athanasius Pernath  und sind"  - er blickte auf  ein Blatt
Papier, auf dem nichts stand - "Gemmenschneider."
     Sofort  kam Leben in den Klumpfuß unter dem  anderen  Schreibtisch:  er
wetzte sich an dem Stuhlbein, und ich hörte das Rauschen einer Schreibfeder.
     Ich bejahte:
     "Pernath. Gemmenschneider."
     "No, da  sin  wir ja  gleich beisammen, Herr  - -  -  Pernath, - jawohl
Pernath. Ja  wohl  ja."  -  Der  Herr Polizeirat war  mit  einem Schlag  von
erstaunlicher Liebenswürdigkeit,  als  hätte er die erfreulichste  Nachricht
von der Welt bekommen, streckte mir beide Hände entgegen und bemühte sich in
lächerlicher Weise, die Miene eines Biedermannes aufzusetzen.
     "Also, Herr Pernath,  erzählen Sie mir einmal,  was treiben Sie so  den
ganzen Tag?"
     "Ich glaube,  daß Sie das nichts angeht, Herr  Otschin", antwortete ich
kalt.
     Er kniff die Augen zusammen, wartete einen Moment und fuhr blitzschnell
los:
     "Seit wann hat die Gräfin ihr Verhältnis mit dem Savioli?"
     Ich war auf  etwas Ähnliches gefaßt gewesen  und zuckte  nicht  mit der
Wimper.
     Er suchte mich geschickt durch Kreuz- und Querfragen in Widersprüche zu
verwickeln, aber, so sehr mir auch vor Entsetzen das Herz  im  Halse schlug,
ich verriet mich nicht und kam immer wieder darauf zurück, daß ich den Namen
Savioli nie gehört  hätte, mit Angelina von meinem Vater her befreundet sei,
und daß sie schon öfter Kameen bei mir bestellt habe.
     Ich fühlte trotzdem  genau,  daß der Polizeirat mir ansah, wie  ich ihn
belog,  und  innerlich  schäumte vor Wut, nichts  aus mir  herausbekommen zu
können.
     Er dachte eine  Weile nach, dann zog er  mich am  Rock dicht  an  sich,
deutete warnend mit dem Daumen auf den linken Schreibtisch und flüsterte mir
ins Ohr:
     "Athanasius! Ihr  seliger  Vater war mein bester  Freund. Ich  will Sie
retten, Athanasius! Aber Sie müssen mir alles sagen über die Gräfin. - Hören
Sie: alles."
     Ich begriff nicht, was das  bedeuten sollte. "Was meinen Sie damit: Sie
wollen mich retten?", fragte ich laut.
     Der Klumpfuß  stampfte ärgerlich  auf den  Boden.  Der Polizeirat wurde
aschgrau im Gesicht vor Haß. Zog die Lippe empor. Wartete.  - Ich wußte, daß
er gleich wieder losspringen würde;  (sein Verblüffungssystem erinnerte mich
an  Wassertrum)  und wartete  ebenfalls,  - sah,  daß ein  Bocksgesicht, der
Inhaber des Klumpfußes, lauernd hinter dem Schreibpulte  auftauchte - - dann
schrie mich der Polizeirat plötzlich gellend an:
     "Mörder".
     Ich war sprachlos vor Verblüffung.
     Mißmutig zog sich das Bocksgesicht wieder hinter sein Pult zurück.
     Auch der  Herr Polizeirat  schien ziemlich  betreten  über  meine Ruhe,
versteckte es  aber  geschickt,  indem  er einen Stuhl  herbeizog  und  mich
aufforderte, Platz zu nehmen.
     "Sie verweigern also, über  die Gräfin die von  mir gewünschte Auskunft
zu geben, Herr Pernath?"
     "Ich kann sie nicht geben,  Herr Polizeirat,  wenigstens nicht  in  dem
Sinne, wie Sie erwarten. Erstens kenne  ich niemand namens Savioli, und dann
bin ich felsenfest überzeugt,  daß  es  eine Verleumdung ist,  wenn man  der
Gräfin nachsagt, sie hintergehe ihren Gatten."
     "Sind Sie bereit, das zu beeiden?"
     Mir stockte der Atem. "Ja! Jederzeit."
     "Gut. Hm."
     Eine  längere  Pause  entstand,   während  der  Polizeirat  angestrengt
nachzugrübeln schien.
     Als  er  mich  wieder  anblickte, lag  ein  komödiantenhafter  Zug  von
Schmerzlichkeit  in  seiner  Fratze. Unwillkürlich  mußte  ich  an Charousek
denken, wie er dann mit tränenerstickter Stimme anfing:
     "Mir können Sie  es doch  sagen,  Athanasius, - mir, dem  alten  Freund
Ihres Vaters -  mir,  der Sie auf den  Armen getragen  hat -" ich konnte das
Lachen kaum verbeißen:  er war höchstens zehn Jahre  älter als ich -  "nicht
wahr, Athanasius, es war Notwehr?"
     Das Bocksgesicht erschien abermals.
     "Was war Notwehr?", fragte ich verständnislos.
     "Das mit dem - - - Zottmann!" schrie mir der Polizeirat einen Namen ins
Gesicht.
     Das Wort traf mich wie ein Dolchstich: Zottmann! Zottmann! Die Uhr! Der
Name Zottmann stand doch in der Uhr eingraviert.
     Ich fühlte,  wie  mir alles Blut  zum Herzen  strömte:  Der grauenhafte
Wassertrum hatte mir die Uhr gegeben, um den Verdacht des Mordes auf mich zu
lenken.
     Sofort warf der Polizeirat die Maske ab, fletschte  die Zähne und kniff
die Augen zusammen:
     "Sie gestehen also den Mord ein, Pernath?"
     "Das ist alles ein Irrtum.  Ein entsetzlicher Irrtum.  Um Gottes willen
hören Sie mich an. Ich kann es Ihnen erklären, Herr Polizeirat - -!", schrie
ich.
     "Werden Sie mir jetzt alles  mitteilen  in bezug  auf die Frau Gräfin",
unterbrach  er  mich rasch: "ich mache Sie aufmerksam: Sie  verbessern  Ihre
Lage damit."
     "Ich  kann nicht  mehr sagen, als bereits geschehen ist: die Gräfin ist
unschuldig."
     Er biß die Zähne zusammen und wandte sich an das Bocksgesicht:
     "Schreiben   Sie:  -   Also,   Pernath   gesteht   den   Mord  an   dem
Versicherungsbeamten Karl Zottmann ein."
     Mich packte eine besinnungslose Wut.
     "Sie Polizeikanaille!" brüllte ich los, "was unterstehen Sie sich?!"
     Ich suchte nach einem schweren Gegenstand.
     Im  nächsten  Augenblick  hatten mich  zwei Schutzleute gepackt und mir
Handschellen angelegt.
     Der Polizeirat blähte sich jetzt wie der Hahn auf dem Mist:
     "Und die Uhr da?", - er hielt plötzlich die  verbeulte Uhr in der Hand,
- "hat  der  unglückliche Zottmann noch gelebt, als Sie  ihn beraubten, oder
nicht?"
     Ich  war  wieder  ganz ruhig geworden  und gab  mit  klarer  Stimme  zu
Protokoll: "Die Uhr hat  mir  heute vormittag der Trödler Aaron Wassertrum -
geschenkt."
     Ein  wieherndes Gelächter brach los,  und ich sah, wie der Klumpfuß und
der  Filzpantoffel  mitsammen  einen  Freudentanz  unter  dem   Schreibtisch
aufführten.

     Die  Hände  gefesselt,   hinter  mir  ein  Gendarm  mit  aufgepflanztem
Bajonett, mußte ich durch die abendlich beleuchteten Straßen gehen.
     Gassenjungen  zogen in Scharen  johlend  links und  rechts  mit, Weiber
rissen die  Fenster auf, drohten  mit  Kochlöffeln  herunter  und schimpften
hinter mir drein.
     Schon von weitem sah ich  den massigen Steinwürfel des Gerichtsgebäudes
mit der Inschrift auf dem Giebel herannahen:
     "Die strafende Gerechtigkeit ist die Beschirmung aller Braven."
     Dann nahm mich ein riesiges Tor auf und ein Flurzimmer, in  dem es nach
Küche stank.
     Ein vollbärtiger Mann mit Säbel, Beamtenrock und -mütze, barfuß und die
Beine  in langen, um die Knöchel zusammengebundenen  Unterhosen,  stand auf,
stellte  die  Kaffeemühle,  die er zwischen den Knien hielt, weg  und befahl
mir, mich auszuziehen.
     Dann visitierte er meine Taschen, nahm alles heraus, was er darin fand,
und fragte mich, ob ich - Wanzen hätte.
     Als  ich verneinte, zog er mir die Ringe von den Fingern und sagte,  es
sei gut, ich könnte mich wieder ankleiden.
     Man  führte mich  mehrere Stockwerke  hinauf und durch  Gänge, in denen
vereinzelt  große,  graue,  verschließbare   Kisten  in  den  Fensternischen
standen.
     Eiserne Türen mit Riegelstangen und kleinen, vergitterten Ausschnitten,
über jedem eine  Gasflamme,  zogen  sich in  ununterbrochener Reihe die Wand
entlang.
     Ein  hünenhafter, soldatisch  aussehender Gefangenwärter  -  das  erste
ehrliche Gesicht  seit  Stunden - sperrte eine der Türen auf, schob  mich in
eine dunkle, schrankartige, pestilenzialisch stinkende  Öffnung  und  schloß
hinter mir ab.
     Ich stand in vollkommener Finsternis und tappte mich zurecht.
     Mein Knie stieß an einen Blechkübel.
     Endlich erwischte ich - der Raum war so eng, daß ich mich kaum umdrehen
konnte - eine Klinke, und stand in - einer Zelle.
     Je zwei und zwei Pritschen mit Strohsäcken an den Mauern.
     Der Durchgang dazwischen nur einen Schritt breit.
     Ein  Quadratmeter Gitterfenster hoch  oben  in der  Querwand  ließ  den
matten Schein des Nachthimmels herein.
     Unerträgliche Hitze, vom Geruch alter Kleider verpestete  Luft erfüllte
den Raum.
     Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, daß auf
drei  der  Pritschen  -  die   vierte  war   leer  -  Menschen   in   grauen
Sträflingskleidern  saßen; die  Arme auf die Knie gestützt und die Gesichter
in den Händen vergraben.
     Keiner sprach ein Wort.
     Ich setzte mich auf das leere Bett und wartete. Wartete. Wartete.
     Eine Stunde.
     Zwei - drei Stunden!
     Wenn ich draußen einen Schritt zu hören glaubte, fuhr ich auf:
     Jetzt,  jetzt kam  man mich  holen,  um  mich  dem Untersuchungsrichter
vorzuführen.
     Jedesmal war es eine  Täuschung gewesen. Immer wieder verloren sich die
Schritte auf dem Gang.
     Ich riß mir den Kragen auf - glaubte, ersticken zu müssen.
     Ich hörte, wie ein Gefangener nach dem andern sich ächzend ausstreckte.
     "Kann man denn das Fenster  da oben  nicht aufmachen?", fragte ich voll
Verzweiflung laut  in  die Dunkelheit hinein. Ich  erschrak fast  vor meiner
eigenen Stimme.
     "Es geht net", antwortete es mürrisch von einem der Strohsäcke herüber.
     Ich tastete trotzdem mit der Hand an der Schmalwand entlang:  ein Brett
in  Brusthöhe  lief quer  hin  -  - - zwei  Wasserkrüge  -  -  -  Stücke von
Brotrinden.
     Mühsam kletterte ich hinauf, hielt mich  an den Gitterstäben und preßte
das Gesicht an die Fensterritzen, um wenigstens etwas frische Luft zu atmen.
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     So stand ich,  bis  mir die  Knie zitterten. Eintöniger,  schwarzgrauer
Nachtnebel vor meinen Augen.
     Die kalten Eisenstäbe schwitzten.
     Es mußte bald Mitternacht sein.
     Hinter mir  hörte ich schnarchen. Nur einer  schien  nicht  schlafen zu
können: er warf sich hin und her auf dem Stroh und stöhnte manchmal halblaut
auf.
     Wollte denn der Morgen nicht endlich kommen?! Da! Es schlug wieder.
     Ich zählte mit bebenden Lippen:
     Eins, zwei, drei! - Gott sei Dank, nur noch wenige Stunden,  dann mußte
die Dämmerung kommen. Es schlug weiter:
     Vier? fünf? - Der Schweiß trat mir  auf die Stirn. - Sechs!! - Sieben -
- - es war elf Uhr.
     Erst eine Stunde war vergangen, seit ich das letzte  Mal hatte schlagen
hören.
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     Allmählich legten sich meine Gedanken zurecht:
     Wassertrum hat mir  die Uhr  des vermißten Zottmann zugespielt, um mich
in Verdacht zu bringen, einen Mord begangen zu haben. - Er mußte also selbst
der  Mörder sein; wie hätte er sonst  in den Besitz  der Uhr  kommen können?
Würde er  die Leiche irgendwo gefunden und dann erst beraubt haben, hätte er
sich bestimmt die  tausend Gulden Belohnung  geholt, die  für die Entdeckung
des Vermißten öffentlich ausgesetzt waren. - Das konnte aber nicht sein: die
Plakate klebten  noch immer an den Straßenecken, wie ich deutlich auf meinem
Weg ins Gefängnis gesehen hatte. - - -
     Daß der Trödler mich angezeigt haben mußte, war klar.
     Ebenso:  daß  er  mit  dem  Polizeirat, wenigstens was Angelina betraf,
unter einer Decke steckte. Wozu sonst das Verhör wegen Savioli?
     Andererseits ging daraus hervor,  daß  Wassertrum Angelinas Briefe noch
nicht in Händen hatte.
     Ich grübelte nach - - -
     Mit einem Schlag stand  alles mit  entsetzlicher Deutlichkeit  vor mir,
als wäre ich selbst dabei gewesen.
     Ja; nur so konnte es sein: Wassertrum hatte meine eiserne  Kassette, in
der  er Beweise  vermutete, heimlich an sich  genommen,  als er  gerade  mit
seinen  Polizeikomplizen meine Wohnung  durchstöberte,  - konnte  sie  nicht
sogleich öffnen, da ich den Schlüssel bei mir trug, und war - - - vielleicht
gerade jetzt daran, sie in seiner Höhle aufzubrechen.
     In  wahnsinniger  Verzweiflung  rüttelte  ich an den Gitterstäben,  sah
Wassertrum im Geiste vor mir, wie er in Angelinas Briefen wühlte -
     Wenn   ich  nur  Charousek  benachrichtigen  könnte,  daß   er  Savioli
wenigstens rechtzeitig warnen ging!
     Einen Augenblick klammerte ich mich  an die  Hoffnung, meine Verhaftung
müsse bereits wie ein Lauffeuer in der Judenstadt bekannt geworden sein, und
ich  vertraute auf Charousek wie  auf  einen  rettenden Engel.  Gegen  seine
infernalische Schlauheit kam der Trödler nicht auf; "Ich werde ihn  genau in
der  Stunde  an der  Gurgel haben, in der er  Dr. Savioli an den Hals will",
hatte Charousek schon einmal gesagt.
     In der nächsten Minute wieder verwarf  ich alles, und eine  wilde Angst
packte mich: Wie, wenn Charousek zu spät kam?
     Dann war Angelina verloren. - - -
     Ich  biß mir die  Lippen blutig und zerkrallte mir die  Brust aus Reue,
daß ich die Briefe damals nicht sofort verbrannt hatte; -  - - ich schwor es
mir zu, Wassertrum noch in derselben Stunde aus der Welt zu schaffen, wo ich
wieder auf freiem Fuß sein würde.
     Ob ich von eigener Hand starb oder am Galgen - was lag mir daran!
     Daß  der Untersuchungsrichter meinen Worten glauben würde, wenn ich ihm
die Geschichte mit der Uhr  plausibel machte, ihm von Wassertrums  Drohungen
erzählte, - keinen Augenblick zweifelte ich daran.
     Bestimmt morgen  schon mußte ich frei sein; zumindest würde das Gericht
auch Wassertrum wegen Mordverdachts verhaften lassen.
     Ich zählte die Stunden und betete, daß  sie rascher  vergehen  möchten;
starrte hinaus in den schwärzlichen Dunst.
     Nach  unsäglich  langer  Zeit fing es endlich an, heller zu werden, und
zuerst  wie ein dunkler Fleck, dann immer deutlicher, tauchte ein kupfernes,
riesiges Gesicht  aus  dem Nebel: das Zifferblatt einer  alten Turmuhr. Doch
die Zeiger fehlten; - neuerliche Qual.
     Dann schlug es fünf.
     Ich hörte, wie  die Gefangenen erwachten und  gähnend eine Unterhaltung
in böhmischer Sprache führten.
     Eine Stimme kam  mir  bekannt  vor; ich  drehte mich um, stieg von  dem
Brett  herunter  und  -  sah  den blatternarbigen  Loisa auf  der  Pritsche,
gegenüber der meinigen, sitzen und mich verwundert anstarren.
     Die  beiden  anderen  waren  Gesellen  mit  verwegenen  Gesichtern  und
musterten mich geringschätzig.
     "Defraudant? Was?", fragte der eine halblaut seinen Kameraden und stieß
ihn mit dem Ellenbogen an.
     Der  Gefragte  brummte  irgend  etwas  verächtlich,  kramte  in  seinem
Strohsack, holte ein schwarzes Papier hervor und legte es auf den Boden.
     Dann schüttete er aus dem Krug ein  wenig Wasser darauf, kniete nieder,
bespiegelte sich darin  und  kämmte  sich  mit den Fingern das Haar  in  die
Stirn.
     Hierauf  trocknete  er  das  Papier  mit  zärtlicher  Sorgfalt  ab  und
versteckte es wieder unter der Pritsche.
     "Pan  Pernath,  Pan   Pernath",  murmelte  Loisa  dabei  beständig  mit
aufgerissenen Augen vor sich hin, wie jemand, der ein Gespenst sieht.
     "Die  Herrschaften  kennen  einand,  wie  ich   bemerkö",   sagte   der
Ungekämmte,   dem   dies  auffiel,   in  dem   geschraubten  Dialekt   eines
tschechischen  Wieners  und machte  mir  spöttisch  eine  halbe  Verbeugung:
"Erlaubens mich vorzustellen: Vóssatka ist mein Name. Der schwarze Vóssatka.
- Brandstiftung", setzte er eine Oktave tiefer stolz hinzu.
     Der Frisierte spuckte  zwischen den  Zähnen durch,  blickte  mich  eine
Weile verächtlich an, deutete sich dann auf die Brust und sagte lakonisch:
     "Einbruch."
     Ich schwieg.
     "No, und zweng wos für einen Verdachtö sin Sie hier, Herr Graf?" fragte
der Wiener nach einer Pause.
     Ich überlegte einen Moment, dann sagte ich ruhig: "Wegen Raubmord".
     Die beiden  fuhren verblüfft  auf, der  spöttische  Ausdruck  auf ihren
Gesichtern machte einer Miene grenzenloser Hochachtung Platz, und sie riefen
fast wie aus einem Munde:
     "Räschpäkt, Räschpäkt."
     Als sie sahen, daß ich keine Notiz  von ihnen nahm,  zogen sie sich  in
die Ecke zurück und unterhielten sich flüsternd miteinander.
     Nur einmal stand  der Frisierte  auf, kam zu mir, prüfte schweigend die
Muskeln meines  Oberarms und  ging  dann  kopfschüttelnd  zu  seinem  Freund
zurück.
     "Sie sind doch auch unter  dem Verdacht hier, den  Zottmann ermordet zu
haben?" fragte ich Loisa unauffällig.
     Er nickte. "Ja, schon lang."
     Wieder vergingen einige Stunden.
     Ich schloß die Augen und stellte mich schlafend.
     "Herr  Pernath. Herr Pernath!" hörte  ich  plötzlich ganz  leise Loisas
Stimme.
     "Ja?" - - - Ich tat, als erwachte ich.
     "Herr  Pernath?, bitte entschuldigen Sie,  - bitte - bitte, wissen  Sie
nicht, was  die  Rosina macht?  -  Ist sie zu  Hause?", stotterte  der  arme
Bursche. Er tat  mir unendlich leid, wie er mit seinen entzündeten  Augen an
meinen Lippen hing und vor Aufregung die Hände verkrampfte.
     "Es geht ihr gut. Sie - sie ist jetzt Kellnerin beim - - alten Ungelt",
log ich.
     Ich sah, wie er erleichtert aufatmete.
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     Zwei Sträflinge hatten auf einem Brett Blechtöpfe mit heißem Wurstabsud
stumm hereingebracht  und drei davon in  die Zelle  gestellt,  dann knallten
nach einigen Stunden abermals  die  Riegel und der Aufseher führte  mich zum
Untersuchungsrichter.
     Mir schlotterten die  Knie  vor  Erwartung,  wie wir  treppauf, treppab
schritten.
     "Glauben Sie, ist es möglich, daß ich  heute noch freigelassen werde?",
fragte ich den Aufseher beklommen.
     Ich sah, wie er mitleidig ein Lächeln unterdrückte. "Hm. Heute noch? Hm
- - Gott, - möglich ist ja alles." -
     Mir wurde eiskalt.
     Wieder las ich eine Porzellantafel an einer Tür und einen Namen:


     Wieder  ein  schmuckloses  Zimmer und zwei  Schreibpulte mit meterhohen
Aufsätzen.
     Ein  alter,  großer  Mann mit  weißem,  geteiltem  Vollbart,  schwarzem
Gehrock, roten, wulstigen Lippen, knarrenden Stiefeln.
     "Sie sind Herr Pernath?"
     "Jawohl."
     "Gemmenschneider?"
     "Jawohl."
     "Zelle Nr. 70?"
     "Jawohl."
     "Des Mordes an Zottmann verdächtig?"
     "Ich bitte, Herr Untersuchungsrichter - -"
     "Des Mordes an Zottmann verdächtig?"
     "Wahrscheinlich. Wenigstens vermute ich es. Aber - -"
     "Geständig?"
     "Was  soll  ich denn gestehen, Herr Untersuchungsrichter, ich  bin doch
unschuldig!"
     "Geständig?"
     "Nein."
     "Dann  verhänge ich Untersuchungshaft über Sie. -  Führen Sie den  Mann
hinaus, Gefangenwärter."
     "Bitte, so hören Sie mich doch an, Herr Untersuchungsrichter, - ich muß
unbedingt heute noch zu Hause sein. Ich habe wichtige Dinge zu veranlassen -
-"
     Hinter dem zweiten Schreibtisch meckerte jemand.
     Der Herr Baron schmunzelte. -
     "Führen Sie den Mann hinaus, Gefangenwärter."
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     Tag um Tag schlich dahin, Woche um Woche, und immer noch saß ich in der
Zelle.
     Um zwölf Uhr  durften wir täglich hinunter in den  Gefängnishof und mit
anderen Untersuchungsgefangenen und Sträflingen zu zweit 40 Minuten im Kreis
herumgehen auf der nassen Erde.
     Miteinander zu reden, war verboten.
     In der Mitte des Platzes stand ein  kahler, sterbender Baum, in  dessen
Rinde ein ovales Glasbild der Muttergottes eingewachsen war.
     An  den  Mauern  wuchsen kümmerliche Ligusterstauden, die  Blätter fast
schwarz vom fallenden Ruß.
     Ringsum die  Gitter  der  Zellen, aus  denen  zuweilen  ein  kittgraues
Gesicht mit blutleeren Lippen herunterschaute.
     Dann ging's  wieder hinauf in die gewohnten  Grüfte zu Brot, Wasser und
Wurstabsud und sonntags zu faulenden Linsen.
     Erst einmal war ich wieder vernommen worden:
     Ob  ich  Zeugen  hätte,  daß mir  "Herr"  Wassertrum angeblich  die Uhr
geschenkt habe?
     "Ja: Herrn Schemajah Hillel  - - das heißt - nein" (ich erinnerte mich,
er  war nicht dabei gewesen) - - "aber Herr Charousek" - (nein, auch er  war
ja nicht dabei).
     "Kurz: also niemand war dabei?"
     "Nein, niemand war dabei, Herr Untersuchungsrichter."
     Wieder das Gemecker hinter dem Schreibtisch und wieder das:
     "Führen Sie den Mann hinaus, Gefangenwärter!" - - -
     Meine Besorgnis um Angelina war einer dumpfen Resignation gewichen: Der
Zeitpunkt, wo ich um sie zittern  mußte,  war vorüber. Entweder  Wassertrums
Racheplan war längst geglückt, oder Charousek hatte eingegriffen, sagte  ich
mir.
     Aber die Sorge um Mirjam trieb mich jetzt fast zum Wahnsinn.
     Ich stellte mir vor,  wie sie Stunde um Stunde darauf wartete, daß sich
das  Wunder  erneuere,  -  wie  sie früh am  Morgen,  wenn  der Bäcker  kam,
hinauslief  und  mit  bebenden  Händen  das  Brot  untersuchte,  -  wie  sie
vielleicht um meinetwillen vor Angst verging.
     Oft  in  der Nacht peitschte es mich aus dem Schlaf, und ich  stieg auf
das  Wandbrett und starrte empor zu  dem  kupfernen  Gesicht der Turmuhr und
verzehrte  mich in dem Wunsch, meine Gedanken möchten zu Hillel  dringen und
ihm ins Ohr  schreien, er solle Mirjam  helfen  und sie erlösen von der Qual
des Hoffens auf ein Wunder.
     Dann wieder warf ich mich auf das Stroh und hielt den Atem an, bis  mir
die Brust fast  zersprang, -  um das  Bild meines  Doppelgängers vor mich zu
zwingen, damit ich ihn zu ihr schicken könnte als einen Trost.
     Und  einmal  war  er  auch  erschienen  neben  meinem  Lager  mit   den
Buchstaben: Chabrat Zereh  Aur  Bocher in Spiegelschrift auf der Brust,  und
ich wollte aufschreien vor Jubel, daß jetzt alles wieder gut würde,  aber er
war in den Boden versunken, noch ehe ich ihm den Befehl geben konnte, Mirjam
zu erscheinen. - - -
     Daß ich so gar keine Nachricht bekam von meinen Freunden!
     Ob  es denn verboten sei,  einem Briefe zu  schicken? fragte ich  meine
Zellengenossen.
     Sie wußten es nicht.
     Sie hätten noch nie welche bekommen - allerdings wäre  auch niemand da,
der ihnen schreiben könnte, sagten sie.
     Der Gefangenwärter versprach mir, sich gelegentlich zu erkundigen.
     Meine  Nägel  waren  rissig  geworden   vom  Abbeißen   und  mein  Haar
verwildert, denn Schere, Kamm und Bürste gab es nicht.
     Auch kein Wasser zum Waschen.
     Fast ununterbrochen kämpfte  ich mit Brechreiz, denn der Wurstabsud war
mit  Soda gewürzt  statt  mit Salz.  - -  Eine  Gefängnisvorschrift, um  dem
"Überhandnehmen des Geschlechtstriebs vorzubeugen."
     Die Zeit verging in grauer, furchtbarer Eintönigkeit.
     Drehte sich wie im Kreis wie ein Rad der Qual.
     Da gab es die gewissen  Momente, die jeder von uns kannte, wo plötzlich
einer oder der andere aufsprang und stundenlang auf und nieder lief  wie ein
wildes Tier, um sich dann wieder gebrochen auf die Pritsche fallen zu lassen
und stumpfsinnig weiter zu warten - zu warten - zu warten.
     Wenn der Abend kam, zogen die Wanzen in Scharen gleich Ameisen über die
Wände  und  ich  fragte mich  erstaunt, warum denn der  Kerl  in  Säbel  und
Unterhosen mich  so gewissenhaft ausgeforscht  habe, ob ich kein  Ungeziefer
hätte.
     Fürchtete  man  vielleicht  im Landesgericht,  es  könne  eine Kreuzung
fremder Insektenrassen entstehen?
     Mittwoch  vormittags  kam  gewöhnlich  ein   Schweinskopf   herein  mit
Schlapphut  und zuckenden Hosenbeinen: der Gefängnisarzt Dr. Rosenblatt, und
überzeugte sich, daß alle vor Gesundheit strotzten.
     Und wenn einer sich beschwerte, gleichgültig worüber, so verschrieb  er
- Zinksalbe zum Einreiben der Brust.
     Einmal  kam auch der  Landgerichtspräsident  mit - ein hochgewachsener,
parfümierter Halunke der "guten Gesellschaft",  dem die gemeinsten Laster im
Gesicht geschrieben standen,  und sah nach, ob - alles  in  Ordnung sei: "ob
sich noch immer kaner derhenkt hobe", wie sich der Frisierte ausdrückte.
     Ich war auf ihn zugetreten, um ihm  eine Bitte vorzutragen, da hatte er
einen  Satz  hinter  den  Gefangenwärter  gemacht  und  mir  einen  Revolver
vorgehalten. - "Was ich denn wolle", schrie er mich an.
     Ob Briefe für  mich  da  seien, fragte ich höflich. Statt  der  Antwort
bekam  ich einen Stoß  vor die  Brust vom  Herrn Dr.  Rosenblatt, der gleich
darauf das Weite suchte. Auch der Herr Präsident zog  sich zurück und höhnte
durch den Türausschnitt:  - ich solle  lieber den Mord gestehen. Eher bekäme
ich in diesem Leben keine Briefe.
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     Ich hatte mich längst an  die  schlechte Luft und die Hitze gewöhnt und
fröstelte beständig. Selbst, wenn die Sonne schien.
     Zwei  der  Gefangenen hatten schon  einige Male  gewechselt,  aber  ich
achtete  nicht  darauf.  Diese  Woche  waren  es  ein  Taschendieb  und  ein
Wegelagerer,  das  nächste  Mal  ein  Falschmünzer  oder   ein  Hehler,  die
hereingeführt wurden.
     Was ich gestern erlebte, war heute vergessen.
     Gegen  das  Wühlen  der   Sorge  um   Mirjam  verblaßten  alle  äußeren
Begebenheiten.
     Nur ein Ereignis  hatte sich mir tiefer eingeprägt - es  verfolgte mich
zuweilen als Zerrbild bis in den Traum:
     Ich hatte  auf  dem Wandbrett gestanden,  um hinauf in  den  Himmel  zu
starren,  da fühlte  ich plötzlich,  daß mich ein spitzer Gegenstand  in die
Hüfte  stach, und  als  ich nachsah,  bemerkte ich, daß es die Feile gewesen
war, die sich  mir durch die  Tasche zwischen Rock und Futter gebohrt hatte.
Sie  mußte schon  lange dort gesteckt haben, sonst hätte sie der Mann in der
Flurstube gewiß bemerkt.
     Ich zog sie heraus und warf sie achtlos auf meinen Strohsack.
     Als  ich dann  herunterstieg, war  sie verschwunden, und ich  zweifelte
keinen Augenblick, daß nur Loisa sie genommen haben konnte.
     Einige Tage  später  holte man ihn aus  der  Zelle,  um ihn einen Stock
tiefer unterzubringen.
     Es  dürfe nicht  sein, daß zwei  Untersuchungsgefangene, die  desselben
Verbrechens beschuldigt wären, wie er und ich,  in der gleichen Zelle säßen,
hatte der Gefangenwärter gesagt.
     Aus ganzem Herzen wünschte ich, es möchte dem armen Burschen  gelingen,
sich mit Hilfe der Feile zu befreien.

     Auf meine Frage, welches Datum denn wäre - die Sonne schien so warm wie
im  Hochsommer  und der müde Baum im Hof trieb ein paar Knospen - hatte  der
Gefangenwärter zuerst  geschwiegen, dann aber mir  zugeflüstert, es  sei der
15. Mai. Eigentlich  dürfe er es nicht sagen,  denn es sei verboten, mit den
Gefangenen  zu sprechen, - insbesondere solche,  die  noch  nicht  gestanden
hätten, müßten hinsichtlich der Zeit im unklaren gehalten werden.
     Drei volle Monate war ich  also schon im Gefängnis und noch immer keine
Nachricht aus der Welt da draußen!
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     Wenn  es  Abend wurde,  drangen leise Klänge eines  Klaviers durch  das
Gitterfenster, das jetzt an warmen Tagen offen war.
     Die  Tochter  des  Beschließers  unten spiele,  hatte mir ein Sträfling
gesagt.
     Tag und Nacht träumte ich von Mirjam.
     Wie es ihr wohl ging?!
     Zuzeiten hatte ich das tröstliche  Gefühl, als seien meine  Gedanken zu
ihr gedrungen  und  stünden an ihrem Bette, während sie  schlief, und legten
ihr lindernd die Hand auf die Stirne.
     Dann wieder, in Momenten der  Hoffnungslosigkeit,  wenn einer nach  dem
andern meiner Zellengenossen  zum Verhör gefuhrt  wurde, - nur  ich nicht, -
drosselte mich eine dumpfe Furcht, sie sei vielleicht schon lange tot.
     Da stellte ich dann Fragen an  das Schicksal,  ob sie  noch  lebe  oder
nicht, krank sei oder gesund, und  die Anzahl einer Handvoll  Halme, die ich
aus dem Strohsack riß, sollte mir Antwort geben.
     Und fast jedesmal "ging  es  schlecht aus",  und ich  wühlte in  meinem
Innern  nach einem Blick in die Zukunft; - suchte  meine Seele, die  mir das
Geheimnis verbarg, zu überlisten durch die scheinbar abseits liegende Frage,
ob wohl für mich dereinst noch ein Tag kommen würde,  wo ich heiter sein und
wieder lachen könnte.
     Immer  bejahte das  Orakel in solchen  Fällen, und  dann  war ich  eine
Stunde lang glücklich und froh.
     Wie eine Pflanze heimlich wächst und sproßt, war allmählich in mir eine
unbegreifliche, tiefe  Liebe zu Mirjam erwacht, und ich faßte es  nicht, daß
ich so  oft hatte bei  ihr  sitzen und mit ihr reden können, ohne mir damals
schon klar darüber geworden zu sein.
     Der zitternde Wunsch, daß auch sie mit gleichen Gefühlen an mich denken
möchte,  steigerte  sich in  solchen  Augenblicken  oft  bis zur Ahnung  der
Gewißheit,  und  wenn  ich  dann auf dem Gange  draußen einen Schritt hörte,
fürchtete ich mich  beinahe  davor, man könnte mich holen und freilassen und
mein  Traum  würde  in  der groben  Wirklichkeit  der  Außenwelt  in  nichts
zerrinnen.
     Mein Ohr war  in  der langen Zeit der Haft so scharf  geworden, daß ich
auch das leiseste Geräusch vernahm.
     Jedesmal  bei  Anbruch  der  Nacht  hörte ich in  der Ferne einen Wagen
fahren und zergrübelte mir den Kopf, wer wohl dann sitzen möchte.
     Es lag etwas seltsam Fremdartiges in dem Gedanken,  daß es Menschen gab
da draußen, die  tun und lassen durften, was sie wollten, -  die  sich  frei
bewegen  konnten  und  da und  dort  hingehen,  und  es  dennoch  nicht  als
unbeschreiblichen Jubel empfanden.
     Daß  auch ich jemals wieder so  glücklich werden würde, im Sonnenschein
durch die Straßen wandern zu können; - - ich war nicht mehr imstande, es mir
vorzustellen.
     Der Tag, an dem ich Angelina in den Armen gehalten,  schien  mir  einem
längstverflossenen Dasein anzugehören; - ich dachte daran  zurück mit  jener
leisen Wehmut, wie sie einen beschleicht, wenn  man ein  Buch aufschlägt und
findet  dann welke Blumen, die einst  die Geliebte der Jugendjahre  getragen
hat.
     Ob wohl  der alte Zwakh  noch immer Abend für Abend mit Vrieslander und
Prokop  beim  "Ungelt" saß  und  der vertrockneten Eulalia  das  Hirn konfus
machte?
     Nein, es  war  doch Mai: - die Zeit, wo er mit seinem Marionettenkasten
durch  die Provinznester zog und  auf grünen Wiesen vor den Toren den Ritter
Blaubart spielte.
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     Ich  saß  allein  in  der Zelle. -  Vóssatka,  der  Brandstifter,  mein
einziger  Gefährte  seit   einer  Woche,  war  vor  ein  paar   Stunden  zum
Untersuchungsrichter geholt worden.
     Merkwürdig lange dauerte diesmal sein Verhör.
     Da.   Die   eiserne  Vorlegestange  klirrte   an  der   Tür.  Und   mit
freudestrahlender Miene stürmte Vóssatka herein, warf ein Bündel Kleider auf
die Pritsche und begann, sich mit Windeseile umzukleiden.
     Den  Sträflingsanzug warf er Stück  für  Stück  mit einem Fluch auf den
Boden.
     "Nix hamms mer beweisen könna, dö Hallodri. - Brandstiftung! - Ja doder
-" er zog mit dem Zeigefinger an seinem unteren Augenlid. "Auf den schwarzen
Vóssatka sans jung. -  Der Wind war's, hab i g'sagt.  Und bi fest blimm. Den
kennens iazt eispirrn, wanns'n derwischen  - den Herrn von Wind. - No servus
heit abend!  - Do werd aufdraht. Beim  Loisitschek." - Er breitete die  Arme
aus und  tanzte einen "G'strampften". - "Nur einmahl  im Leböhn blie-het der
Mai." Er stülpte sich mit einem Krach einen steifen Deckel mit einer kleinen
blaugesprenkelten Nußhäherfeder darauf über den Schädel. - "Ja, richtig, das
wird Ihna intrissirn, Herr Graf: wissens was Neies?  Eana Freund, der Loisa,
is ausbrochen! - Grad hab i's erfahrehn oben bei die Hallodri. Schon vurigen
Monat -  gegen  Uldimoh  hat  er das Weide gesucht  und  ist  längst ieber -
pbhuit" - er  schlug sich mit den Fingern auf den  Handrücken - "ieber  alle
Bergöh." -
     "Aha, die Feile", dachte ich mir und lächelte.
     "Alsdann  haltens   Ihna  jetzt  auch  bald   dazu,  Herr  Graf,"   der
Brandstifter streckte mir kameradschaftlich die Hand hin, "daß Sie möglichst
bei Zeitöhn freikommen. -  Und wenn Sie  mal kein Geld  nicht habehn, fragen
Sie  sich  nur beim  Loisitschek nach  dem schwarzen Vóssatka. - Kennte mich
jedes  Mädel  durten.  So!  -  Alsdann  Servus,  Herr  Graf.  War   mir  ein
Vergniegen."
     Er  stand noch in der  Türe,  da schob  der  Wärter schon  einen  neuen
Untersuchungsgefangenen in die Zelle.
     Auf  den  ersten   Blick  erkannte  ich  in  ihm  den  Schlot  mit  der
Soldatenmütze, der einmal  neben  mir  bei  Regenwetter in dem Torbogen  der
Hahnpaßgasse  gestanden hatte. Eine  freudige Überraschung! Vielleicht wußte
er zufällig etwas über Hillel und Zwakh und alle die andern?
     Ich wollte  sofort  anfangen, ihn auszufragen, aber zu  meinem  größten
Erstaunen  legte  er mit geheimnisvoller Miene  den Finger an  den Mund  und
bedeutete mir, ich solle schweigen.
     Erst   als  die  Tür  von  außen   abgesperrt   und  der   Schritt  des
Gefangenwärters auf dem Gange verhallt war, kam Leben in ihn.
     Mir schlug das Herz vor Aufregung.
     Was sollte das bedeuten?
     Kannte er mich denn, und was wollte er?
     Das erste, was der Schlot tat, war, daß er sich niedersetzte und seinen
linken Stiefel auszog.
     Dann zerrte er mit den Zähnen einen Stöpsel aus dem Absatz, entnahm dem
entstandenen Hohlraum  ein kleines gebogenes Eisenblech, riß die anscheinend
nur locker befestigte Schuhsohle ab und reichte mir beides mit stolzer Miene
hin. -
     Alles in  Windeseile und  ohne auf meine  erregten  Fragen auch  nur im
geringsten zu achten.
     "So! Einen schönen Gruß vom Herrn Charousek."
     Ich war so verblüfft, daß ich kein Wort herausbringen konnte. -
     "Brauchens'  bloß Eisenblechl nähmen und Sohlen ausanand brechen in der
Nacht.  Oder wann  sunst niemand siecht. -  Ise  nämlich  hohl  inewändig" -
erklärte der Schlot mit überlegener Miene,  "und finden  Sie sich drinn eine
Brieffel von Herrn Charousek."
     Im Übermaß meines Entzückens fiel ich  dem Schlot um den Hals, und  die
Tränen stürzten mir aus den Augen.
     Er wehrte mich voll Milde ab und sagte vorwurfsvoll:
     "Missen sich mehr zusammennähmen, Herr von Pernath! Mir habens me nicht
eine Minutten zum Zeitverlieren. Es  kann sich soffort herauskommen, daß ich
in  der falschen  Zellen bin. Der Franzl und  ich habens me unt beim Pordjöh
die Nummern mitsamm vertauscht." -
     Ich mußte wohl ein sehr  dummes Gesicht gemacht  haben, denn der Schlot
fuhr fort:
     "Wann Sie das  auch  nicht verstähn,  macht  nix. Kurz:  ich bin  hier,
Pasta!"
     "Sagen Sie doch," fiel ich ihm ins Wort, "sagen Sie doch, Herr - - Herr
- - -"
     "Wenzel," - half mir der Schlot aus, "ich heiße der schöne Wenzel."
     "Sagen Sie mir  doch,  Wenzel, was  macht der Archivar  Hillel, und wie
geht es seiner Tochter?"
     "Dazu ist jetz  keine Zeit  nicht", unterbrach  mich der  schöne Wenzel
ungeduldig. "Ich kann ich doch im näxen Augenblick herausgeschmissen werden.
- Also: ich bin ich hier, weil ich einen Raubanfall extra eingestanden hab -
-"
     "Was, Sie haben bloß meinetwegen, und um zu mir kommen zu können, einen
Raubanfall begangen, Wenzel?" fragte ich erschüttert.
     Der Schlot schüttelte verächtlich den  Kopf:  "Wenn ich  wirklich einen
Raub  anf all  begangen  hätt, mecht ich  ihm  doch  nicht  eingestähen. Was
glauben Sie von mir!?"
     Ich verstand allmählich: - der brave Kerl hatte eine List gebraucht, um
mir den Brief Charouseks ins Gefängnis zu schmuggeln.
     "So; zuverderscht" - er machte ein äußerst wichtiges Gesicht - "muß ich
Ihnen Unterricht in der Ebilebsie gäben."
     "Worin?"
     "In der Ebilebsie! - Gäbm S' amal  scharf Obacht und merkens Ihna alles
genau! - Alsdann schaugens här: Zuerscht macht me Speichel  in der Goschen;"
- er blies die Backen auf und bewegte sie hin und her, wie  jemand, der sich
den Mund ausspült -  "dann kriegt  me Schaum vorm Maul, sengen S' so": -  er
machte auch dies. Mit widerwärtiger  Natürlichkeit. "Nachhe  drehte  ma  die
Daumen  in  die Faust.  - Nachhe  kugelt  me  die Augen raus" - er  schielte
entsetzlich  - "und dann - das ise sich bisl schwär  - stoßt me so  halbeten
Schrei aus. Segen S',  so: Bö - bö - bö, und gleichzeitig fallt me sich um."
Er  ließ sich der Länge  nach  zu Boden fallen, daß  das  Haus zitterte, und
sagte beim Aufstehen:
     "Das  ise  sich  die natierliche  Ebilebsie, wie's uns der  Dr. Hulbert
gottsälig beim ›Bataljohn‹ gelernt hat."
     "Ja, ja,  es ist  täuschend ähnlich," gab ich zu, "aber wozu dient  das
alles?"
     "Weil  Sie sich zuerscht aus  der  Zellen  rausmissen!",  erklärte  der
schöne  Wenzel.  "Der Dr. Rosenblatt is doch ein Mordsochs! Wenn einer schon
gar  kan Kopf  mehr  hat, sagt  der Rosenblatt immer noch: der Mann ise sich
pumperlgesund! - Nur vor die Ebilebsie hat e' an Viechsräschpäkt.  Wann aner
daas gut  kann: gleich ise drieben  in der Krankenzelle. - - Und da ise sich
das Ausbrechen  dann ein Kinderspielzeug;" -  er wurde tief  geheimnisvoll -
"den  Fenstergitter  in  der  Krankenzelle ise  nämlich durchgesägt  und nur
schwach  mit  Dreck  zusammengepappt.  - Es ise sich das ein  Geheimnis  vom
Bataljohn!  - Sie  brauchen dann  bloß ein paar Nächte scharf aufpassen und,
wenn Sie eine Seilschlingen vom Dach herunter bis vors Fenster kommen segen,
heben Sie  leise  den Gitter aus, damit niemand nicht aufwacht, steckens die
Schultern in die Schlinge, und mir  ziegen Ihnen hinauf aufs Dach und lassen
Ihnen auf der andern Seiten hinunter auf die Straßen. - Pasta."
     "Weshalb  soll  ich  denn aus dem  Gefängnis  ausbrechen?"  wandte  ich
schüchtern ein, "ich bin doch unschuldig."
     "Das ise doch kein  Grund, um nicht auszubrechen!", widerlegte mich der
schöne Wenzel und machte vor Erstaunen kreisrunde Augen.
     Ich mußte  meine ganze Beredsamkeit aufbieten,  um ihm  den  verwegenen
Plan, der, wie er sagte,  das Resultat eines  "Bataillons" beschlusses  war,
auszureden.
     Daß ich  "die Gabe Gottes" von der Hand wies und  lieber warten wollte,
bis ich von selbst freikommen würde, war ihm unbegreiflich.
     "Jedenfalls  danke  ich  Ihnen  und  Ihren  braven  Kameraden  auf  das
allerherzlichste,"  sagte ich gerührt und drückte  ihm  die Hand. "Wenn  die
schwere Zeit  für  mich vorüber  ist, wird es mein erstes  sein,  mich Ihnen
allen erkenntlich zu zeigen."
     "Ise gar nicht nätig", lehnte Wenzel freundlich ab.  "Wann Sie ein paar
Glas  ›Pils‹  zahlen,  nähmen  wir  sich dankbar  an,  abe  sunst  nix.  Pan
Charousek, was ise jetz Schatzmistr vom Bataljohn hat  e' uns schon erzählt,
was Sie für ein heimlicher Wohltäter  sin. Soll ich ihm was ausrichten, wenn
ich in paar Täg wieder herauskomm?"
     "Ja, bitte," fiel  ich rasch ein, "sagen Sie ihm, er möchte  zu  Hillel
gehen und ihm mitteilen, ich hätte  soviel Angst wegen der Gesundheit seiner
Tochter Mirjam. Herr Hillel solle sie nicht aus den  Augen  lassen. - Werden
Sie sich den Namen merken?: Hillel!"
     "Hirräl?"
     "Nein: Hillel."
     "Hillär?"
     "Nein: Hill-el."
     Wenzel  zerbrach  sich  fast die  Zunge  an  dem  für  einen  Tschechen
unmöglichen  Namen,  aber  schließlich  bewältigte  er ihn doch unter wilden
Grimassen.
     "Und dann noch eins: Herr Charousek  möge - ich lasse ihn herzlich drum
bitten - sich auch, soweit es in seiner Macht steht, der "vornehmen  Dame" -
er weiß schon, wer darunter zu verstehen ist - annehmen."
     "Sie meinen  sich  wahrscheinlich  die  adlige Flietschen,  die was  da
Gspusi  ghabt hat mit dem Niemetz - dem Dr. Sapoli? - No, die hat  sich doch
scheiden lassen und ise mit dem Kind und dem Sapoli fürt."
     "Wissen Sie das bestimmt?"
     Ich fühlte  meine Stimme  zittern. So sehr ich mich um Angelinas willen
freute, - es krampfte mir doch das Herz zusammen.
     Wieviel Sorge hatte  ich  ihretwegen getragen und  jetzt  - - - war ich
vergessen.
     Vielleicht glaubte sie, ich sei wirklich ein Raubmörder.
     Ein bitterer Geschmack stieg mir in die Kehle.
     Der  Schlot schien  mit  dem  Feingefühl,  das  verwahrlosten  Menschen
seltsamerweise eigen ist bei allen Dingen, die sich um Liebe drehen, erraten
zu  haben,  wie  mir zumute  war, denn er  blickte scheu weg und  antwortete
nicht.
     "Wissen Sie vielleicht auch, wie es Herrn Hillels Tochter, dem Fräulein
Mirjam geht? Kennen Sie sie?", fragte ich gepreßt.
     "Mirjam? Mirjam?" - Wenzel legte sein Gesicht in nachdenkliche Falten -
"Mirjam? - Gäht sich die öfters in der Nacht zum Loisitschek?"
     Ich mußte unwillkürlich lächeln. "Nein. Ganz bestimmt nicht."
     "Dann kenn ich sie nicht", sagte Wenzel trocken.
     Wir schwiegen eine Weile.
     Vielleicht steht in dem Briefchen etwas über sie, hoffte ich.
     "Daß  den Wassertrum  der Deiwel  g'holt  hat",  fing  Wenzel plötzlich
wieder an, "wärden Sie sich wohl schon gehärt haben?"
     Ich fuhr entsetzt auf.
     "No ja." - Wenzel deutete auf seine Kehle. - "Murxi, murxi! Ich sag ich
Ihnän; es war Ihnän  schaislich. Wie sie den  Laden aufgebrochen haben, weil
er sich  paar Täg nicht hat segen lassen, war  ich  natierlich  der  erschte
drin;  - wie denn nicht! - Und da hat e' durten g'sässen, der Wassertrum, in
einem  dreckigen Lähnsessel,  die  Brust voller  Blut und die Augen  wie aus
Glas. -  -  - Wissen S',  ich bin ich  ein handfeste Kerl, aber mir hat sich
alles gedräht,  sag ich Ihnän, und ich hab' gemeint, ich  hau ich ohnmächtig
hi-iin. Furt' a  furt' hab' ich  mir vorsagen missen:  Wenzel,  hab' ich mir
vorg'sagt, Wenzel, reg'  dich nicht auf, es is doch bloß ein toter Jud. - Er
hat  eine  Feile  in der Kehle stecken  gehabt und im Laden  war  sich alles
umedum geschmissen. - Ein Raubmord natierlich."
     "Die  Feile! Die  Feile!"  Ich fühlte, wie mir der  Atem kalt wurde vor
Grausen. Die Feile! So hatte sie also doch ihren Weg gefunden!
     "Ich weiß ich auch, wer's war", fuhr Wenzel  nach  einer Pause halblaut
fort. "Niemand anders, sag  ich Ihnän,  als der blattersteppige Loiso. - Ich
hab'  ich  nämlich sein Taschenmesser auf dem  Boden  im Laden entdeckt  und
rasch eing'stäckt,  damit sich die Polizei nicht  draufkommt.  - Er ise sich
durch  einen unterirdischen Gang in den Laden - - -" er brach mit einem Ruck
seine Rede  ab und horchte ein paar Sekunden lang  angestrengt, dann warf er
sich auf die Pritsche und fing an, fürchterlich zu schnarchen.
     Gleich  darauf klirrte das  Vorhängeschloß und der Gefängniswärter  kam
herein und musterte mich argwöhnisch.
     Ich machte ein teilnahmsloses Gesicht und Wenzel war kaum zu erwecken.
     Erst  nach  vielen  Püffen richtete er sich  gähnend auf und  taumelte,
gefolgt von dem Wärter, schlaftrunken hinaus.
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     Fiebernd vor Spannung faltete ich Charouseks Brief auseinander und las:
     Den 12. Mai.
     "Mein lieber armer Freund und Wohltäter!"
     Woche um Woche habe ich gewartet, daß  Sie endlich freikommen würden, -
immer   vergebens,   -   habe   alle   möglichen   Schritte   versucht,   um
Entlastungsmaterial für Sie zu sammeln, aber ich fand keins.
     Ich bat den Untersuchungsrichter,  das Verfahren zu beschleunigen, aber
jedesmal  hieß es, er könne nichts tun - es sei Sache der Staatsanwaltschaft
und nicht die seinige.
     Amtsschimmel!
     Eben erst, vor  einer Stunde, gelang mir jedoch etwas, von  dem ich mir
den  besten Erfolg erhoffe:  ich habe erfahren, daß  Jaromir  dem Wassertrum
eine goldene Taschenuhr, die er nach der damaligen Verhaftung seines Bruders
Loisa in dessen Bett gefunden hatte, verkauft hat.
     Beim ›Loisitschek‹, wo, wie  Sie wissen, die Detektivs verkehren,  geht
das Gerücht,  man hätte die Uhr  des angeblich ermordeten  Zottmann - dessen
Leiche übrigens noch immer nicht entdeckt ist - als corpus delicti bei Ihnen
gefunden. Das übrige reimte ich mir zusammen: Wassertrum et cetera!
     Ich habe mir Jaromir sofort vorgenommen,  ihm 1000 fl gegeben -  -" Ich
ließ den Brief sinken, und die Freudentränen traten mir in  die  Augen:  nur
Angelina konnte Charousek die Summe gegeben haben. Weder Zwakh, noch Prokop,
noch Vrieslander besaßen  so viel  Geld.  Sie hatte  mich  also  doch  nicht
vergessen! - Ich las weiter:
     "- 1000 fl gegeben und ihm weitere 2000 fl versprochen, wenn er mit mir
sofort zur Polizei  ginge und eingestünde,  die Uhr  seinem  Bruder zu Hause
entwendet und verkauft zu haben.
     Das alles  kann  aber erst  geschehen, wenn dieser  Brief durch  Wenzel
bereits an Sie unterwegs ist. Die Zeit reicht nicht aus.
     Aber seien Sie versichert: es  wird  geschehen.  Heute noch.  Ich bürge
Ihnen dafür.
     Ich zweifle keinen Augenblick, daß Loisa den Mord begangen  hat und die
Uhr die Zottmanns ist.
     Sollte sie es wider Erwarten nicht sein,  - nun, dann weiß Jaromir, was
er  zu tun  hat:  -  Jedenfalls  wird er  sie als die  bei  Ihnen  gefundene
agnoszieren.
     Also  harren Sie aus und verzweifeln Sie  nicht!  Der  Tag, wo Sie frei
sein werden, steht vielleicht bald bevor.
     Ob trotzdem ein Tag kommen wird, wo wir uns wiedersehen?
     Ich weiß es nicht.
     Fast möchte ich sagen: ich glaube es nicht, denn mit  mir  geht's rasch
zu  Ende, und  ich muß auf  der  Hut sein, daß mich die letzte Stunde  nicht
überrascht.
     Aber eins halten Sie fest: wir werden uns wiedersehen.
     Wenn auch nicht in diesem Leben und nicht wie die Toten in jenem Leben,
aber an dem Tag, wo die Zeit zerbricht, - wo, wie es in der Bibel steht, der
HERR die ausspeien wird aus seinem Munde, die lau waren und weder  kalt noch
warm. - - -
     Wundern Sie  sich nicht, daß ich so  rede! Ich habe  nie mit Ihnen über
diese Dinge gesprochen und, als Sie einmal das Wort ›Kabbala‹ berührten, bin
ich Ihnen ausgewichen, aber - ich weiß, was ich weiß.
     Vielleicht verstehen Sie, was ich meine,  und wenn nicht, so  streichen
Sie, ich bitte Sie darum, das, was ich gesagt habe, aus Ihrem  Gedächtnis. -
- Einmal, in meinen Delirien, glaubte ich  - ein  Zeichen auf Ihrer Brust zu
sehen. - Mag sein, daß ich wach geträumt habe.
     Nehmen Sie  an, wenn Sie mich wirklich nicht verstehen sollten, daß ich
gewisse Erkenntnisse gehabt habe - innerlich! - fast schon von  Kindheit an,
die  mich einen seltsamen Weg geführt haben; - Erkenntnisse, die  sich nicht
decken mit dem,  was die Medizin lehrt oder Gott sei  Dank  noch nicht weiß;
hoffentlich auch nie erfahren wird.
     Aber ich habe mich nicht dumm machen lassen von der Wissenschaft, deren
höchstes Ziel es ist, einen - ›Wartesaal‹ auszustaffieren, den man am besten
niederrisse.
     Doch genug davon.
     Ich will Ihnen erzählen, was sich inzwischen zugetragen hat:
     Ende  April  war  Wassertrum  so  weit, daß meine Suggestion anfing  zu
wirken.
     Ich sah es daran, daß er auf der Gasse beständig gestikulierte und laut
mit sich selbst sprach.
     So etwas ist ein sicheres Zeichen, daß die Gedanken eines Menschen sich
zum Sturm rotten, um über ihren Herrn herzufallen.
     Dann kaufte er sich ein Taschenbuch und machte sich Notizen.
     Er schrieb!
     Er schrieb! Daß ich nicht lache! Er schrieb.
     Und dann ging er zu einem Notar. Unten vor dem Hause wußte  ich, was er
oben machte: - er machte sein Testament.
     Daß er mich zum Erben einsetzte, habe ich mir allerdings nicht gedacht.
Ich  hätte wahrscheinlich den  Veitstanz  bekommen vor Vergnügen, wenn's mir
eingefallen wäre.
     Er setzte mich zum Erben ein, weil ich der einzige auf der Erde bin, an
dem er  noch etwas gutmachen könnte,  wie er glaubte. Das  Gewissen hat  ihn
überlistet.
     Vielleicht war's auch die Hoffnung, ich würde ihn segnen, wenn ich mich
nach seinem Tode  durch seine Huld plötzlich als Millionär sähe, und dadurch
den Fluch wettmachen, den er in Ihrem Zimmer aus meinem Mund hat mit anhören
müssen.
     Dreifach hat demnach meine Suggestion gewirkt.
     Rasend witzig,  daß er heimlich  also doch an eine Wiedervergeltung  im
Jenseits geglaubt  hat, während  er sich's  das  ganze  Leben  lang mühselig
ausreden wollte.
     Aber  so ist's  bei allen den Ganzgescheiten; man sieht es schon an der
wahnwitzigen Wut, in die sie geraten, wenn man's ihnen ins Gesicht sagt. Sie
fühlen sich ertappt.
     Von dem Moment an, wo Wassertrum vom Notar kam, ließ ich ihn nicht mehr
aus dem Auge.
     Des  Nachts  horchte  ich an  den Verschlagbrettern seines Ladens, denn
jede Minute konnte die Entscheidung fallen. -
     Ich  glaube,  durch Mauern hindurch würde ich das  ersehnte schnalzende
Geräusch  gehört  haben,  wenn  er den Stöpsel  aus  der Giftflasche gezogen
hätte.
     Es  fehlte  vielleicht  nur  eine  Stunde,  und  mein   Lebenswerk  war
vollbracht.
     Da griff ein Unberufener ein und ermordete ihn. Mit einer Feile.
     Lassen Sie sich das Nähere von Wenzel  erzählen, mir wird es zu bitter,
alles das niederschreiben zu müssen.
     Nennen Sie  es Aberglaube,  - aber,  wie  ich  sah, daß Blut  vergossen
worden war - die Dinge im Laden waren befleckt  davon, - kam es mir vor, als
sei mir seine Seele entwischt.
     Etwas in  mir,  - ein feiner, untrüglicher Instinkt - sagt mir,  daß es
nicht dasselbe ist, ob ein Mensch von  fremder Hand stirbt oder von eigener:
- daß Wassertrum  sein  Blut mit sich in die  Erde hätte nehmen müssen, dann
erst wäre meine Mission erfüllt gewesen. - Jetzt, wo es anders gekommen ist,
fühle  ich  mich als  Ausgestoßener,  als  ein  Werkzeug, das  nicht  würdig
befunden wurde in der Hand des Todesengels.
     Aber ich will mich nicht auflehnen. Mein Haß ist von der Art, die übers
Grab  hinaus geht, und noch habe ich ja mein eigenes Blut, das ich vergießen
kann, wie ich will, damit es dem seinigen nachgehe im Reich der Schatten auf
Schritt und Tritt. - - -
     Jeden Tag, seit sie Wassertrum verscharrt haben, sitze ich draußen  bei
ihm auf dem Friedhof und horche in meine Brust hinein, was ich tun soll.
     Ich glaube, ich  weiß  es bereits,  aber ich  will noch warten, bis das
innere Wort, das zu mir  spricht,  klar wird wie eine Quelle. - Wir Menschen
sind unrein,  und  oft bedarf  es  langen  Fastens und  Wachens, bis wir das
Flüstern unserer Seele verstehen. - - -
     In der verflossenen Woche wurde mir  offiziell vom Gericht  mitgeteilt,
daß mich Wassertrum zum Universalerben eingesetzt hat.
     Daß ich für mich  keinen Kreuzer  davon anrühre, brauche ich Ihnen wohl
nicht  zu versichern,  Herr  Pernath. -  Ich werde mich  hüten, ›ihm‹ -  für
›drüben‹ eine Handhabe zu geben.
     Die  Häuser,  die  er  besessen  hat,   lasse   ich   versteigern,  die
Gegenstände, die  er berührt  hat,  werden verbrannt, und  was  an Geld  und
Geldeswert sich dann ergibt, fällt nach meinem Tode zu  einem Drittel  Ihnen
zu. -
     Ich sehe im Geiste, wie Sie aufspringen und protestieren, aber ich kann
Sie  beruhigen.  Was Sie bekommen, ist Ihr  rechtmäßiges Eigentum mit Zinsen
und Zinseszinsen. Schon  lange  wußte ich,  daß Wassertrum vor Jahren  Ihren
Vater und seine Familie um alles  gebracht hat, - erst jetzt bin ich in  der
Lage, es aktenmäßig nachweisen zu können.
     Ein zweites  Drittel wird  unter die zwölf Mitglieder  des "Bataillons"
verteilt, die den Dr. Hulbert noch  persönlich  gekannt haben. Ich will, daß
jeder  von  ihnen  reich  wird  und Zutritt  bekommt  zur  Prager  -  "guten
Gesellschaft".
     Das  letzte  Drittel  gehört  zu  gleichen Teilen den  nächsten  sieben
Raubmördern  des  Landes, die  mangels  zureichender Beweise  freigesprochen
werden müssen.
     Ich bin das dem öffentlichen Ärgernis schuldig.
     So. Das wäre wohl alles.
     Und  jetzt, mein lieber, lieber Freund, leben Sie wohl und gedenken Sie
zuweilen
     Ihres
     aufrichtigen und dankbaren
     Innocenz Charousek."
     Tief erschüttert  legte ich  den Brief aus der Hand.  Ich  konnte  mich
nicht freuen über die Nachricht von meiner bevorstehenden Enthaftung.
     Charousek! Armer Mensch!  Wie  ein  Bruder  kümmerte er  sich  um  mein
Schicksal. Bloß, weil ich ihm einst 100 fl geschenkt hatte. Wenn ich ihm nur
einmal noch die Hand drücken könnte!
     Ich fühlte: ja, er hatte recht; der Tag würde nie kommen.
     Ich  sah  ihn vor  mir:  seine flackernden Augen, die  schwindsüchtigen
Schultern, die hohe, noble Stirn.
     Vielleicht, daß alles ganz  anders gekommen wäre, wenn  eine hilfreiche
Hand rechtzeitig in dies verdorrte Leben eingegriffen hätte.
     Noch einmal las ich den Brief durch.
     Wieviel Methode in  Charouseks Irrsinn lag! Ob er  überhaupt  irrsinnig
war?
     Ich  schämte mich beinahe, diesen  Gedanken  auch nur  einen Augenblick
geduldet zu haben.
     Sagten seine  Anspielungen nicht genug? Er war ein Mensch  wie  Hillel,
wie  Mirjam, wie ich selbst;  ein Mensch, über  den  die eigene Seele Gewalt
gewonnen hatte, - den sie durch  die wilden Schluchten und Klüfte des Lebens
emporführte in die Firnenwelt eines unbetreten Landes.
     Er, der doch ein ganzes Leben auf Mord gesonnen,  stand er nicht reiner
da,  als irgendeiner von denen, die naserümpfend  umhergehen  und angelernte
Gebote eines unbekannten, mythischen Propheten zu befolgen vorgeben?
     Er hielt das Gebot, das  ihm ein übermächtiger Trieb diktierte, ohne an
eine "Belohnung" hier oder jenseits auch nur zu denken.
     Was er getan hatte, war es etwas anderes als  frömmste Pflichterfüllung
in des Wortes verborgenster Bedeutung?
     "Feig,  hinterlistig,  mordgierig,  krank, eine  problematische -  eine
Verbrechernatur"  -  ich  hörte förmlich, wie  das Urteil der Menge über ihn
lauten  mußte,  wenn  sie  mit  ihren  blinden Stallaternen in  seine  Seele
hineinzuleuchten käme,  -  dieser  geifernden  Menge,  die  nie  und  nimmer
begreifen wird, daß die giftige Herbstzeitlose tausendfach schöner und edler
ist als der nützliche Schnittlauch. - - -
     Wieder  ging  das  Türschloß draußen,  und  ich hörte,  daß  man  einen
Menschen hereinschob.
     Ich  drehte  mich  nicht einmal  um,  so sehr war ich  erfüllt von  dem
Eindruck des Briefes.
     Kein Wort über Angelina, nichts von Hillel stand darin.
     Freilich:  Charousek  mußte  in  größter Eile  geschrieben  haben,  die
Schrift verriet es mir.
     Ob mir wohl noch ein Brief von ihm heimlich überbracht werden würde?
     Ich hoffte heimlich auf den  morgigen Tag, auf den gemeinsamen Rundgang
der Gefangenen im Hof. - Da war es noch am leichtesten, daß  mir irgendeiner
vom "Bataillon" etwas zusteckte.
     Eine leise Stimme schreckte mich aus meinen Grübeleien:
     "Würden  Sie gestatten, mein Herr,  daß  ich mich Ihnen vorstelle? Mein
Name ist Laponder. Amadeus Laponder".
     Ich drehte mich um.
     Ein  kleiner, schmächtiger,  noch  ziemlich  junger  Mann in  gewählter
Kleidung, nur  ohne  Hut,  wie alle Untersuchungsgefangenen,  verbeugte sich
korrekt vor mir.
     Er war glattrasiert  wie ein Schauspieler, und  seine  großen, hellgrün
glänzenden, mandelförmigen Augen  hatten das Eigentümliche  an sich, daß, so
geradeaus sie  auch auf mich gerichtet waren,  sie mich doch  nicht zu sehen
schienen. - Es lag so etwas wie - Geistesabwesenheit darin.
     Ich  murmelte meinen Namen und verbeugte mich ebenfalls und wollte mich
wieder umdrehen, konnte aber lange den  Blick von dem Menschen nicht wenden,
so fremdartig  wirkte er  auf mich mit  dem pagodenhaften  Lächeln,  das die
aufwärts  gezogenen Mundwinkel der feingeschwungenen Lippen beständig seinem
Gesicht aufdrückten.
     Er sah  fast  aus wie eine chinesische Buddhastatue aus Rosenquarz, mit
seiner faltenlosen, durchsichtigen Haut,  der mädchenhaft schmalen  Nase und
den zarten Nüstern.
     "Amadeus Laponder, Amadeus Laponder", wiederholte ich vor mich hin.
     "Was er wohl begangen haben mag?"

     "Waren Sie schon beim Verhör", fragte ich nach einer Weile.
     "Ich komme  soeben  von dort. - Hoffentlich  werde  ich  Sie hier nicht
lange inkommodieren müssen", antwortete Herr Laponder liebenswürdig.
     "Armer   Teufel,"  dachte   ich   mir,  "er   ahnt   nicht,  was  einem
Untersuchungsgefangenen bevorsteht."
     Ich wollte ihn langsam vorbereiten:
     "Man  gewöhnt  sich allmählich  an  das Stillsitzen,  wenn  einmal  die
ersten, schlimmsten Tage vorüber sind." - - -
     Er machte ein verbindliches Gesicht.
     Pause.
     "Hat das Verhör lange gedauert, Herr Laponder?"
     Er lächelte zerstreut:
     "Nein. Ich  wurde  bloß gefragt,  ob ich  geständig  sei, und mußte das
Protokoll unterschreiben."
     "Sie haben unterschrieben, daß Sie geständig sind?" fuhr es mir heraus.
     "Allerdings."
     Er sagte es, als ob es sich von selbst verstünde.
     Es  kann  nichts Schlimmes  sein, legte ich mir zurecht, weil er so gar
keine Aufregung  zeigt. Wahrscheinlich  eine Herausforderung zum  Duell oder
etwas Ähnliches.
     "Ich bin leider schon  so lange hier, daß  es mir wie ein Menschenleben
vorkommt";  -  ich  seufzte   unwillkürlich,  und  er  machte  sofort   eine
teilnehmende  Miene. "Ich  wünsche  Ihnen,  daß  Sie  das nicht  mitzumachen
brauchen,  Herr  Laponder. Nach allem, was  ich sehe, werden  Sie  bald  auf
freiem Fuß sein."
     "Wie  man's  nimmt",  antwortete  er  ruhig,  aber  es  klang  wie  ein
versteckter Doppelsinn.
     "Sie glauben nicht?", fragte ich lächelnd. Er schüttelte den Kopf.
     "Wie soll ich das verstehen? -  Was haben Sie denn gar so Schreckliches
begangen?  Verzeihen Sie, Herr  Laponder, es ist nicht Neugierde  von mir, -
lediglich Teilnahme, daß ich frage."
     Er zögerte  einen Augenblick,  dann  sagte  er, ohne mit der Wimper  zu
zucken:
     "Lustmord."
     Mir war, als hätte er mich mit einem Stock über den Kopf geschlagen.
     Vor Abscheu und Grausen konnte ich keinen Ton herausbringen.
     Er schien es zu bemerken und blickte diskret zur Seite, aber nicht  das
leiseste  Minenspiel in seinem automatenhaft lächelnden Gesicht verriet, daß
er über mein plötzlich verändertes Benehmen verletzt gewesen wäre.
     Wir wechselten kein Wort weiter und blickten stumm aneinander vorbei. -
- -
     Als  ich  mich  nach Einbruch  der  Dunkelheit niederlegte,  folgte  er
sogleich meinem Beispiel, entkleidete  sich, hängte sorgsam seine Kleider an
den  Wandnagel,  streckte sich aus und  schien,  nach seinen ruhigen, tiefen
Atemzügen zu schließen, unmittelbar darauf fest eingeschlafen zu sein.
     Die ganze Nacht konnte ich nicht zur Ruhe kommen.
     Das beständige Gefühl, ein solches Scheusal in meiner  nächsten Nähe zu
haben  und  dieselbe Luft mit ihm atmen zu  müssen, war  mir so gräßlich und
aufregend, daß die Eindrücke des Tages, Charouseks Brief und all das erlebte
Neue tief in den Hintergrund traten.
     Ich hatte mich so gelegt, daß ich den Mörder beständig im Auge behielt,
denn ich würde es nicht haben ertragen können, ihn hinter mir zu wissen.
     Die Zelle war vom Schimmer des Mondes matt durchdämmert, und ich konnte
sehen, daß Laponder regungslos, fast starr, dalag.
     Seine  Züge  hatten etwas Leichenhaftes bekommen, und der halbgeöffnete
Mund erhöhte diesen Eindruck.
     Viele Stunden hindurch änderte er nicht ein einziges Mal seine Lage.
     Erst spät nach Mitternacht, als ein dünner Mondstrahl auf sein  Gesicht
fiel, kam eine leise Unruhe über ihn und er bewegte unaufhörlich die Lippen,
wie  jemand, der im Schlaf spricht. Es schien immer dasselbe Wort zu sein, -
ein zweisilbiger Satz vielleicht, - so wie:
     "Laß mich. Laß mich, Laß mich."
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     Die nächsten  paar Tage vergingen, ohne daß  ich Notiz von ihm genommen
hätte, und auch er brach niemals das Schweigen.
     Sein  Benehmen blieb nach wie  vor  gleich liebenswürdig. Sooft ich auf
und ab gehen wollte, sah er es mir sofort  an und zog  höflich,  wenn er auf
der Pritsche saß, die Füße zurück, um mir nicht im Wege zu sein.
     Ich fing an, mir Vorwürfe wegen  meiner Schroffheit  zu machen,  konnte
aber den Abscheu vor ihm beim besten Willen nicht loswerden.
     So sehr ich gehofft hatte, mich an seine  Nähe gewöhnen zu können, - es
ging nicht.
     Selbst  in den  Nächten hielt es  mich wach.  Kaum  eine  Viertelstunde
verbrachte ich im Schlaf.
     Abend für Abend wiederholte sich haargenau derselbe Vorgang: Er wartete
respektvoll, bis ich mich ausstreckte, zog dann seine Kleider aus, legte sie
pedantisch in Falten, hängte sie auf, und so weiter und so weiter.
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     Eines  Nachts  -  es  mochte um die  zweite  Stunde  sein  -  stand ich
schlaftrunken  vor  Müdigkeit  wieder  auf  dem  Wandbrett,  starrte in  den
Vollmond, dessen Strahlen sich wie glitzerndes  Öl auf dem kupfernen Gesicht
der Turmuhr spiegelten, und dachte voll Trauer an Mirjam.
     Da hörte ich plötzlich leise ihre Stimme hinter mir.
     Sofort war ich wach, überwach, - fuhr herum und horchte.
     Eine Minute verging.
     Schon  glaubte  ich,  ich  hätte mich getäuscht, da kam es  wieder. Ich
konnte die Worte nicht genau verstehen, aber es klang wie:
     "Frag' mich. Frag' mich."
     Es war bestimmt Mirjams Stimme.
     Schlotternd  vor  Aufregung  stieg ich,  so leise ich konnte, herab und
trat an das Bett Laponders.
     Das  Mondlicht schien voll auf sein  Gesicht, und ich  konnte  deutlich
unterscheiden, daß er die Lider offen hatte, doch nur das Weiße der Augäpfel
war sichtbar.
     An der Starre der Wangenmuskeln sah ich, daß er im Tiefschlaf lag.
     Nur  die  Lippen  bewegten  sich wieder  wie  neulich.  Und  allmählich
verstand ich die Worte, die hinter seinen Zähnen hervordrangen:
     "Frag' mich. Frag' mich."
     Die Stimme war der von Mirjam täuschend ähnlich.
     "Mirjam? Mirjam?" rief  ich unwillkürlich, dämpfte aber sofort den Ton,
um den Schläfer nicht zu erwecken.
     Ich  wartete,  bis  sein  Gesicht  wieder   starr  geworden  war,  dann
wiederholte ich leise:
     "Mirjam? Mirjam?"
     Sein Mund formte ein kaum vernehmbares, aber doch deutliches:
     "Ja."
     Ich legte mein Ohr dicht an seine Lippen.  Nach  einer Weile hörte  ich
Mirjams Stimme flüstern - so unverkennbar  ihre Stimme, daß mir Kälteschauer
über die Haut liefen.
     Ich trank die Worte so gierig, daß ich nur den Sinn begriff. Sie sprach
von  Liebe zu mir und von dem unsagbaren Glück, daß wir uns endlich gefunden
hätten  -  und  uns nie  wieder  trennen würden -  hastig  - ohne Pause, wie
jemand,  der  fürchtet, unterbrochen  zu werden und jede  Sekunde  ausnützen
will.
     Dann wurde die Stimme stockend - erlosch zeitweilig ganz.
     "Mirjam?" fragte ich,  bebend vor  Angst  und  mit  eingezogenem  Atem,
"Mirjam, bist du gestorben?"
     Lange keine Antwort.
     Dann fast unverständlich:
     "Nein. - Ich lebe. - Ich schlafe."
     Nichts mehr.
     Ich lauschte und lauschte.
     Vergebens.
     Nichts mehr.
     Vor Ergriffenheit und Zittern mußte ich mich auf die Kante der Pritsche
stützen, um nicht vornüber auf Laponder zu fallen.
     Die  Täuschung war so  vollständig gewesen, daß ich  Mirjam momentelang
tatsächlich  vor  mir  liegen  zu   sehen  glaubte  und  alle  meine   Kraft
zusammennehmen  mußte,  um nicht einen Kuß  auf die Lippen  des  Mörders  zu
drücken.
     "Henoch! Henoch!"  -  hörte ich ihn plötzlich lallen, dann immer klarer
und artikulierter: "Henoch! Henoch!"
     Sofort erkannte ich Hillel.
     "Bist du es, Hillel?"
     Keine Antwort.
     Ich  erinnerte mich, gelesen zu haben, daß man Schlafenden, um  sie zum
Reden  zu bringen, die Fragen nicht ins Ohr stellen dürfe, sondern gegen das
Nervengeflecht in der Magengrube richten müsse.
     Ich tat es:
     "Hillel?"
     "Ja, ich höre dich!"
     "Ist Mirjam gesund? Weißt du alles?" fragte ich schnell.
     "Ja. Ich  weiß  alles. Wußte es längst. - Sei ohne Sorge,  Henoch,  und
fürchte dich nicht!"
     "Kannst du mir verzeihen, Hillel?"
     "Ich sage dir doch: sei ohne Sorge."
     "Werden wir  uns bald  wiedersehen?" - Ich fürchtete, die Antwort nicht
mehr  verstehen  zu können;  schon der  letzte  Satz war nur  noch  gehaucht
worden.
     "Ich  hoffe es.  Ich will  warten - auf dich - wenn ich kann - dann muß
ich - Land -"
     "Wohin? In welches Land?" - ich fiel beinahe auf Laponder - "In welches
Land? In welches Land?"
     "- Land - Gad - südlich - Palästina -"
     Die Stimme erstarb.
     Hundert  Fragen  schössen mir  in der Verwirrung durch den  Kopf: Warum
nennt  er  mich  Henoch?  Zwakh,  Jaromir,  die Uhr, Vrieslander,  Angelina,
Charousek.
     "Leben  Sie wohl und gedenken Sie meiner  zuweilen",  kam  es plötzlich
wieder laut und deutlich  von den  Lippen des Mörders. Diesmal in Charouseks
Tonfall, aber ähnlich so, als hätte ich selbst es gesagt.
     Ich  erinnerte  mich:  es war wörtlich  der  Schlußsatz  aus Charouseks
Brief. -
     Das Gesicht Laponders lag bereits im Dunkel. Das Mondlicht fiel auf die
Kopfenden des  Strohsacks.  In einer Viertelstunde mußte  es aus  der  Zelle
verschwunden sein.
     Ich stellte Frage auf Frage, bekam aber keine Antwort mehr:
     Der Mörder lag  unbeweglich  da wie  eine  Leiche  und hatte die  Lider
geschlossen.
     Ich machte mir die heftigsten Vorwürfe, alle die Tage über  in Laponder
nur den Verbrecher und niemals den Menschen gesehen zu haben. -
     Nach dem, was ich soeben erlebt, war er offenbar ein Somnambuler -  ein
Geschöpf, das unter dem Einfluß des Vollmonds stand.
     Vielleicht hatte er  den Lustmord in einer  Art Dämmerzustand begangen.
Bestimmt sogar. -
     Jetzt,  wo der  Morgen  graute,  war  die  Starrheit  aus  seinen Zügen
gewichen und hatte dem Ausdruck seligen Friedens Platz gemacht.
     So ruhig  kann ein Mensch doch nicht schlummern, der einen Mord auf dem
Gewissen hat, sagte ich mir.
     Ich konnte den Moment, wo er aufwachen würde, kaum erwarten.
     Ob er wohl wüßte, was geschehen war?
     Endlich schlug  er die Augen  auf,  begegnete meinem  Blick und sah zur
Seite.
     Sofort trat ich zu ihm und ergriff seine Hand: "Verzeihen Sie mir, Herr
Laponder,  daß  ich bisher so unfreundlich zu Ihnen gewesen bin. Es war  das
Ungewohnte, das -"
     "Seien Sie überzeugt,  mein Herr, ich begreife  vollkommen," unterbrach
er  mich  lebhaft,  "daß  es ein  scheußliches  Gefühl  sein  muß, mit einem
Lustmörder beisammen zu sein."
     "Reden Sie nicht  mehr  davon", bat  ich. "Es ist  mir heute  nacht  so
mancherlei durch den  Kopf gegangen, und ich werde den  Gedanken  nicht los,
Sie könnten vielleicht - - -" ich suchte nach Worten.
     "Sie halten mich für krank", half er mir heraus.
     Ich bejahte: "Ich glaube es aus gewissen Anzeichen schließen zu dürfen.
Ich - ich - darf ich Ihnen eine direkte Frage stellen, Herr Laponder?"
     "Ich bitte darum."
     "Es klingt  etwas  merkwürdig, - aber - würden Sie mir  sagen,  was Sie
heute geträumt haben?"
     Er schüttelte lächelnd den Kopf: "Ich träume nie."
     "Aber Sie haben aus dem Schlaf gesprochen."
     Er blickte überrascht  auf.  Dachte  eine  Weile nach.  Dann  sagte  er
bestimmt:
     "Das kann nur geschehen sein, wenn Sie mich etwas gefragt haben." - Ich
gab es zu. "Denn wie gesagt,  ich träume nie. Ich -  ich wandere", setzte er
nach einer Pause halblaut hinzu.
     "Sie wandern? Wie soll ich das verstehen?"
     Er schien nicht recht mit  der Sprache heraus zu  wollen, und ich hielt
es für angezeigt, ihm die Gründe zu nennen, die mich bewogen hatten, in  ihn
zu dringen, und erzählte ihm in Umrissen, was nachts geschehen war.
     "Sie  können sich fest darauf  verlassen," sagte  er ernst,  als ich zu
Ende war, "daß alles auf Richtigkeit beruht, was ich  im  Schlaf  gesprochen
habe. Wenn ich vorhin  bemerkte, daß ich nicht träume, sondern ›wandere‹, so
meine ich damit, daß  mein Traumleben anders  beschaffen ist als das - sagen
wir: normaler Menschen. Nennen Sie  es,  wenn Sie wollen,  ein Austreten aus
dem Körper. - - So war ich  z.  B. heute nacht  in einem höchst  sonderbaren
Zimmer, zu dem der Eingang von unten herauf durch eine Falltür führte."
     "Wie sah es aus?" fragte ich rasch. "War es unbewohnt? Leer?"
     "Nein; es standen  Möbel darin; aber nicht viele. Und ein  Bett, in dem
ein junges  Mädchen schlief  - oder  wie scheintot lag, -  und ein Mann  saß
neben  ihr und hielt seine Hand  über ihre Stirn." - Laponder schilderte die
Gesichter der beiden. Kein Zweifel, es waren Hillel und Mirjam.
     Ich wagte vor Spannung kaum zu atmen.
     "Bitte, erzählen Sie weiter. War sonst noch jemand im Zimmer?"
     "Sonst  noch jemand? Warten  Sie -  - - nein: sonst war niemand mehr im
Zimmer. Ein siebenflammiger Leuchter brannte auf dem Tisch.  - Dann ging ich
eine Wendeltreppe hinunter."
     "Sie war zerbrochen?" fiel ich ein.
     "Zerbrochen? Nein, nein; sie war ganz in Ordnung. Und von  ihr  zweigte
seitlich eine Kammer ab, darin saß ein Mann mit  silbernen Schnallen an  den
Schuhen und von fremdartigem Typus, wie ich  noch nie einen Menschen gesehen
habe:  von gelber  Gesichtsfarbe  und  mit  schrägstehenden Augen; -  er war
vornüber  gebeugt  und  schien  auf  etwas  zu  warten.  Auf  einen  Auftrag
vielleicht."
     "Ein  Buch  -  ein  altes großes  Buch  haben  Sie  nirgends gesehen?",
forschte ich.
     Er rieb sich die Stirn:
     "Ein Buch sagen Sie? - Ja. Sehr richtig: ein Buch lag auf dem Boden. Es
war  aufgeschlagen, ganz aus Pergament, und mit  einem  großen, goldenen ›A‹
fing die Seite an."
     "Mit einem ›I‹, meinen Sie wohl?"
     "Nein, mit einem ›A‹."
     "Wissen Sie das bestimmt? War es nicht ein ›I‹?"
     "Nein, es war bestimmt ein ›A‹."
     Ich  schüttelte  den  Kopf  und  fing  an zu  zweifeln.  Offenbar hatte
Laponder im Halbschlaf  in meinem Vorstellungsinhalt gelesen  und alles wirr
durcheinander  gebracht: Hillel,  Mirjam, den Golem,  das Buch Ibbur und den
unterirdischen Gang.
     "Haben  Sie die  Gabe  zu ›wandern‹, wie Sie es  nennen, schon  lang?",
fragte ich.
     "Seit meinem  21. Jahr - -  -", er stockte, schien nicht gern davon  zu
reden; da  nahm  seine Miene plötzlich  den Ausdruck grenzenlosen Erstaunens
an, und er starrte auf meine Brust, als ob er dort etwas sähe.
     Ohne auf meine Verwunderung zu achten, ergriff er hastig meine Hand und
bat - fast flehentlich:
     "Um Himmels  willen, sagen Sie mir alles. Es ist  heute der letzte Tag,
den ich  bei Ihnen verbringen darf.  Vielleicht  schon in einer Stunde werde
ich abgeholt, um mein Todesurteil anzuhören - -."
     Ich unterbräche ihn entsetzt:
     "Dann müssen Sie mich  mitnehmen als Zeugen! Ich  werde beschwören, daß
Sie  krank sind.  -  Sie sind mondsüchtig. Es darf  nicht  sein, daß man Sie
hinrichtet,  ohne Ihren  Geisteszustand untersucht zu haben.  So  nehmen Sie
doch Vernunft an!"
     Er wehrte nervös ab: "Das ist doch so nebensächlich, - bitte, sagen Sie
mir alles!"
     "Aber was  soll ich Ihnen denn sagen? - Reden wir doch lieber von Ihnen
und - -"
     "Sie müssen,  ich weiß das jetzt, gewisse, seltsame Dinge erlebt haben,
die mich nah angehen, - näher als Sie ahnen können; - - ich bitte Sie, sagen
Sie mir alles!", flehte er.
     Ich konnte es nicht fassen, daß ihn mein  Leben  mehr interessierte als
seine  eigenen, doch wahrhaftig genügend dringenden Angelegenheiten;  um ihn
aber  zu  beruhigen,  erzählte ich  ihm alles, was  mir  an  Unbegreiflichem
geschehen war.
     Bei jedem größeren Abschnitt nickte er  zufrieden, wie jemand, der eine
Sache bis zum Grund durchschaut.
     Als  ich  zu  der Stelle kam, wo  die  Erscheinung ohne  Kopf  vor  mir
gestanden und mir  die schwarzroten  Körner hingehalten hatte, konnte er  es
kaum erwarten, den Schluß zu erfahren.
     "Also, aus der Hand geschlagen haben Sie sie ihm", murmelte er sinnend.
"Ich hätte nie gedacht, daß es einen dritten ›Weg‹ geben könnte.
     "Es war  das  kein dritter  Weg", sagte ich, "es war derselbe, wie wenn
ich die Körner abgelehnt hätte."
     Er lächelte.
     "Glauben Sie nicht, Herr Laponder?"
     "Wenn  Sie sie  abgelehnt  hätten,  wären  Sie wohl  auch den  ›Weg des
Lebens‹ gegangen, aber die Körner, die magische Kräfte bedeuten, wären nicht
zurückgeblieben. -  So sind sie  auf den  Boden gerollt, wie Sie sagen.  Das
heißt:  sie  sind hiergeblieben und  werden  von  Ihren Vorfahren  so  lange
gehütet,  bis die Zeit des Keimens da ist.  Dann  werden  die Kräfte, die in
Ihnen jetzt noch schlummern, lebendig werden."
     Ich verstand nicht: "Von meinen Vorfahren werden die Körner behütet?"
     "Sie müssen es teilweise symbolisch auffassen, was Sie  erlebt  haben",
erklärte  Laponder.  "Der Kreis der bläulich  strahlenden  Menschen, der Sie
umstand,  war die  Kette  der  ererbten ›Iche‹, die  jeder  von einer Mutter
Geborene mit sich herumschleppt.  Die  Seele ist  nichts  ›Einzelnes‹, - sie
soll es erst  werden, und das nennt man dann: ›Unsterblichkeit‹;  Ihre Seele
ist  noch zusammengesetzt aus  vielen ›Ichen‹ - so, wie ein Ameisenstaat aus
vielen Ameisen; Sie tragen die seelischen Reste vieler tausend Vorfahren  in
sich: - die  Häupter Ihres  Geschlechtes. Bei  allen  Wesen ist es  so.  Wie
könnte  denn  ein Huhn,  das  aus einem Ei künstlich  erbrütet  wurde,  sich
sogleich  die  richtige  Nahrung  suchen,  wenn  nicht  die  Erfahrung   von
Jahrmillionen  in ihm  stäke? - Das Vorhandensein des ›Instinkts‹ verrät die
Gegenwart der Vorfahren im Leib und in der Seele. - Aber, verzeihen Sie, ich
wollte Sie nicht unterbrechen."
     Ich  erzählte   zu  Ende.  Alles.  Auch   das,   was  Mirjam  über  den
"Hermaphroditen" gesagt hatte.
     Als  ich innehielt  und  aufblickte, bemerkte ich,  daß  Laponder  weiß
geworden war wie der Kalk an der Wand und Tränen über seine Wangen liefen.
     Rasch stand ich auf, tat, als sähe  ich es nicht, und ging in der Zelle
auf und nieder, um abzuwarten, bis er sich beruhigt haben würde.
     Dann  setzte ich  mich ihm gegenüber und  bot meine ganze  Beredsamkeit
auf, ihn  zu überzeugen,  wie dringend nötig es wäre, den Richtern gegenüber
auf seinen krankhaften Geisteszustand hinzuweisen.
     "Wenn Sie wenigstens den Mord nicht eingestanden hätten!", schloß ich.
     "Aber ich mußte doch! Man hat mich auf mein Gewissen gefragt", sagte er
naiv.
     "Halten  Sie denn eine Lüge für schlimmer  als  - als einen Lustmord?",
fragte ich verblüfft.
     "Im allgemeinen  vielleicht  nicht,  in meinem Fall gewiß. - Sehen Sie:
als ich vom Untersuchungsrichter gefragt wurde,  ob ich  gestünde, hatte ich
die Kraft, die Wahrheit zu  sagen. Es stand also  in  meiner Wahl, zu  lügen
oder nicht zu lügen. - Als ich den  Lustmord beging - -  bitte, ersparen Sie
mir  die Details: es  war so gräßlich, daß ich  die  Erinnerung nicht wieder
aufleben lassen möchte  - - als ich den  Lustmord beging, da hatte ich keine
Wahl. Wenn ich auch bei vollkommen  klarem Bewußtsein handelte, so hatte ich
dennoch keine Wahl: irgend etwas, dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt
hatte, wachte auf und war  stärker als ich.  Glauben Sie, wenn ich  die Wahl
gehabt haben  würde,  ich  hätte gemordet? - Nie  habe ich  getötet -  nicht
einmal  das kleinste  Tier,  - und jetzt wäre ich es  schon  gar nicht  mehr
imstande.
     Nehmen  Sie  an,  es  wäre  Menschengesetz:  zu  morden,  und  auf  die
Unterlassung stünde der  Tod  - ähnlich, wie  es im  Krieg  der Fall  ist, -
augenblicklich hätte ich mir den Tod verdient. - Weil mir keine Wahl bliebe.
Ich könnte ganz  einfach nicht morden.  Damals, als ich den Lustmord beging,
lag die Sache umgekehrt."
     "Um so mehr, wo Sie sich jetzt quasi als ein anderer fühlen, müssen Sie
alles aufbieten, dem Richterspruch zu entgehen!", wandte ich ein.
     Laponder machte eine  abwehrende Handbewegung: "Sie  irren! Die Richter
haben  von ihrem Standpunkt  aus ganz recht. Sollen sie  einen Menschen  wie
mich vielleicht frei umherlaufen lassen? Damit morgen oder übermorgen wieder
das Unheil losbricht?"
     "Nein; aber  in  einer  Heilanstalt für Geisteskranke  sollte  man  Sie
internieren. Das ist es doch, was ich sage!"
     "Wenn  ich  irrsinnig  wäre,  hätten  Sie  recht",  erwiderte  Laponder
gleichmütig. "Aber ich  bin  nicht irrsinnig. Ich  bin etwas ganz anderes, -
etwas, was  dem Irrsinn sehr ähnlich sieht, aber gerade das  Gegenteil  ist.
Bitte,  hören Sie zu. Sie werden mich sogleich verstehen. - -  - Was Sie mir
vorhin von dem Phantom ohne Kopf - ein Symbol natürlich: dieses Phantom; den
Schlüssel können Sie leicht finden, wenn Sie darüber nachdenken - erzählten,
ist mir einst genauso passiert. Nur habe ich die Körner angenommen. Ich gehe
also den ›Weg des Todes‹! - Für mich ist das Heiligste, das ich denken kann:
meine Schritte vom Geistigen in mir lenken zu lassen. Blind, vertrauensvoll,
wohin  der Weg auch führen  mag: ob zum Galgen  oder zum Thron, ob zur Armut
oder  zum Reichtum. Niemals habe ich gezögert, wenn die  Wahl in meine  Hand
gelegt war.
     Darum habe ich auch nicht gelogen, als die Wahl in meiner Hand lag.
     Kennen Sie die Worte des Propheten Micha:
     "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist,
     und was der Herr von dir fordert,"?
     Würde ich gelogen haben, hätte  ich eine  Ursache geschaffen, weil  ich
die Wahl hatte; -  - als ich den  Mord beging, schuf  ich keine Ursache; nur
die Wirkung  einer in mir  schlummernden,  längst gelegten Ursache, über die
ich keine Gewalt mehr besaß, wurde frei.
     Also sind meine Hände rein.
     Dadurch, daß  das Geistige in  mir mich zum  Mörder werden ließ, hat es
eine Hinrichtung an mir  vollzogen; dadurch, daß  mich  die  Menschen an den
Galgen knüpfen, wird mein Schicksal  losgelöst von dem ihrigen:  - ich komme
zur Freiheit."
     Er ist  ein Heiliger, fühlte ich, und  das  Haar sträubte sich mir  vor
Schauder über meine eigene Kleinheit.
     "Sie haben mir  erzählt,  daß Sie durch den hypnotischen Eingriff eines
Arztes  in Ihr Bewußtsein  lange die Erinnerung an Ihre Jugendzeit vergessen
hatten", fuhr er  fort.  "Es ist das  das Kennzeichen - das Stigma  -  aller
derer,  die von  der  ›Schlange  des geistigen Reiches‹  gebissen  sind.  Es
scheint fast, als müßten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft  werden, wie
ein Edelreis auf den wilden Baum,  ehe  das  Wunder  der Erweckung geschehen
kann; -  was  sonst  durch  den  Tod  getrennt wird,  geschieht  hier  durch
Erlöschen der Erinnerung - manchmal nur durch eine plötzliche innere Umkehr.
     Bei mir war es so,  daß ich scheinbar ohne äußere Ursache in meinem 21.
Jahr  eines Morgens wie verändert erwachte.  Was mir bis dahin lieb gewesen,
erschien mir mit einemmal gleichgültig: Das  Leben kam mir dumm vor wie eine
Indianergeschichte  und  verlor   an  Wirklichkeit;  die  Träume  wurden  zu
Gewißheit - zu apodiktischer, beweiskräftiger Gewißheit, verstehen Sie wohl:
zu beweiskräftiger,  realer Gewißheit,  und das  Leben des Tages  wurde  zum
Traum.
     Alle  Menschen  könnten  das,  wenn  sie den Schlüssel  hätten. Und der
Schlüssel liegt einzig  und allein darin, daß  man sich seiner ›Ichgestalt‹,
sozusagen seiner  Haut, im Schlaf bewußt wird,  - die schmale  Ritze findet,
durch die sich das Bewußtsein zwängt zwischen Wachsein und Tiefschlaf.
     Darum sagte ich vorhin: ›ich wandere‹ und nicht: ›ich träume‹.
     Das Ringen nach  der Unsterblichkeit ist ein  Kampf um das Zepter gegen
die  uns  innewohnenden  Klänge  und  Gespenster;  und das  Warten  auf  das
Königwerden des eigenen ›Ichs‹ ist das Warten auf den Messias.
     Der schemenhafte  Habal Garmin, den Sie  gesehen haben, der ›Hauch  der
Knochen‹ der Kabbala, das war der König. Wenn er gekrönt sein  wird, dann  -
reißt der  Strick  entzwei,  mit dem Sie  durch  die äußeren  Sinne  und den
Schornstein des Verstandes an die Welt gebunden sind.
     Wieso es  kommen konnte, daß ich trotz meinem Losgetrenntsein vom Leben
über Nacht zum Lustmörder werden konnte, fragen Sie mich? Der Mensch ist wie
ein Glasrohr, durch das bunte Kugeln laufen: bei fast allen im Leben nur die
eine. Ist die Kugel rot, heißt der Mensch: ›schlecht‹.  Ist sie  gelb,  dann
ist der Mensch:  ›gut‹. Laufen  zwei  hintereinander  - eine rote  und  eine
gelbe, dann hat ›man‹ einen ›ungefestigten‹ Charakter. Wir von der ›Schlange
Gebissenen‹,  machen in einem  Leben durch, was sonst an der ganzen Rasse in
einem  Weltenalter  geschieht: die farbigen Kugeln rasen  hintereinander her
durch das Glasrohr, und wenn sie zu Ende sind - - dann sind wir Propheten, -
sind die Spiegel Gottes geworden."
     Laponder schwieg.
     Lange konnte  ich  kein Wort  sprechen.  Seine  Rede  hatte  mich  fast
betäubt.
     "Weshalb fragten Sie mich vorhin  so ängstlich nach meinen Erlebnissen,
wo  Sie  doch so  viel, viel höher stehen als ich?", fing ich endlich wieder
an.
     "Sie irren," sagte  Laponder, "ich stehe weit unter Ihnen. - Ich fragte
Sie, weil ich fühlte, daß Sie den Schlüssel besitzen, der mir noch fehlte."
     "Ich? Einen Schlüssel. O Gott!"
     "Jawohl Sie! Und Sie  haben ihn mir gegeben. - Ich glaube nicht, daß es
einen glücklicheren Menschen auf Erden gibt, als ich es heute bin."
     Draußen entstand ein  Geräusch; die  Riegel  wurden zurückgeschoben,  -
Laponder achtete kaum darauf:
     "Das mit dem Hermaphroditen  war  der  Schlüssel.  Jetzt habe  ich  die
Gewißheit.  Schon deshalb bin ich froh,  daß man mich holen kommt, denn bald
bin ich am Ziel."
     Vor Tränen konnte  ich Laponders Gesicht  nicht mehr unterscheiden, ich
hörte nur das Lächeln in seiner Stimme.
     "Und jetzt: Leben Sie wohl, Herr Pernath, und denken  Sie: das, was man
morgen  aufhenkt,  sind  nur  meine  Kleider;  Sie  haben mir  das  Schönste
eröffnet, - das Letzte, was ich noch nicht wußte.  Jetzt geht's zur Hochzeit
-  -  -," er  stand auf und folgte  dem Gefangenwärter - "es hängt  mit  dem
Lustmord  eng  zusammen",  waren  die letzten  Worte, die ich  hörte und nur
dunkel begriff.
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     Sooft seit jener Nacht der Vollmond am Himmel  stand, glaubte ich immer
wieder  Laponders  schlafendes Gesicht  auf der grauen  Leinwand des  Bettes
liegen zu sehen.
     In den nächsten Tagen,  nachdem er weggeführt worden war, hatte ich ein
Hämmern  und  Zimmern  aus  dem  Hinrichtungshof  heraufdröhnen  hören,  das
manchmal bis zum Morgengrauen dauerte.
     Ich erriet, was es bedeutete,  und hielt  mir stundenlang die Ohren  zu
vor Verzweiflung.
     Monat um Monat verfloß. Ich sah, wie der Sommer zerrann, am Krankwerden
des kümmerlichen Laubs im Hof; roch  es an dem pelzigen  Hauch,  der aus den
Mauern drang.
     Wenn mein Blick bei den Rundgängen auf den sterbenden Baum fiel und das
eingewachsene  Glasbild der Heiligen in seiner Rinde,  zog ich unwillkürlich
jedesmal den  Vergleich,  wie  tief sich  auch  Laponders  Gesicht  in  mich
eingegraben hatte.  Beständig trug ich es in mir herum, dieses Buddhagesicht
mit der faltenlosen Haut und dem seltsamen, immerwährenden Lächeln.
     Ein   einziges   Mal   noch   -   im   September   -  hatte  mich   der
Untersuchungsrichter holen  lassen  und  mißtrauisch  gefragt,  wie  ich  es
begründen  könne, daß  ich bei  dem Bankschalter gesagt,  ich müsse dringend
verreisen, und warum  ich  in den  Stunden vor meiner Verhaftung  so unruhig
gewesen wäre und meine sämtlichen Edelsteine zu mir gesteckt hätte.
     Auf meine Antwort, ich sei mit der Absicht umgegangen, mir das Leben zu
nehmen, hatte es wieder hinter dem Schreibtisch höhnisch gemeckert. -
     Bis  dahin  war  ich allein in  meiner Zelle gewesen und konnte  meinen
Gedanken, meiner  Trauer um Charousek, der, wie ich fühlte, längst tot  sein
mußte, und Laponder und meiner Sehnsucht nach Mirjam nachhängen.
     Dann  kamen  wieder  neue  Gefangene:  diebische  Kommis mit  verlebten
Gesichtern, dickwanstige Bankkassierer,  - "Waisenkinder", wie der  schwarze
Vóssatka sie genannt  haben  würde, - und  verpesteten mir  die Luft und die
Stimmung.
     Eines  Tages gab einer von ihnen voll Entrüstung zum  besten,  daß  vor
geraumer Zeit ein Lustmord in der Stadt geschehen sei. Zum  Glück hätte  man
den Täter sogleich erwischt und kurzen Prozeß mit ihm gemacht.
     "Laponder hat  er  geheißen,  der Schuft, der gottserbärmliche", schrie
ein Kerl mit  einer Raubtierschnauze, der  wegen  Kindsmißhandlung  zu  - 14
Tagen  Gefängnis  verurteilt  worden  war,  dazwischen.  "Auf  frischer  Tat
habn's'n g'faßt. Die Lampen is umg'fallen bei dem  Krawall  und's  Zimmer is
ausbrennt. Die Leich'  von dem Mädel is  dabei so verkohlt, daß mer  bis zum
heutigen Tage noch  nöt  hat  rausbringen  können, wer sie  eigentlich  war.
Schwarze  Haar hat's  g'habt und a  schmal's G'sicht, dös  is  alls, was mer
weiß. Und der Laponder hat  net ums Verrecken rausg'rückt mit ihrem Namen. -
Wann's nach  mir gangen wär,  i hätt  ihm d'Haut ab'zogen und Pfeffer  drauf
g'streut. - Dös san halt die feinen Herren! Mörder san's, alle z'samm. - - -
- Als ob's net anderne Mittel g'nua gebet, wann aner a Mädel los sein wüll",
setzte er mit zynischem Lächeln hinzu.
     Die Wut kochte in mir, und am liebsten hätte  ich den Halunken zu Boden
geschlagen.
     Nacht für Nacht  schnarchte  er in dem  Bett, auf dem Laponder gelegen.
Ich atmete auf, als er endlich freigelassen wurde.
     Aber selbst  da war ich ihn  noch nicht los:  seine Rede hatte sich wie
ein Pfeil mit Widerhaken in mich eingebohrt.
     Fast beständig, hauptsächlich in der Dunkelheit, nagte jetzt in mir der
grausige Verdacht, Mirjam könnte das Opfer Laponders gewesen sein.
     Je mehr ich dagegen ankämpfte, desto tiefer verstrickte ich mich in dem
Gedanken, bis er beinahe zur fixen Idee wurde.
     Manchmal, besonders wenn  der Mond grell durchs Gitter schien, wurde es
besser:  ich konnte mir  die Stunden,  die  ich  mit Laponder  verlebt, dann
lebendig machen, und das tiefe Gefühl  für ihn verscheuchte mir die Qual,  -
aber nur zu oft kamen die gräßlichen Minuten wieder,  wo ich Mirjam ermordet
und  verkohlt  im  Geiste  vor mir sah und glaubte,  vor Angst  den Verstand
verlieren zu müssen.
     Die  schwachen  Anhaltspunkte,  die  ich  für  meinen  Verdacht  hatte,
verdichteten  sich  in  solchen  Zeiten zu einem geschlossenen  Ganzen, - zu
einem Gemälde voll unbeschreiblich entsetzenerregender Einzelheiten.
     Anfang  November gegen 10 Uhr abends,  es war bereits stockfinster  und
die Verzweiflung in mir hatte  einen  derartigen Höhepunkt erreicht, daß ich
mich,  um  nicht laut aufzuschreien,  in  meinen Strohsack  verbiß  wie  ein
verdurstendes  Tier,  öffnete  plötzlich  der  Gefangenwärter die  Zelle und
forderte mich auf, mit  ihm  zum Untersuchungsrichter zu  kommen. Ich fühlte
mich so schwach, daß ich mehr taumelte als ging.
     Die  Hoffnung, jemals dieses schreckliche Haus verlassen zu dürfen, war
längst in mir gestorben.
     Ich machte  mich  darauf  gefaßt, wieder  eine  kalte Frage gestellt zu
bekommen, das stereotype Gemecker  hinter dem Schreibtisch zu hören und dann
zurück in die Finsternis zu müssen.
     Der  Herr Baron Leisetreter war bereits nach Hause gegangen und nur ein
alter, buckliger Schreiber mit Spinnenfingern stand im Zimmer.
     Dumpf wartete ich, was mit mir geschehen würde.
     Es fiel mir auf, daß der Gefangenwärter mit hereingekommen war und  mir
gutmütig zublinzelte, aber ich war viel zu niedergeschlagen, als daß ich mir
über die Bedeutung alles dessen hätte klarwerden können.
     "Die Untersuchung hat ergeben", fing der Schreiber  an, meckerte, stieg
auf  einen  Sessel  und  kramte   erst   lange  auf  dem   Bücherbord   nach
Schriftstücken,  ehe  er fortfuhr:  "hat ergeben, daß der  in Frage kommende
Karl Zottmann vor seinem Tode  anläßlich  einer heimlichen Zusammenkunft mit
der unverehelichten ehemaligen Prostituierten Rosina Metzeles, die damaliger
Zeit  den  Spitznamen  ›die  rote Rosina‹  führte,  dann  später  von  einem
taubstummen,    nunmehr    unter     polizeilicher     Aufsicht    stehenden
Silhubettenschneider namens Jaromir Kwáßnitschka aus dem Weinsalon ›Kautsky‹
losgekauft wurde und seit einigen Monaten mit Seiner Durchlaucht dem Fürsten
Ferri Athenstädt im gemeinsamen, wilden Konkubinate als Maiteresse lebt, von
hinterlistiger Hand in  ein unterirdisches, aufgelassenes  Kellergewölbe des
Hauses  Nummer  conscriptionis  21873,  gebrochen  durch  römisch  III,  der
Hahnpaßgasse, laufende Numero sieben, gelockt, dortselbst eingeschlossen und
sich selbst,  beziehungsweise  dem  Tode  durch  Verhungern  oder  Erfrieren
überlassen  wurde.  -  -  Der  obenerwähnte Zottmann nämlich",  erklärte der
Schreiber mit einem Blick über die  Brille hinweg und blätterte  ein paarmal
um.
     "Die  Untersuchung  hat  weiters  ergeben,  daß  der  obenerwähnte Karl
Zottmann  allem  Anscheine  nach  -  nach  eingetretenem  Ableben  -  seiner
sämtlichen  bei  ihm  getragenen  Habseligkeiten,  insbesondere  seiner  sub
faszikel  römisch P gebrochen durch ›Bäh‹ beigeschlossenen  doppelmanteligen
Taschenuhr" - der  Schreiber hob die Uhr an der Kette in die Höhe - "beraubt
wurde.  Der  eidesstattlichen  Aussage  des   Silhubettenschnitzers  Jaromir
Kwáßnitschka,   verwaisten   Sohnes   des   vor   17   Jahren   verstorbenen
Hostienbäckers gleichen Namens:  die Uhr im Bette seines inzwischen flüchtig
gegangenen Bruders Loisa gefunden und an den Altwarenhändler und mehrfachen,
inzwischen aus dem  Leben geschiedenen  Realitätenbesitzer Aaron  Wassertrum
gegen  Inempfangnahme  von  Geldeswert veräußert  zu  haben, konnte  mangels
Glaubwürdigkeit kein Gewicht beigelegt werden.
     Die Untersuchung hat weiters ergeben, daß die Leiche des erwähnten Karl
Zottmann in der rückwärtigen  Hosentasche  zur  Zeit  ihrer  Auffindung  ein
Notizbuch bei sich  trug,  in  der  sie  vermutlich bereits  einige Tage vor
erfolgtem Ableben  mehrere den Tatbestand erhellende und  die Ergreifung des
Täters durch  die  k.  k. Behörden  erleichternde  Eintragungen  vorgenommen
hatte.
     Das Augenmerk einer hohen k. und k. Staatsanwaltschaft wurde demzufolge
auf  den  nunmehr  durch  die  Zottmannschen letztwilligen Notizen  dringend
verdächtig  gewordenen  Loisa  Kwáßnitschka,  zurzeit  flüchtig, gelenkt und
unter  einem  verfügt,   die  Untersuchungshaft  gegen  Athanasius  Pernath,
Gemmenschneider, dermalen noch  unbescholten, aufzuheben, und das  Verfahren
gegen ihn einzustellen.
     Prag im Juli
     gezeichnet
     Dr. Freiherr von Leisetreter."
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     Der Boden schwankte unter meinen Füßen, und  ich verlor eine Minute das
Bewußtsein.
     Als  ich erwachte,  saß  ich auf  einem  Stuhl, und der  Gefangenwärter
klopfte mir freundlich auf die Schulter.
     Der Schreiber war vollkommen ruhig geblieben, schnupfte, schneuzte sich
und sagte zu mir:
     "Die Verlesung der Verfügung hat sich bis heute hinausgezogen, weil Ihr
Name mit einem ›Päh‹  beginnt und naturgemäß  im  Alphabet erst gegen Schluß
vorkommen kann." - Dann las er weiter:
     "Überdies ist der Athanasius  Pernath, Gemmenschneider,  in Kenntnis zu
setzen,  daß  ihm  laut  testamentarischer  Verfügung des  im  Mai  mit  Tod
abgegangenen stud. med. Innocenz Charousek  ein Drittel  von dessen gesamter
Verlassenschaft ins Erbe zugefallen ist, und  ist er  zur Unterfertigung des
Protokolls hiermit anzuhalten."
     Der Schreiber  hatte bei dem letzten Wort die Feder eingetunkt und fing
an zu schmieren.
     Ich erwartete gewohnheitsmäßig, daß  er meckern würde, aber er meckerte
nicht.
     "Innocenz Charousek", murmelte ich ihm wie geistesabwesend nach.
     Der Gefangenwärter beugte sich über mich und flüsterte mir ins Ohr:
     "Kurz vor seinem Tode war  er bei mir, der Herr  Dr. Charousek, und hat
sich nach Ihnen erkundigt. Er läßt  Sie viel-vielmals grüßen, hat er g'sagt.
Ich hab's natürlich damals nicht ausrichten dürfen. Es ist streng  verboten.
Ein schreckliches Ende hat  er übrigens genommen, der Herr Dr. Charousek. Er
hat  sich selbst  entleibt.  Man hat ihn  tot auf  dem Grabhügel  des  Aaron
Wassertrum,  auf der Brust liegend, gefunden. - Er hat zwei  tiefe Löcher in
die  Erde  gegraben gehabt, sich  die Pulsadern aufgeschnitten  und dann die
Arme in  die Löcher gesteckt.  So ist  er verblutet. Er  ist  wahrscheinlich
wahnsinnig gewesen, der Herr Dr. Char - - -"
     Der Schreiber schob geräuschvoll seinen  Stuhl zurück und  reichte  mir
die Feder zum Unterschreiben.
     Dann  richtete  er  sich stolz  auf  und sagte genau im Tonfall  seines
freiherrlichen Vorgesetzten:
     "Gefangenwärter, führen Sie den Mann hinaus."
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     Wie  vor  langer,  langer Zeit hatte wiederum  der Mann  mit  Säbel und
Unterhosen im  Torzimmer seine  Kaffeemühle vom  Schoß genommen; nur daß  er
mich diesmal  nicht untersuchte  und mir meine Edelsteine,  das Portemonnaie
mit den zehn Gulden darin, meinen Mantel und alles übrige zurückgab. - - -
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     Dann stand ich auf der Straße.
     "Mirjam! Mirjam! Jetzt endlich naht das Widersehen!" - Ich unterdrückte
einen Schrei wildesten Entzückens.
     Es mußte Mitternacht  sein.  Der  Vollmond schwebte  glanzlos  wie  ein
fahler Messingteller hinter Dunstschleiern.
     Das Pflaster war mit einer zähen Schicht von Schmutz bedeckt.
     Ich  wankte  auf  eine  Droschke  zu,  die  im  Nebel  aussah  wie  ein
zusammengebrochenes vorsintflutliches  Ungeheuer. Meine Beine versagten fast
den Dienst; ich hatte das Gehen verlernt und taumelte - auf empfindungslosen
Sohlen wie ein Rückenmarkskranker. - -
     "Kutscher, fahren Sie mich, so rasch Sie können, in die Hahnpaßgasse 7!
- Haben Sie mich verstanden?: - Hahnpaßgasse 7."

     Nach wenigen Metern Fahrt blieb die Droschke stehn.
     "Hahnpaßgassä, gnä' Herr?"
     "Ja, ja, nur rasch."
     Wieder fuhr der Wagen ein Stück weiter. Wieder blieb er stehen.
     "Um Himmels willen, was gibt's denn?"
     "Hahnpaßgassäü, gnä' Herr?"
     "Ja, ja. Ja doch."
     "In die Hahnpaßgassä kann me doch nicht fahrrähn!"
     "Warum denn nicht?"
     "Ise sich doch ieberall Pflaste aufgrissen, Judenstadt wirde sich  doch
assaniert."
     "Also fahren Sie eben, soweit Sie können, aber jetzt rasch gefälligst."
     Die  Droschke machte  einen  einzigen Galoppsprung und  stolperte  dann
gemächlich weiter.
     Ich  ließ die  klapprigen Fenster  herunter und sog mit gierigen Lungen
die Nachtluft ein.
     Alles war mir so fremd geworden, so unbegreiflich  neu: die Häuser, die
Straßen,  die  geschlossenen  Läden.  Ein  weißer  Hund  trabte  einsam  und
mißgelaunt  auf  dem  nassen  Trottoir  vorüber.  Ich sah  ihm  nach. -  Wie
sonderbar!! Ein Hund! Ich  hatte ganz  vergessen, daß es solche Tiere gab. -
Vor  Freude  kindisch rief ich ihm nach: "Aber,  aber!  Wie kann man nur  so
verdrossen sein." - - -
     Was Hillel wohl sagen würde!? - Und Mirjam?
     Nur noch wenige Minuten  und ich war  bei ihnen. Nicht eher wollte  ich
aufhören, an ihre Tür zu klopfen, bis ich sie aus den Federn getrieben.
     Jetzt war ja alles gut - all der Jammer dieses Jahres vorüber! -
     Würde das ein Weihnachten werden!
     Diesmal durfte ich es nicht verschlafen, wie das letztemal.
     Einen Augenblick lahmte mich wieder  das alte  Entsetzen: die Worte des
Sträflings mit der Raubtierschnauze fielen mir ein. Das verbrannte Gesicht -
der  Lustmord  - aber nein,  nein! - Ich schüttelte  es gewaltsam ab:  nein,
nein, es  konnte, es konnte nicht sein. - Mirjam lebte!  Ich hatte doch ihre
Stimme aus Laponders Mund gehört.
     Nur noch eine Minute - eine halbe - - und dann -
     Die   Droschke  hielt   vor   einem   Trümmerhaufen.   Barrikaden   aus
Pflastersteinen überall!
     Rote Laternen brannten darauf.
     Beim Schein von Fackeln grub und schaufelte ein Heer von Arbeitern.
     Halden von  Schutt und Mauerbrocken  versperrten den Weg. Ich kletterte
umher, versank bis ans Knie.
     Das hier, das mußte doch die Hahnpaßgasse sein?!
     Mühsam orientierte ich mich. Nichts als Ruinen ringsum.
     Stand denn da nicht das Haus, in dem ich gewohnt hatte?
     Die Vorderseite war eingerissen.
     Ich kletterte  auf einen Erdhügel; tief unter mir  lief ein  schwarzer,
gemauerter Gang die ehemalige Gasse  entlang. Ich schaute empor: wie riesige
Bienenzellen hingen die  bloßgelegten Wohnräume nebeneinander in  der  Luft,
halb vom Fackelschein, halb von dem trüben Mondlicht beschienen.
     Das dort  oben,  das mußte mein Zimmer sein  -  ich erkannte es  an der
Bemalung der Wände.
     Nur noch ein Streifen davon war übrig.
     Und daranstoßend das Atelier - Saviolis. Mir wurde  plötzlich ganz leer
im Herzen. Wie seltsam! Das Atelier! - Angelina! - - So weit,  so unabsehbar
fern lag das alles hinter mir!
     Ich drehte mich um: von dem Haus, in dem Wassertrum gewohnt, kein Stein
mehr auf dem andern. Alles dem Erdboden gleichgemacht: der Trödlerladen, die
Kellerwohnung Charouseks - - - alles, alles.
     "Der Mensch geht dahin wie  ein Schatten"  - fiel mir ein Satz ein, den
ich einmal irgendwo gelesen.
     Ich fragte  einen  Arbeiter,  ob er  nicht wisse,  wo  die  Leute jetzt
wohnten, die hier  ausgezogen seien; ob er vielleicht den Archivar Schemajah
Hillel kenne.
     "Nix daitsch", war die Antwort.
     Ich schenkte dem  Mann  einen Gulden: er verstand zwar sofort  deutsch,
konnte mir aber keine Auskunft geben.
     Auch von seinen Kameraden niemand.
     Vielleicht, daß beim "Loisitschek" etwas zu erfahren wäre?
     Der "Loisitschek" sei gesperrt, hieß es, das Haus würde renoviert.
     Also irgend jemand in der Nachbarschaft wecken! - Ging das nicht?
     "Weit a  breit  wohnt  sich  keine Katz," sagte der Arbeiter; "weil ise
behärdlich verbotten. Von wägen Typhus."
     "Der ›Ungelt‹? Der wird doch offen haben?"
     "Ungelt ise sich geschlossen."
     "Bestimmt?"
     "Bestimmt!"
     Aufs   Geratewohl   nannte  ich   ein  paar   Namen  von  Höcklern  und
Tabaktrafikantinnen,  die in der Nähe gewohnt hatten; dann die  Namen Zwakh,
Vrieslander, Prokop - -
     Bei allen schüttelte der Mann den Kopf.
     "Vielleicht kennen Sie den Jaromir Kwáßnitschka?"
     Der Arbeiter horchte auf.
     "Jaromir? Ise sich taubstumm?"
     Ich jubelte. Gott sei Dank. Wenigstens ein Bekannter.
     "Ja, er ist taubstumm. Wo wohnt er?"
     "Schneid 'e sich Bildeln aus? Aus schwarzem Pappjir?"
     "Ja. Er ist es schon. Wo kann ich ihn wohl treffen?"
     So umständlich wie möglich  bezeichnete mir  der Mann ein Nachtcaféhaus
in der inneren Stadt und fing sofort wieder an zu schaufeln.
     Über eine Stunde lang  watete  ich durch Schuttfelder, balancierte über
schwankende  Bretter  und  kroch  unter  Querbalken  durch, die  die Straßen
versperrten. Das ganze Judenviertel war  eine  einzige Steinwüste, als hätte
ein Erdbeben die Stadt zerstört.
     Atemlos vor  Aufregung, schmutzbedeckt und mit zerrissenen Schuhen fand
ich mich endlich aus dem Labyrinth heraus.
     Ein paar Häuserreihen, und ich stand vor der gesuchten Spelunke.
     "Cafe Chaos" stand darüber geschrieben.
     Ein  menschenleeres,  winziges  Lokal, das kaum genügend Platz ließ für
die paar Tische, die an die Wände gerückt waren.
     In der Mitte auf  einem  dreibeinigen Billard schlief  ein  Kellner und
schnarchte.
     Ein Marktweib, mit einem  Gemüsekorb  vor  sich, saß  in der  Ecke  und
nickte über einem Glase Caj.
     Endlich geruhte  der Kellner  aufzustehen und mich  zu  fragen, was ich
wünschte. Bei dem  frechen  Blick,  mit  dem  er  mich  vom Kopf bis zu  Fuß
musterte, kam mir erst zum Bewußtsem, wie abgerissen ich aussehen mußte.
     Ich warf  einen Blick in  den Spiegel und entsetzte mich: ein  fremdes,
blutleeres  Gesicht, faltig, grau wie Kitt, mit struppigem Bart  und wirrem,
langem Haar starrte mir entgegen.
     Ob der Silhouettenschneider Jaromir nicht dagewesen sei, fragte ich und
bestellte schwarzen Kaffee.
     "Woaß net, wo er so lang bleibt", war die gegähnte Antwort.
     Dann legte sich der Kellner wieder auf das Billard und schlief weiter.
     Ich nahm das "Prager Tagblatt" von der Wand und - wartete.
     Die  Buchstaben  liefen wie Ameisen über  die  Seiten,  und ich begriff
nicht ein einziges Wort von dem, was ich las.
     Die Stunden  vergingen, und hinter den Scheiben zeigte sich bereits das
verdächtige tiefe Dunkelblau, das den Einbruch der  Morgendämmerung  für ein
Lokal mit Gasbeleuchtung anzeigt.
     Hie und  da  spähten ein  paar Schutzleute  mit  grünlich  schillernden
Federbüschen herein und gingen in langsamem, schwerem Schritt wieder weiter.
     Drei übernächtig aussehende Soldaten traten ein.
     Ein Straßenkehrer nahm einen Schnaps.
     Endlich, endlich: Jaromir.
     Er  hatte   sich  so  verändert,   daß  ich  ihn   anfangs  gar   nicht
wiedererkannte: die  Augen erloschen, die Vorderzähne ausgefallen,  das Haar
schütter und tiefe Höhlen hinter den Ohren.
     Ich war so froh, nach so langer  Zeit  wieder ein  bekanntes Gesicht zu
sehen, daß ich aufsprang, ihm entgegenging und seine Hand faßte.
     Er benahm  sich außerordentlich scheu und blickte immerwährend nach der
Türe. Durch alle möglichen Gesten suchte ich ihm begreiflich  zu machen, daß
ich mich  freute, ihn getroffen zu haben. - Er  schien es mir lange nicht zu
glauben.
     Aber,  was für  Fragen  ich  auch stellte, stets die  gleiche  hilflose
Handbewegung des Nichtverstehens bei ihm.
     Wie konnte ich mich nur verständlich machen?!
     Halt! Eine Idee!
     Ich  ließ  mir einen  Bleistift geben und  zeichnete  nacheinander  die
Gesichter von Zwakh, Vrieslander und Prokop auf.
     "Was? Alle nicht mehr in Prag?"
     Er  fuchtelte  lebhaft  in  der  Luft  herum,  machte  die Gebärde  des
Geldzählens, marschierte mit den Fingern über den Tisch, schlug sich auf den
Handrücken. Ich erriet: alle drei hatten wahrscheinlich von  Charousek  Geld
bekommen und zogen  jetzt als  kaufmännische Kompagnie mit dem  vergrößerten
Marionettentheater durch die Welt.
     "Und Hillel? Wo wohnt er jetzt?" - Ich zeichnete sein Gesicht, ein Haus
dazu und ein Fragezeichen.
     Das  Fragezeichen verstand Jaromir nicht; - er konnte nicht lesen, aber
er begriff, was ich wollte, - nahm ein Streichholz, warf es scheinbar in die
Höhe und ließ es nach Taschenspielerart geschickt verschwinden.
     Was bedeutete das? Hillel sollte auch verreist sein?
     Ich zeichnete das jüdische Rathaus auf.
     Der Taubstumme schüttelte heftig den Kopf.
     "Hillel ist also nicht mehr dort?"
     "Nein!" (Kopfschütteln.)
     "Wo ist er denn?"
     Wieder das Spiel mit dem Streichholz.
     "Er meint halt, daß  der Herr weg  ist, und niem'd  weiß nicht, wohin",
mischte sich der  Straßenkehrer, der uns die  ganze  Zeit  über interessiert
zugesehen hatte, belehrend ein.
     Vor Schreck krampfte sich  mir das Herz  zusammen: Hillel fort! - Jetzt
war ich  ganz allein auf der Welt. - - Die  Gegenstände im Zimmer fingen vor
meinen Augen an zu flimmern.
     "Und Mirjam?"
     Meine Hand zitterte so stark, daß ich ihr Gesicht  lange  nicht ähnlich
zeichnen konnte.
     "Ist Mirjam auch verschwunden?"
     "Ja. Auch verschwunden. Spurlos."
     Ich stöhnte laut auf, lief im Zimmer hin und her, daß die drei Soldaten
einander fragend anblickten.
     Jaromir  suchte  mich zu  beruhigen und bemühte  sich,  mir noch  etwas
anderes  mitzuteilen, was er erfahren zu haben schien: er legte den Kopf auf
den Arm, wie jemand, der schläft.
     Ich hielt  mich an der  Tischplatte: "Um Gottes Christi  willen, Mirjam
ist gestorben?"
     Kopfschütteln. Jaromir wiederholte die Gebärde des Schlafens.
     "War Mirjam krank gewesen?" Ich zeichnete eine Medizinflasche.
     Kopfschütteln. Wieder legte Jaromir die Stirn auf den Arm. - - -
     Das Zwielicht  kam, eine  Gasflamme nach  der  andern erlosch und  noch
immer konnte ich nicht herausbringen, was die Geste bedeuten sollte.
     Ich gab es auf. Dachte nach.
     Das einzige, was mir zu tun blieb, war, in aller Frühe auf das jüdische
Rathaus zu gehen, um dort Erkundigungen einzuziehen, wohin Hillel mit Mirjam
gereist sein könne.
     Ich mußte ihm nach. - - -
     Wortlos saß ich neben Jaromir. Stumm und taub wie er.
     Als ich nach einer  langen Zeit  aufblickte, sah ich, daß er mit  einer
Schere an einer Silhouette herumschnitt.
     Ich erkannte  das  Profil Rosinas. Er reichte  mir  das Blatt über  den
Tisch herüber, legte die Hand auf die Augen und - weinte still vor sich hin.
- -
     Dann sprang er plötzlich auf und taumelte ohne Gruß zur Tür hinaus.
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     Der Archivar Schemajah Hillel sei  eines Tages ohne Grund  ausgeblieben
und nicht mehr wiedergekommen; seine Tochter habe er jedenfalls mitgenommen,
denn auch sie sei von niemand mehr gesehen worden seit jener Zeit, hatte man
mir  auf  dem jüdischen Rathaus  gesagt.  Das  war alles,  was  ich erfahren
konnte.
     Keine Spur, wohin sie sich gewandt haben mochten.
     Auf der Bank hieß es, mein Geld sei gerichtlich immer noch mit Beschlag
belegt, man erwarte aber täglich den Bescheid, es mir auszahlen zu dürfen.
     Also auch  die Erbschaft  Charouseks mußte noch  den Amtsweg gehen, und
ich  wartete  doch  mit  brennender  Ungeduld  auf  das Geld, um  dann alles
aufzubieten, Hillels und Mirjams Spur zu suchen.
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     Ich hatte meine Edelsteine verkauft, die ich noch in der Tasche gehabt,
und mir  zwei  kleine,  möblierte,  aneinanderstoßende  Dachkammern  in  der
Altschulgasse -  die einzige  Gasse, die von der Assanierung der  Judenstadt
verschont geblieben, - gemietet.
     Sonderbarer Zufall: es war dasselbe wohlbekannte Haus, von dem die Sage
ging, der Golem sei einst darin verschwunden.
     Ich  hatte mich  bei  den  Bewohnern  - zumeist  kleine  Kaufleute oder
Handwerker - erkundigt, was  denn Wahres an dem Gerücht von dem "Zimmer ohne
Zugang"  sei, und war ausgelacht  worden. -  Wie man einen derartigen Unsinn
denn glauben könne!
     Meine eigenen Erlebnisse,  die sich darauf bezogen, hatten im Gefängnis
die  Blässe eines  längst verwehten  Traumbildes  angenommen und ich sah  in
ihnen nur noch Symbole ohne Blut und Leben, - strich sie aus dem Buch meiner
Erinnerungen.
     Die Worte Laponders, die ich zuweilen so klar in mir hörte, als säße er
mir gegenüber wie damals in der Zelle und  spräche  zu mir,  bestärkten mich
darin, daß ich rein innerlich geschaut haben müsse, was mir ehedem greifbare
Wirklichkeit geschienen.
     War denn nicht alles vergangen und verschwunden, was ich einst besessen
hatte? Das Buch  Ibbur, das  phantastische  Tarockspiel, Angelina  und sogar
meine alten Freunde Zwakh, Vrieslander und Prokop! - - -
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     Es war Weihnachtsabend, und  ich hatte mir einen kleinen Baum mit roten
Kerzen  nach  Hause  gebracht.  Ich  wollte  noch  einmal   jung  sein   und
Lichterglanz um mich  haben  und  den  Duft von Tannennadeln  und brennendem
Wachs.
     Ehe das Jahr noch zu Ende  ging, war ich vielleicht schon unterwegs und
suchte in Städten und Dörfern, oder  wohin  es mich innerlich  ziehen würde,
nach Hillel und Mirjam.
     Alle Ungeduld,  alles  Warten war allmählich von mir  gewichen und alle
Furcht, Mirjam könne ermordet worden sein, und mit dem Herzen wußte ich, ich
würde sie beide finden.
     Es  war ein beständiges glückliches Lächeln in mir,  und wenn ich meine
Hand auf etwas legte, kam  mir's vor, als ginge ein Heilen von ihr aus.  Die
Zufriedenheit eines Menschen,  der nach  langer Wanderung  heimkehrt und die
Türme seiner  Vaterstadt von weitem blinken  sieht,  erfüllte  mich auf ganz
sonderbare Weise.
     Einmal war ich noch in dem kleinen  Kaffeehaus gewesen, um  Jaromir zum
Weihnachtsabend zu mir  zu  holen. - Er  habe sich  nie mehr blicken lassen,
erfuhr ich,  und schon wollte ich  betrübt  wieder gehen,  da kam  ein alter
Tabulettkrämer herein und bot kleine, wertlose Antiquitäten zum Kauf an.
     Ich  kramte in  seinem Kasten  unter  all  den  Uhranhängseln,  kleinen
Kruzifixen, Kammnadeln und  Broschen herum, da  fiel mir ein  Herz aus rotem
Stein an  einem verschossenen Seidenbande in die Hand, und  ich erkannte  es
voll Erstaunen als das Andenken, das mir Angelina, als  sie noch ein kleines
Mädchen gewesen, einst beim Springbrunnen in ihrem Schloß geschenkt hatte.
     Und mit einem Schlag  stand meine Jugendzeit  vor mir, als  sähe ich in
einen Guckkasten tief hinein in ein kindlich gemaltes Bild. -
     Lange, lange stand ich erschüttert da und starrte auf das  kleine, rote
Herz in meiner Hand. - - -
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     Ich saß in  der Dachkammer und lauschte dem  Knistern der Tannennadeln,
wenn hie und da ein kleiner Zweig über den Wachskerzen zu glimmen begann.
     "Vielleicht  spielt gerade  jetzt  in  dieser  Stunde  der  alte  Zwakh
irgendwo in der Welt  seinen  ›Marionettenweihnachtsabend‹",  malte  ich mir
aus,  -  "und  deklamiert  mit  geheimnisvoller  Stimme die  Strophe  seines
Lieblingsdichters Oskar Wiener":
     Wo ist das Herz aus rotem Stein?
     Es hängt an einem Seidenbande.
     O du, o gib das Herz nicht her;
     Ich war ihm treu und hatt' es lieb,
     Und diente sieben Jahre schwer
     Um dieses Herz, und hatt' es lieb!"
     Eigentümlich feierlich wurde mir plötzlich zumute.
     Die  Kerzen  waren heruntergebrannt. Nur eine  einzige flackerte  noch.
Rauch ballte sich im Zimmer.
     Als ob mich eine Hand zöge, wandte ich mich plötzlich um und:
     Da  stand mein Ebenbild auf der Schwelle. Mein  Doppelgänger.  In einem
weißen Mantel. Eine Krone auf dem Kopf.
     Nur einen Augenblick.
     Dann  brachen  Flammen  durch  das  Holz   der  Tür,   und  eine  Wolke
erstickenden heißen Qualms schlug herein:
     Feuersbrunst im Haus! Feuer! Feuer!
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     Ich reiße das Fenster auf. Klettere auf das Dach hinaus.
     Von weitem rast schon das gellende Klingeln der Feuerwehr heran.
     Blitzende Helme und abgehackte Kommandorufe.
     Dann das gespenstische,  rhythmische, schlapfende Atmen der Pumpen, wie
die  Dämonen des  Wassers  sich  ducken  zum  Sprung auf ihren Todfeind: das
Feuer.
     Glas klirrt und rote Lohe schießt aus allen Fenstern.
     Matratzen  werden hinuntergeworfen, die ganze Straße  liegt voll davon,
Menschen springen nach, werden verwundet weggetragen.
     In mir aber jauchzt  etwas auf  in wilder jubelnder Ekstase;  ich  weiß
nicht warum. Das Haar sträubt sich mir.
     Ich laufe auf den Schornstein zu, um nicht versengt zu werden, denn die
Flammen greifen nach mir.
     Das Seil eines Rauchfangkehrers ist herumgewickelt.
     Ich rolle es  auf, schlinge es um Handgelenk und Bein, wie  ich es  als
Knabe  beim  Turnen  gelernt  habe, und lasse mich ruhig  an der Fassade des
Hauses hinab. -
     Komme an einem Fenster vorbei. Blicke hinein:
     Drin ist alles blendend erleuchtet.
     Und  da sehe ich  - - - da sehe ich - -  - mein ganzer Körper wird  ein
einziger hallender Freudenschrei:
     "Hillel! Mirjam! Hillel!"
     Ich will auf die Gitterstäbe losspringen.
     Greife daneben. Verliere den Halt am Seil.
     Einen  Augenblick hänge ich, Kopf abwärts, die Beine gekreuzt, zwischen
Himmel und Erde.
     Das Seil singt bei dem Ruck. Knirschend dehnen sich die Fasern.
     Ich falle.
     Mein Bewußtsein erlischt.
     Noch im Sturz greife ich nach dem Fenstersims, aber ich gleite ab. Kein
Halt:
     der Stein ist glatt.
     Glatt wie ein Stück Fett.
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     "- - - wie ein Stück fett!"
     Das ist der Stein, der aussieht wie ein Stück Fett.
     Die  Worte gellen mir  noch in  den Ohren. Dann richte ich mich auf und
muß mich besinnen, wo ich bin.
     Ich liege im Bett und wohne im Hotel.
     Ich heiße doch gar nicht Pernath.
     Habe ich das alles nur geträumt?
     Nein! So träumt man nicht.
     Ich schaue auf die  Uhr: kaum eine Stunde habe ich  geschlafen.  Es ist
halb drei.
     Und dort hängt der fremde  Hut, den ich heute  im Dom auf dem Hradschin
verwechselt habe, als ich beim Hochamt auf der Betbank saß.
     Steht ein Name darin?
     Ich  nehme  ihn  und  lese  in   goldenen  Buchstaben  auf  dem  weißen
Seidenfutter den fremden und doch so bekannten Namen:

     Jetzt läßt  es mir keine  Ruhe mehr; ich ziehe mich hastig an und laufe
die Treppe hinunter.
     "Portier! Aufmachen! Ich gehe noch eine Stunde spazieren."
     "Wohin, bitt schän?"
     "In  die Judenstadt. In die Hahnpaßgasse. Gibt's überhaupt eine Straße,
die so heißt?"
     "Freilich,  freilich"  -  der Portier  lächelt malitiös - "aber in  der
Judenstadt, ich mache aufmerksam: ist nicht mehr viel los. Alles neu gebaut,
bitte."
     "Macht nichts. Wo liegt die Hahnpaßgasse?"
     Der dicke Finger des Portiers deutet auf die Karte: "Hier, bitte."
     "Und die Schenke ›Zum Loisitschek‹?"
     "Hier, bitte."
     "Geben Sie mir ein großes Stück Papier."
     "Hier, bitte."
     Ich  wickle Pernaths Hut  hinein. Merkwürdig: er ist fast neu, tadellos
sauber und doch so brüchig, als wäre er uralt. -
     Unterwegs überlege ich:
     Alles, was  dieser Athanasius  Pernath erlebt  hat, habe  ich  im Traum
miterlebt, in einer Nacht mitgesehen, mitgehört, mitgefühlt, als wäre ich er
gewesen. Warum  weiß ich denn aber nicht,  was er in dem Augenblick, als der
Strick  riß und er "Hillel, Hillel!" rief, hinter dem Gitterfenster erblickt
hat?
     Er hat sich in diesem Augenblick von mir getrennt, begreife ich.
     Ich muß diesen Athanasius Pernath auffinden, und wenn ich drei Tage und
drei Nächte herumlaufen sollte, nehme ich mir vor. - - -
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     Also das ist die Hahnpaßgasse?
     Nicht annähernd so habe ich sie im Traum gesehen! -
     Lauter neue Häuser.
     Eine  Minute  später  sitze  ich im  Café  Loisitschek.  Ein stilloses,
ziemlich sauberes Lokal.
     Im Hintergrund  allerdings eine Estrade mit  Holzgeländer; eine gewisse
Ähnlichkeit mit dem alten geträumten "Loisitschek" ist nicht zu leugnen.
     "Befehlen,  bitt' schön?",  fragt die Kellnerin, ein dralles  Mädel, in
einen rotsamtenen Frack buchstäblich hineingeknallt.
     "Kognak, Fräulein. - So, danke."
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     "- Hm. Fräulein!"
     "Bitte?"
     "Wem gehört das Kaffeehaus?"
     "Dem Herrn Kommerzialrat Loisitschek. -  Das ganze Haus gehört ihm. Ein
sehr feiner reicher Herr."
     - Aha, der Kerl  mit  den Schweinszähnen  an der Uhrkette! erinnere ich
mich. -
     Ich habe einen guten Einfall, der mich orientieren wird:
     "Fräulein!"
     "Bitte?"
     "Wann ist die steinerne Brücke eingestürzt?"
     "Vor dreiunddreißig Jahren."
     "Hm. Vor  dreiunddreißig  Jahren!" -  ich überlege: der Gemmenschneider
Pernath muß also jetzt fast neunzig sein.
     "Fräulein!"
     "Bitte?"
     "Ist  hier niemand unter den  Gästen, der sich noch erinnern kann,  wie
die alte Judenstadt  von damals ausgesehen hat? Ich bin  Schriftsteller  und
interessiere mich dafür."
     Die Kellnerin denkt nach: "Von den Gästen? Nein. - Aber warten S':  der
Billardmarqueur,  der dort  mit einem Studenten Carambol spielt, - sehen Sie
ihn? Der  mit der Hakennase, der Alte, - der hat  immer hier gelebt und wird
Ihnen alles sagen. Soll ich ihn rufen, wenn er fertig ist?"
     Ich folgte dem Blick des Mädchens:
     Ein  schlanker,  weißhaariger, alter Mann lehnt drüben  am Spiegel  und
kreidet seine Queue.  Ein verwüstetes, aber seltsam vornehmes Gesicht. Woran
erinnert er mich nur?
     "Fräulein, wie heißt der Marqueur?"
     Die Kellnerin  stützt sich im Stehen mit dem Ellenbogen auf  den Tisch,
leckt  an einem Bleistift,  schreibt in Windeseile ihren Vornamen  unzählige
Male  auf die  Marmorplatte  und löscht ihn jedesmal mit nassem Finger rasch
wieder aus.  Dazwischen  wirft sie mir mehr oder  minder sengende Glutblicke
zu;  -  je  nachdem   sie  ihr  gelingen.   Unerläßlich  ist  natürlich  das
gleichzeitige  Emporziehen der Augenbrauen, denn es erhöht  das Märchenhafte
des Blickes.
     "Fräulein,  wie heißt der  Marqueur?", wiederhole ich meine Frage.  Ich
sehe ihr an, sie hätte lieber  gehört: Fräulein, warum tragen  Sie nicht nur
einen  Frack? oder  etwas Ähnliches, aber ich frage es nicht;  mir geht mein
Traum zu sehr im Kopf herum.
     "No,  wie  wird  er denn heißen," schmollt sie, "Ferri  heißt  er halt.
Ferri Athenstädt."
     "So so? Ferri Athenstädt! - Hm, - also wieder ein alter Bekannter."
     "Erzählen Sie mir doch recht, recht viel von ihm, Fräulein," girre ich,
muß mich aber sofort mit einem Kognak stärken, "Sie plaudern gar so herzig!"
(Ich ekle mich vor mir selber.)
     Sie neigt  sich geheimnisvoll  dicht  zu mir, damit mich ihre  Haare im
Gesicht kitzeln, und flüstert:
     "Der Ferri, der war Ihnen früher ein ganz ein Geriebener. - Er soll von
uraltem Adel gewesen  sein  - es ist natürlich nur so  ein  Gerede, weil  er
keinen  Bart  nicht  trägt -  und  furchtbar  viel Geld  g'habt  habn.  Eine
rothaarige Jüdin, die schon von Jugend auf eine  ›Person‹ war" - sie schrieb
wieder rasch ein paarmal ihren Namen auf -  "hat ihn dann ganz ausgezogen. -
Punkto  Geld mein'  ich natürlich. No, und wie er  dann kein Geld nicht mehr
gehabt hat, ist sie weg und hat sich von einem  hohen Herrn heiraten lassen:
von dem  ..."  -  sie flüsterte  mir  einen Namen  ins  Ohr,  den  ich nicht
verstehe.  "Der hohe Herr hat dann natürlich auf alle Ehre verzichten müssen
und  sich von da an nur mehr Ritter von Dämmerich nennen dürfen. No ja. Aber
daß sie  früher eine  ›Person‹  g'wesen ist,  hat  er  ihr  halt doch  nicht
wegwaschen können. Ich sag immer -."
     "Fritzi! Zahlen!" ruft jemand von der Estrade herab. -
     Ich lasse  meine Blicke durch das Lokal  wandern, da höre ich plötzlich
ein leises metallisches Zirpen, wie von einer Grille, hinter mir.
     Ich drehe mich neugierig um. Traue meinen Augen nicht:
     Das Gesicht zur  Wand gekehrt, alt wie  Methusalem,  eine Spieldose, so
klein  wie  eine Zigarettenschachtel, in zitternden Skeletthänden sitzt ganz
in sich  zusammengesunken - der blinde, greise Nephtali Schaffranek  in  der
Ecke und leiert mit der winzigen Kurbel.
     Ich trete zu ihm.
     Im Flüsterton singt er konfus vor sich hin:
     "Frau Pick,
     Frau Hock.
     Und rote, blaue Stern
     die schmusen allerhand.
     Von Messinung, an Räucherl und Rohn."
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     "Wissen Sie, wie der alte Mann heißt?" frage ich  einen  vorbeieilenden
Kellner.
     "Nein, mein Herr, niemand kennt weder ihn noch seinen Namen. Er  selbst
hat ihn vergessen. Er ist ganz allein auf der Welt. Bitte, er ist  110 Jahre
alt! Er kriegt bei uns jede Nacht einen sogenannten Gnadenkaffee."
     Ich  beugte  mich  über  den  Greis,  -  rufe  ihm  ein  Wort ins  Ohr:
"Schaffranek!"
     Es durchfährt  ihn  wie  ein Blitz. Er  murmelt  etwas,  streicht  sich
sinnend über die Stirn.
     "Verstehen Sie mich, Herr Schaffranek?"
     Er nickt.
     "Passen Sie mal gut  auf!  Ich möchte Sie etwas fragen, aus alter Zeit.
Wenn  Sie mir alles  gut beantworten, bekommen Sie den Gulden, den ich  hier
auf den Tisch lege."
     "Gulden",  wiederholt der Greis und  fängt sofort an, wie ein  Rasender
auf seiner zirpenden Spieldose zu kurbeln.
     Ich halte seine Hand fest:  "Denken Sie einmal nach! - Haben Sie  nicht
vor etwa 33 Jahren einen Gemmenschneider namens Pernath gekannt?"
     "Hadrbolletz!  Hosenschneider!"  - lallt er  asthmatisch auf und  lacht
übers ganze Gesicht,  in der  Meinung,  ich  hätte  ihm  einen  famosen Witz
erzählt.
     "Nein, nicht Hadrbolletz: - - Pernath!"
     "Pereles?!" - er jubelt förmlich.
     "Nein, auch nicht Pereies. - Per-nath!"
     "Pascheies?!" - er kräht vor Freude. - -
     Ich gebe enttäuscht meinen Versuch auf.
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     "Sie  wollten   mich  sprechen,  mein  Herr?",  -  der  Marqueur  Ferri
Athenstädt steht vor mir und verbeugt sich kühl.
     "Ja. Ganz richtig. - Wir können dabei eine Partie Billard spielen."
     "Spielen Sie um Geld, mein Herr? Ich gebe Ihnen 90 auf 100 vor."
     "Also gut: um einen Gulden. Fangen Sie vielleicht an, Marqueur."
     Seine Durchlaucht nimmt das Queue, zielt, gickst, macht ein ärgerliches
Gesicht.  Ich kenne das:  er läßt  mich bis 9 kommen,  und dann  macht er in
einer Serie "aus".
     Mir wird immer kurioser zumute. Ich gehe direkt auf mein Ziel los:
     "Entsinnen  Sie  sich,  Herr  Marqueur: vor  langer Zeit,  etwa in  den
Jahren, als die  steinerne  Brücke einstürzte,  in der damaligen  Judenstadt
einen gewissen - Athanasius Pernath gekannt zu haben?"
     Ein Mann in einer rotweißgestreiften Leinwandjacke, mit Schielaugen und
kleinen goldenen  Ohrringen, der auf einer Bank an  der  Wand sitzt und eine
Zeitung liest, fährt auf, stiert mich an und bekreuzigt sich.
     "Pernath? Pernath?" wiederholt der Marqueur und  denkt angestrengt nach
-  "Pernath?  -  War  er  nicht  groß,   schlank?  Braunes  Haar,  melierten
kurzgeschnittenen Spitzbart?"
     "Ja. Ganz richtig."
     "Etwa vierzig Jahre alt damals?  Er sah  aus wie --", Seine Durchlaucht
starrt  mich plötzlich  überrascht an.  - "Sie sind  ein Verwandter von ihm,
mein Herr?!"
     Der Schieläugige bekreuzigt sich.
     "Ich? Ein Verwandter? Komische Idee. - Nein. Ich interessiere  mich nur
für  ihn. Wissen Sie  noch mehr?", sage  ich gelassen,  fühle aber, daß  mir
eiskalt im Herzen wird.
     Ferri Athenstädt denkt wieder nach.
     "Wenn  ich  nicht irre, galt  er  seinerzeit  für  verrückt.  -  Einmal
behauptete  er, er hieße - warten Sie mal,  - ja:  Laponder! Und dann wieder
gab er sich für einen gewissen - Charousek aus."
     "Kein Wort  wahr!" fährt  der Schieläugige dazwischen.  "Den  Charousek
hat's wirklich gegeben. Mein Vater hat doch mehrere 1000 fl von ihm geerbt."
     "Wer ist dieser Mann?", fragte ich den Marqueur halblaut.
     "Er ist  Fährmann und heißt  Tschamrda. - Was den Pernath betrifft,  so
erinnere ich mich nur, oder glaube es wenigstens - daß er in späteren Jahren
eine sehr schöne, dunkelhäutige Jüdin geheiratet hat."
     "Mirjam!"  sage  ich  mir  und werde  so aufgeregt, daß  mir  die Hände
zittern und ich nicht mehr weiterspielen kann.
     Der Fährmann bekreuzigt sich.
     "Ja,  was  ist denn  heute mit  Ihnen los, Herr  Tschamrda?", fragt der
Marqueur erstaunt.
     "Der Pernath hat  niemals  nicht gelebt", schreit der Schieläugige los.
"Ich glaub's nicht."
     Ich  schenke  dem Mann sofort einen Kognak  ein, damit  er gesprächiger
wird.
     "Es gibt ja wohl Leut', die sagen, der Pernath  lebt noch immer", rückt
der  Fährmann endlich heraus, "er is, hör  ich. Kammschneider und wohnt  auf
dem Hradschin."
     "Wo auf dem Hradschin?"
     Der Fährmann bekreuzigt sich:
     "Das  ist es ja eben! Er wohnt, wo kein lebender Mensch wohnen kann: an
der Mauer zur letzten Latern."
     "Kennen Sie sein Haus, Herr - Herr - Tschamrda?"
     "Nicht  um die  Welt  möcht  ich  dort  hinaufgehen!",  protestiert der
Schieläugige. "Wofür halten Sie mich? Jesus, Maria und Josef!"
     "Aber  den  Weg hinauf  könnten Sie mir  doch  von  weitem zeigen, Herr
Tschamrda?"
     "Das  schon", brummte der Fährmann.  "Wenn Sie warten wollen bis  6 Uhr
früh; dann geh ich zur Moldau  hinunter. Aber ich rat Ihnen ab! Sie  stürzen
in den Hirschgraben und brechen Hals und Knochen! Heilige Muttergottes!"
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     Wir gehen zusammen durch den Morgen; frischer Wind weht vom Flusse her.
Ich fühle vor Erwartung kaum den Boden unter mir.
     Plötzlich taucht das Haus in der Altschulgasse vor mir auf.
     Jedes  Fenster  erkenne  ich wieder:  die  geschweifte  Dachrinne,  das
Gitter, die fettig glänzenden Steinsimse - alles, alles!
     "Wann ist  dieses Haus  abgebrannt?",  frage ich den Schieläugigen.  Es
braust mir in den Ohren vor Spannung.
     "Abgebrannt? Niemals nicht!"
     "Doch! Ich weiß es bestimmt."
     "Nein."
     "Aber ich weiß es doch! Wollen Sie wetten?"
     "Wieviel?"
     "Einen Gulden."
     "Gemacht!" -  Und Tschamrda holt den  Hausmeister  heraus.  "Ist dieses
Haus jemals abgebrannt?"
     "I woher denn!" Der Mann lacht. -
     Ich kann und kann es nicht glauben.
     "Schon  siebzig  Jahr' wohn  ich drin," beteuert der  Hausmeister, "ich
müßt's doch wahrhaftig wissen."
     - - - Sonderbar, sonderbar! - - -
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     Der  Fährmann  rudert mich in  seinem  Kahn, der  aus acht ungehobelten
Brettern besteht, mit komischen schiefen Zuckbewegungen über die Moldau. Die
gelben Wasser  schäumen gegen  das Holz. Die Dächer  des Hradschins glitzern
rot in  der Morgensonne.  Ein  unbeschreiblich  feierliches Gefühl  ergreift
Besitz von mir.  Ein leise dämmerndes Gefühl wie aus  einem früheren Dasein,
als sei die Welt  um mich her verzaubert -  eine traumhafte Erkenntnis,  als
lebte ich zuweilen an mehreren Orten zugleich.
     Ich steige aus.
     "Wieviel bin ich schuldig, Herr Tschamrda?"
     "Einen  Kreuzer.  Wenn Sie  mitg'holfen  hätten rudern,  - hätt's  zwei
Kreuzer 'kost."
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     Denselben Weg, den ich  heute  nacht im Schlaf  schon  einmal gegangen,
wandere ich wieder empor: die kleine,  einsame Schloßstiege.  Mir klopft das
Herz und ich weiß voraus: jetzt kommt der kahle Baum, dessen  Äste über  die
Mauer herübergreifen.
     Nein: er ist mit weißen Blüten besät.
     Die Luft ist voll von süßem Fliederhauch.
     Zu meinen  Füßen liegt die Stadt im ersten  Licht wie  eine  Vision der
Verheißung.
     Kein Laut. Nur Duft und Glanz.
     Mit geschlossenen  Augen könnte ich  mich  hinauffinden in die  kleine,
kuriose Alchimistengasse, so vertraut ist mir plötzlich jeder Schritt.
     Aber,  wo  heute  nacht  das  Holzgitter  vor  dem weißschimmemden Haus
gestanden  hat,  schließt  jetzt  ein  prachtvolles, gebauchtes, vergoldetes
Gitter die Gasse ab.
     Zwei Eibenbäume ragen aus blühendem,  niederem Gesträuch und flankieren
das Eingangstor der Mauer, die hinter dem Gitter entlang läuft.
     Ich  strecke  mich, um  über  das  Strauchwerk  hinüberzusehen, und bin
geblendet von neuer Pracht:
     Die Gartenmauer  ist ganz mit Mosaik bedeckt. Türkisblau mit  goldenen,
eigenartig gemuschelten Fresken, die den  Kult des ägyptischen Gottes Osiris
darstellen.
     Das Flügeltor ist  der Gott selbst: ein  Hermaphrodit aus zwei Hälften,
die  die Türe bilden, - die rechte weiblich, die linke männlich. -  Er sitzt
auf einem kostbaren, flachen Thron aus Perlmutter - im Halbrelief - und sein
goldener  Kopf ist der  eines Hasen. Die Ohren sind in die Höhe gestellt und
dicht  aneinander,  daß   sie  aussehen   wie   die  beiden   Seiten   eines
aufgeschlagenen Buches. -
     Es riecht nach Tau, und Hyazinthenduft weht über die Mauer herüber. - -
-
     Lange stehe ich wie versteinert da und staune. Mir wird, als träte eine
fremde Welt  vor  mich,  und ein  alter Gärtner  oder Diener  mit  silbernen
Schnallenschuhen,  Jabot und sonderbar zugeschnittenem  Rock kommt von links
hinter dem  Gitter auf mich  zu  und  fragt mich durch  die  Stäbe, was  ich
wünsche.
     Ich reiche ihm stumm den eingewickelten Hut Athanasius Pernaths hinein.
     Er nimmt ihn und geht durch das Flügeltor.
     Als es sich öffnet, sehe ich dahinter ein tempelartiges, marmornes Haus
und auf seinen Stufen:

     und an ihn gelehnt:

     und beide schauen hinab in die Stadt.
     Einen  Augenblick wendet  sich Mirjam  um,  erblickt mich, lächelt  und
flüstert Athanasius Pernath etwas zu.
     Ich bin gebannt von ihrer Schönheit.
     Sie ist so jung, wie ich sie heut nacht im Traum gesehen.
     Athanasius  Pernath dreht  sich  langsam  zu mir,  und mein Herz bleibt
stehen:
     Mir ist,  als sähe ich mich im Spiegel, so ähnlich ist sein Gesicht dem
meinigen.
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     Dann  fallen die  Flügel  des  Tores zu, und ich erkenne nur  noch  den
schimmernden Hermaphroditen.
     Der  alte Diener gibt mir meinen Hut und sagt  -  ich höre seine Stimme
wie aus den Tiefen der Erde -:
     "Herr Athanasius  Pernath läßt  verbindlichst  danken  und  bittet, ihn
nicht für  ungastfreundlich zu halten,  daß  er  Sie nicht einlädt,  in  den
Garten zu kommen, aber es ist strenges Hausgesetz so von alters her.
     Ihren  Hut, soll ich ausrichten, habe  er nicht aufgesetzt, da ihm  die
Verwechslung sofort aufgefallen sei.
     Er  wolle  nur  hoffen,  daß  der  seinige  Ihnen  keine  Kopfschmerzen
verursacht habe."


Last-modified: Tue, 21 Jan 2003 08:55:12 GMT
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