uft war so ausnehmend zart und fein, dass er ihn nicht festhalten konnte, immer wieder entzog er sich der Wahrnehmung, wurde verdeckt vom Pulverdampf der Petarden, blockiert von den Ausdunstungen der Menschenmassen, zerstuckelt und zerrieben von den tausend andren Geruchen der Stadt. Aber dann, plutzlich, war er wieder da, ein kleiner Fetzen nur, eine kurze Sekunde lang als herrliche Andeutung zu riechen... und verschwand alsbald. Grenouille litt Qualen. Zum ersten Mal war es nicht nur sein gieriger Charakter, dem eine Krunkung widerfuhr, sondern tatsuchlich sein Herz, das litt. Ihm schwante sonderbar, dieser Duft sei der Schlussel zur Ordnung aller anderen Dufte, man habe nichts von den Duften verstanden, wenn man diesen einen nicht verstand, und er Grenouille, hutte sein Leben verpfuscht, wenn es ihm nicht gelunge, diesen einen zu besitzen. Er musste ihn haben, nicht um des schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen. Ihm wurde fast schlecht vor Aufregung. Er hatte noch nicht einmal herausbekommen, aus welcher Richtung der Duft uberhaupt kam. Manchmal dauerten die Intervalle, ehe ihm wieder ein Fetzchen zugeweht wurde, minutenlang, und jedesmal uberfiel ihn die grußliche Angst, er hutte ihn auf immer verloren. Endlich rettete er sich in den verzweifelten Glauben, der Duft komme vom anderen Ufer des Flusses, irgendwoher aus sudustlicher Richtung. Er luste sich von der Mauer des Pavillon de Flore, tauchte in die Menschenmenge ein und bahnte sich seinen Weg uber die Brucke. Alle paar Schritte blieb er stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um uber die Kupfe der Menschen hinwegzuschnuppern, roch zunuchst nichts vor lauter Erregung, roch dann endlich doch etwas, erschnupperte sich den Duft, sturker sogar als zuvor, wusste sich auf der richtigen Fuhrte, tauchte unter, wuhlte sich weiter durch die Menge der Gaffer und der Feuerwerker, die alle Augenblicke ihre Fackeln an die Lunten der Raketen hielten, verlor im beißenden Qualm des Pulvers seinen Duft, geriet in Panik, stieß und rempelte weiter und wuhlte sich fort, erreichte nach endlosen Minuten das andere Ufer, das Hotel de Mailly, den Quai Malaquest, die Einmundung der Rue de Seine... Hier blieb er stehen, sammelte sich und roch. Er hatte ihn. Er hielt ihn fest. Wie ein Band kam der Geruch die Rue de Seine herabgezogen, unverwechselbar deutlich, dennoch weiterhin sehr zart und sehr fein. Grenouille spurte, wie sein Herz pochte, und er wusste, dass es nicht die Anstrengung des Laufens war, die es pochen machte, sondern seine erregte Hilflosigkeit vor der Gegenwart dieses Geruches. Er versuchte, sich an irgend etwas Vergleichbares zu erinnern und musste alle Vergleiche verwerfen. Dieser Geruch hatte Frische; aber nicht die Frische der Limetten oder Pomeranzen, nicht die Frische von Myrrhe oder Zimtblatt oder Krauseminze oder Birken oder Kampfer oder Kiefernnadeln, nicht von Mairegen oder Frostwind oder von Quellwasser..., und er hatte zugleich Wurme; aber nicht wie Bergamotte, Zypresse oder Moschus, nicht wie Jasmin und Narzisse, nicht wie Rosenholz und nicht wie Iris... Dieser Geruch war eine Mischung aus beidem, aus Fluchtigem und Schwerem, keine Mischung davon, eine Einheit, und dazu gering und schwach und dennoch solid und tragend, wie ein Stuck dunner schillernder Seide... und auch wieder nicht wie Seide, sondern wie honigsuße Milch, in der sich Biskuit lust - was j a nun beim besten Willen nicht zusammenging: Milch und Seide! Unbegreiflich dieser Duft, unbeschreiblich, in keiner Weise einzuordnen, es durfte ihn eigentlich gar nicht geben. Und doch war er da in herrlichster Selbstverstundlichkeit. Grenouille folgte ihm, mit bunglich pochendem Herzen, denn er ahnte, dass nicht er dem Duft folgte, sondern dass der Duft ihn gefangengenommen hatte und nun unwiderstehlich zu sich zog. Er ging die Rue de Seine hinauf. Niemand war auf der Straße. Die Huuser standen leer und still. Die Leute waren unten am Fluss beim Feuerwerk. Kein hektischer Menschengeruch sturte, kein beißender Pulvergestank. Die Straße duftete nach den ublichen Duften von Wasser, Kot, Ratten und Gemuseabfall. Daruber aber schwebte zart und deutlich das Band, das Grenouille leitete. Nach wenigen Schritten war das wenige Nachtlicht des Himmels von den hohen Huusern verschluckt, und Grenouille ging weiter im Dunkeln. Er brauchte nichts zu sehen. Der Geruch fuhrte ihn sicher. Nach funfzig Metern bog er rechts ab in die Rue des Marais, eine womuglich noch dunklere, kaum eine Armspanne breite Gasse. Sonderbarerweise wurde der Duft nicht sehr viel sturker. Er wurde nur reiner, und dadurch, durch seine immer grußer werdende Reinheit, bekam er eine immer muchtigere Anziehungskraft. Grenouille ging ohne eigenen Willen. An einer Stelle zog ihn der Geruch hart nach rechts, scheinbar mitten in die Mauer eines Hauses hinein. Ein niedriger Gang tat sich auf, der in den Hinterhof fuhrte. Traumwandlerisch durchschritt Grenouille diesen Gang, durchschritt den Hinterhof, bog um eine Ecke, gelangte in einen zweiten, kleineren Hinterhof, und hier nun endlich war Licht: Der Platz umfasste nur wenige Schritte im Geviert. An der Mauer sprang ein schruges Holzdach vor. Auf einem Tisch darunter klebte eine Kerze. Ein Mudchen saß an diesem Tisch und putzte Mirabellen. Sie nahm die Fruchte aus einem Korb zu ihrer Linken, entstielte und entkernte sie mit einem Messer und ließ sie in einen Eimer fallen. Sie mochte dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Grenouille blieb stehen. Er wusste sofort, was die Quelle des Duftes war, den er uber eine halbe Meile hinweg bis ans andere Ufer des Flusses gerochen hatte: nicht dieser schmuddelige Hinterhof, nicht die Mirabellen. Die Quelle war das Mudchen. Fur einen Moment war er so verwirrt, dass er tatsuchlich dachte, er habe in seinem Leben noch nie etwas so Schunes gesehen wie dieses Mudchen. Dabei sah er nur ihre Silhouette von hinten gegen die Kerze. Er meinte naturlich, er habe noch nie so etwas Schunes gerochen. Aber da er doch Menschengeruche kannte, viele Tausende, Geruche von Munnern, Frauen, Kindern, wollte er nicht begreifen, dass ein so exquisiter Duft einem Menschen entstrumen konnte. ublicherweise rochen Menschen nichtssagend oder miserabel. Kinder rochen fad, Munner urinus, nach scharfem Schweiß und Kuse, Frauen nach ranzigem Fett und verderbendem Fisch. Durchaus uninteressant, abstoßend rochen die Menschen... Und so geschah es, dass Grenouille zum ersten Mal in seinem Leben seiner Nase nicht traute und die Augen zuhilfe nehmen musste, um zu glauben, was er roch. Die Sinnesverwirrung dauerte freilich nicht lange. Es war tatsuchlich nur ein Augenblick, den er benutigte, um sich optisch zu vergewissern und sich alsdann desto ruckhaltloser den Wahrnehmungen seines Geruchssinns hinzugeben. Nun roch er, dass sie ein Mensch war, roch den Schweiß ihrer Achseln, das Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und roch mit grußtem Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie Meerwind, der Talg ihrer Haare so suß wie Nussul, ihr Geschlecht wie ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenblute..., und die Verbindung all dieser Komponenten ergab ein Parfum so reich, so balanciert, so zauberhaft, dass alles, was Grenouille bisher an Parfums gerochen, alles, was er selbst in seinem Innern an Geruchsgebuuden spielerisch erschaffen hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend Dufte schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das huhere Prinzip, nach dessen Vorbild sich die undern ordnen mussten. Er war die reine Schunheit. Fur Grenouille stand fest, dass ohne den Besitz des Duftes sein Leben keinen Sinn mehr hatte. Bis in die kleinste Einzelheit, bis in die letzte zarteste Verustelung musste er ihn kennenlernen; die bloße komplexe Erinnerung an ihn genugte nicht. Er wollte wie mit einem Prugestempel das apotheotische Parfum ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen, es haargenau erforschen und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser Zauberformel denken, leben, riechen. Er ging langsam auf das Mudchen zu, immer nuher, trat unter das Vordach und blieb einen Schritt hinter ihr stehen. Sie hurte ihn nicht. Sie hatte rote Haare und trug ein graues Kleid ohne urmel. Ihre Arme waren sehr weiß und ihre Hunde gelb vom Saft der aufgeschnittenen Mirabellen. Grenouille stand uber sie gebeugt und sog ihren Duft jetzt vullig unvermischt ein, so wie er aufstieg von ihrem Nacken, ihren Haaren, aus dem Ausschnitt ihres Kleides, und ließ ihn in sich hineinstrumen wie einen sanften Wind. Ihm war noch nie so wohl gewesen. Dem Mudchen aber wurde es kuhl. Sie sah Grenouille nicht. Aber sie bekam ein banges Gefuhl, ein sonderbares Frusteln, wie man es bekommt, wenn einen plutzlich eine alte abgelegte Angst befullt. Ihr war, als herrsche da ein kalter Zug in ihrem Rucken, als habe jemand eine Ture aufgestoßen, die in einen riesengroßen kalten Keller fuhrt. Und sie legte ihr Kuchenmesser weg, zog die Arme an die Brust und wandte sich um. Sie war so starr vor Schreck, als sie ihn sah, dass er viel Zeit hatte, ihr seine Hunde um den Hals zu legen. Sie versuchte keinen Schrei, ruhrte sich nicht, tat keine abwehrende Bewegung. Er seinerseits sah sie nicht an. Ihr feines sommersprossenubersprenkeltes Gesicht, den roten Mund, die großen funkelnd grunen Augen sah er nicht, denn er hielt seine Augen fest geschlossen, wuhrend er sie wurgte, und hatte nur die eine Sorge, von ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren. Als sie tot war, legte er sie auf den Boden mitten in die Mirabellenkerne, riss ihr Kleid auf, und der Duftstrom wurde zur Flut, sie uberschwemmte ihn mit ihrem Wohlgeruch. Er sturzte sein Gesicht auf ihre Haut und fuhr mit weitgebluhten Nustern von ihrem Bauch zurBrust, zum Hals, in ihr Gesicht und durch die Haare und zuruck zum Bauch, hinab an ihr Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge. Als er sie welkgerochen hatte, blieb er noch eine Weile neben ihr hocken, um sich zu versammeln, denn er war ubervoll von ihr. Er wollte nichts von ihrem Duft verschutten. Erst musste er die innern Schotten dicht verschließen. Dann stand er auf und blies die Kerze aus...... Um diese Zeit kamen die ersten Heimkehrer singend und vivatrufend die Rue de Seine herauf. Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits Augustins hinuber, die parallel zur Rue de Seine zum Fluss fuhrte. Wenig sputer entdeckte man die Tote. Geschrei erhob sich. Fackeln wurden angezundet. Die Wache kam. Grenouille war lungst am anderen Ufer. In dieser Nacht erschien ihm sein Verschlag wie ein Palast und seine Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Gluck sei, hatte er in seinem Leben bisher nicht erfahren. Er kannte allenfalls sehr seltene Zustunde von dumpfer Zufriedenheit. Jetzt aber zitterte er vor Gluck und konnte vor lauter Gluckseligkeit nicht schlafen. Ihm war, als wurde er zum zweiten Mal geboren, nein, nic ht zum zweiten, zum ersten Mal, denn bisher hatte er bloß animalisch existiert in huchst nebuluser Kenntnis seiner selbst. Mit dem heutigen Tag aber schien ihm, als wisse er endlich, wer er wirklich sei: numlich nichts anderes als ein Genie; und dass sein Leben Sinn und Zweck und Ziel und huhere Bestimmung habe: numlich keine geringere, als die Welt der Dufte zu revolutionieren; und dass er allein auf der Welt dazu alle Mittel besitze: numlich seine exquisite Nase, sein phunomenales Geduchtnis und, als Wichtigstes von allem, den prugenden Duft dieses Mudchens aus der Rue des Marais, in welchem zauberformelhaft alles enthalten war, was einen großen Duft, was ein Parfum ausmachte: Zartheit, Kraft, Dauer, Vielfalt und erschreckende, unwiderstehliche Schunheit. Er hatte den Kompass fur sein kunftiges Leben gefunden. Und wie alle genialen Scheusale, denen durch ein uußeres Ereignis ein gerades Geleis ins Spiralenchaos ihrer Seelen gelegt wird, wich Grenouille von dem, was er als Richtung seines Schicksals erkannt zu haben glaubte, nicht mehr ab. Jetzt wurde ihm klar, weshalb er so zuh und verbissen am Leben hing: Er musste ein Schupfer von Duften sein. Und nicht nur irgendeiner. Sondern der grußte Parfumeur aller Zeiten. Noch in derselben Nacht inspizierte er, wachend erst und dann im Traum, das riesige Trummerfeld seiner Erinnerung. Er prufte die Millionen und Abermillionen von Duftbauklutzen und brachte sie in eine systematische Ordnung: Gutes zu Gutem, Schlechtes zu Schlechtem, Feines zu Feinem, Grobes zu Grobem, Gestank zu Gestank, Ambrosisches zu Ambrosischem. Im Verlauf der nuchsten Woche wurde diese Ordnung immer feiner, der Katalog der Dufte immer reichhaltiger und differenzierter, die Hierarchie immer deutlicher. Und bald schon konnte er beginnen, die ersten planvollen Geruchsgebuude aufzurichten: Huuser, Mauern, Stufen, Turme, Keller, Zimmer, geheime Gemucher... eine tuglich sich erweiternde, tuglich sich verschunende und perfekter gefugte innere Festung der herrlichsten Duftkompositionen. Dass am Anfang dieser Herrlichkeit ein Mord gestanden hatte, war ihm, wenn uberhaupt bewusst, vollkommen gleichgultig. An das Bild des Mudchens aus der Rue des Marais, an ihr Gesicht, an ihren Kurper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Er hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip ihres Dufts. 9 Zu jener Zeit gab es in Paris ein gutes Dutzend Parfumeure. Sechs von ihnen lebten am rechten Ufer, sechs am linken Ufer, und einer akkurat dazwischen, numlich auf dem Pont au Change, welcher das rechte Ufer mit der Ile de la Citu verband. Diese Brucke war zu beiden Seiten so dicht mit vierstuckigen Huusern bebaut, dass man beim uberschreiten den Fluss an keiner Stelle zu Gesicht bekam, sondern sich auf einer ganz normalen, fest fundierten und obendrein noch uußerst eleganten Straße wuhnte. In der Tat galt der Pont au Change fur eine der feinsten Geschuftsadressen der Stadt. Hier befanden sich die renommiertesten Luden, hier saßen die Goldschmiede, die Ebenisten, die besten Peruckenmacher und Taschner, die Verfertiger feinster Dessous und Strumpfe, Rahmenmacher, Reitstiefelhundler, Epaulettensticker, Goldknupfegießer und Bankiers. Und hier lag auch das Geschufts- und Wohnhaus des Parfumeurs und Handschuhmachers Giuseppe Baldini. uber sein Schaufenster spannte sich ein pruchtiger grunlackierter Baldachin, daneben hing Baldinis Wappen, ganz in Gold, ein goldener Flacon, aus dem ein Strauß von goldenen Blumen wuchs, und vor der Ture lag ein roter Teppich, der ebenfalls Baldinis Wappen trug, als goldene Stickerei. uffnete man die Ture, dann erklang ein persisches Glockenspiel, und zwei silberne Reiher begannen, aus ihren Schnubeln Veilchenwasser in eine vergoldete Schale zu speien, die ihrerseits die Flakonform von Baldinis Wappen besaß. Hinter dem Kontor aus hellem Buchsbaum aber stand Baldini selbst, alt und starr wie eine Suule, in silberbepuderter Perucke und blauem goldbetresstem Rock. Eine Wolke von Frangipaniwasser, mit dem er sich allmorgendlich bespruhte, umgab ihn geradezu sichtbar und ruckte seine Person in nebelhafte Ferne. In seiner Unbeweglichkeit sah er aus wie sein eignes Inventar. Nur wenn das Glockenspiel erklang und wenn die Reiher spien - beides geschah nicht allzu oft -, wurde plutzlich Leben in ihn kommen, wurde seine Gestalt in sich zusammensinken, klein und wuselig werden und unter vielen Bucklingen hinter dem Kontor hervorgesaust kommen, so schnell, dass die Frangipaniwasserwolke kaum zu folgen vermuchte, und den Kunden bitten, Platz zu nehmen zur Vorfuhrung erlesenster Dufte und Kosmetika. Baldini hatte deren Tausende. Sein Angebot reichte von Essences absolues, Blutenulen, Tinkturen, Auszugen, Sekreten, Balsamen, Harzen und sonstigen Drogen in trockener, flussiger oder wachsartiger Form, uber diverse Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes, Sachets, Bandolinen, Brillantinen, Bartwichsen, Warzentropfen und Schunheitspflusterchen bis hin zu Badewussern, Lotionen, Riechsalzen, Toilettenessigen und einer Unzahl echter Parfums. Doch Baldini begnugte sich nicht mit diesen Produkten der klassischen Schunheitspflege. Sein Ehrgeiz bestand darin, in seinem Laden alles zu versammeln, was irgendwie duftete oder in irgendeiner Weise dem Duft diente. Und so fanden sich neben Ruucherpastillen, Ruucherkerzen und Ruucherbundern auch sumtliche Gewurze vom Anissamen bis zur Zimtrinde, Sirups, Likure und Obstwusser, Weine aus Zypern, Malaga und Korinth, Honige, Kaffees, Tees, getrocknete und kandierte Fruchte, Feigen, Bonbons, Schokoladen, Maronen, ja sogar eingelegte Kapern, Gurken und Zwiebeln und marinierter Thunfisch. Und dann wieder duftender Siegellack, parfumiertes Briefpapier, nach Rosenul riechende Liebestinte, Schreibmappen aus spanischem Leder, Federhalter aus weißem Sandelholz, Kustchen und Truhen aus Zedernholz, Potpourris und Schalen fur Blutenblutter, Weihrauchbehulter aus Messing, Flakons und Tiegelchen aus Kristall mit geschliffenen Stupseln aus Bernstein, riechende Handschuhe, Taschentucher, mit Muskatblute gefullte Nuhnadelkissen und moschusbedampfte Tapeten, die ein Zimmer lunger als einhundert Jahre mit Duft erfullen konnten. Naturlich hatten all diese Waren nicht im pompusen, zur Straße (oder zur Brucke) hin gelegenen Laden Platz, und so mussten, in Ermanglung eines Kellers, nicht nur der Speicher des Hauses, sondern der gesamte erste und zweite Stock sowie fast sumtliche zum Fluss hin gelegenen Ruume des Erdgeschosses als Lager dienen. Die Folge davon war, dass im Hause Baldini ein unbeschreibliches Chaos von Duften herrschte. So erlesen die Qualitut der einzelnen Produkte war - denn Baldini kaufte nur allererste Qualitut -, so unertruglich war ihr geruchlicher Zusammenklang, gleich einem tausendkupfigen Orchester, in welchem jeder Musiker eine andre Melodie fortissimo spielt. Baldini selbst und seine Angestellten waren gegen dieses Chaos abgestumpft wie alternde Dirigenten, die ja sumtlich schwerhurig sind, und auch seine Frau, die im dritten Stock wohnte und diesen erbittert gegen ein weiteres Vordringen der Lagerruume verteidigte, nahm die vielen Geruche kaum noch als sturend wahr. Anders der Kunde, der zum ersten Mal Baldinis Laden betrat. Ihm schlug das herrschende Duftgemisch wie eine Faust ins Gesicht, machte ihn, je nach Konstitution, exaltiert oder benommen, verwirrte in jedem Falle seine Sinne derart, dass er oft nicht mehr wusste, weshalb er uberhaupt gekommen war. Laufburschen vergaßen ihre Bestellungen. Trutzigen Herren wurde es mulmig. Und manche Dame erlitt einen halb hysterischen, halb klaustrophobischen Anfall, sank in Ohnmacht und konnte nur noch mit schurfstem Riechsalz aus Nelkenul, Ammoniak und Kampfersprit wiederhergestellt werden. Unter diesen Umstunden war es eigentlich nicht verwunderlich, dass das persische Glockenspiel von Giuseppe Baldinis Ladenture immer seltener erklang und die silbernen Reiher immer seltener spien. 10 "Chenier!" rief Baldini hinter dem Kontor hervor, wo er seit Stunden suulenstarr gestanden und die Ture angestarrt hatte, "ziehen Sie Ihre Perucke an!" Und zwischen Olivenulfussern und hungenden Schinken aus Bayonne erschien Chenier, Baldinis Geselle, etwas junger als dieser, aber auch schon ein alter Mann, und kam nach vorn in die feinere Abteilung des Ladens. Er zog seine Perucke aus der Rocktasche und stulpte sie sich uber. "Sie gehen aus, Herr Baldini?" "Nein", sagte Baldini, "ich werde mich fur einige Stunden in mein Arbeitszimmer zuruckziehen und wunsche, absolut nicht gesturt zu werden." "Ah, ich verstehe! Sie entwerfen ein neues Parfum." baldini So ist es. Zur Beduftung einer spanischen Haut fur den Grafen Verhamont. Er verlangt etwas vollkommen Neues. Er verlangt etwas wie... wie ... ich glaube, es hieß >Amor und Psyche<, was er verlangte, und stammt angeblich von diesem... diesem Stumper aus der Rue Saint-Andre des Arts, diesem... diesem... chenier Pelissier. baldini Ja. Pelissier. Richtig. So heisst der Stumper. >Amor und Psyche< von Pelissier. Kennen Sie es? chenier Jaja. Dochdoch. Man riecht es jetzt uberall. An jeder Straßenecke riecht man es. Aber wenn Sie mich fragen - nichts Besonderes! Es kann sich bestimmt in keiner Weise messen mit dem, welches Sie komponieren werden, Herr Baldini. baldini Naturlich nicht. chenier Es riecht uußerst gewuhnlich, dieses >Amor und Psyche<. baldini Vulgur? chenier Durchaus vulgur, wie alles von Pelissier. Ich glaube, es ist Limettenul darin. baldini Wirklich? Was noch? chenier Orangenblutenessenz vielleicht. Und vielleicht Rosmarintinktur. Aber ich kann es nicht sicher sagen. baldini Es ist mir auch vullig gleichgultig. chenier Naturlich. baldini Es ist mir schnurzegal, was der Stumper Pelissier in sein Parfum gepanscht hat. Ich werde mich nicht einmal davon inspirieren lassen! chenier Da haben Sie Recht, Monsieur. baldini Wie Sie wissen, lasse ich mich nie inspirieren. Wie Sie wissen, erarbeite ich meine Parfums. chenier Ich weiß, Monsieur. baldini Gebure sie allein aus mir! chenier Ich weiß. baldini Und ich gedenke, fur den Grafen Verhamont etwas zu kreieren, was wirklich Furore macht. chenier Davon bin ich uberzeugt, Herr Baldini. baldini Sie ubernehmen den Laden. Ich brauche Ruhe. Halten Sie mir alles vom Leibe, Chenier... Und damit schlurfte er, nun gar nicht mehr statuarisch, sondern, wie es seinem Alter zukam, gebeugt, ja fast wie geprugelt, davon und stieg langsam die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag. Chenier nahm den Platz hinterm Kontor ein, stellte sich genauso hin, wie zuvor der Meister gestanden hatte, und schaute mit starrem Blick zur Ture. Er wusste, was in den nuchsten Stunden passieren wurde: numlich gar nichts im Laden, und oben im Arbeitszimmer Baldinis die ubliche Katastrophe. Baldini wurde seinen blauen, von Frangipaniwasserdurchtrunkten Rock ausziehen, sich an den Schreibtisch setzen und auf eine Eingebung warten. Diese Eingebung wurde nicht kommen. Er wurde hierauf an den Schrank mit den Hunderten von Probefluschchen eilen und aufs Geratewohl etwas zusammenmixen. Diese Mischung wurde missraten. Er wurde fluchen, das Fenster aufreißen und sie in den Fluss hinunterwerfen. Er wurde etwas anderes probieren, auch das wurde missraten, er wurde nun schreien und toben und in dem schon betuubend riechenden Zimmer einen Heulkrampf bekommen. Er wurde gegen sieben Uhr abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen: "Chenier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum nicht geburen, ich kann die spanische Haut fur den Grafen nicht liefern, ich bin verloren, ich bin innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chenier, helfen Sie mir zu sterben!" Und Chenier wurde vorschlagen, dass man zu Pelissier schickte um eine Flasche >Amor und Psyche<, und Baldini wurde zustimmen unter der Bedingung, dass kein Mensch von dieser Schande erfuhre, Chenier wurde schwuren, und nachts wurden sie heimlich das Leder fur den Grafen Verhamont mit dem fremden Parfum beduften. So wurde es sein und nicht anders, und Chenier wunschte nur, er hutte das ganze Theater schon hinter sich. Baldini war kein großer Parfumeur mehr. Ja, fruher, in seiner Jugend, vor dreißig, vierzig Jahren, da hatte er >Rose des Sudens< erfunden und >Baldinis galantes Bouquet< zwei wirklich große Dufte, denen er sein Vermugen verdankte. Aber jetzt war er alt und verbraucht und kannte die Moden der Zeit nicht mehr und den neuen Geschmack der Menschen, und wenn er uberhaupt noch einmal einen eigenen Duft zusammenstoppelte, dann war es vollkommen demodiertes, unverkuufliches Zeug, das sie ein Jahr sputer zehnfach verdunnten und als Springbrunnenwasserzusatz verhukerten. Schade um ihn, dachte Chenier und uberprufte den Sitz seiner Perucke im Spiegel, schade um den alten Baldini; schade um sein schunes Geschuft, denn er wird's herunterbringen; und schade um mich, denn bis er's heruntergebracht haben wird, bin ich zu alt, um es zu ubernehmen... 11 Zwar hatte Giuseppe Baldini seinen duftenden Rock ausgezogen, aber nur aus alter Gewohnheit. Der Duft des Frangipaniwassers sturte ihn schon lungst nicht mehr beim Riechen, er trug ihn ja schon seit Jahrzehnten mit sich herum und nahm ihn uberhaupt nicht mehr wahr. Er hatte auch die Ture des Arbeitszimmers zugeschlossen und sich Ruhe ausgebeten, aber er setzte sich nicht an den Schreibtisch, um zu grubeln und auf eine Eingebung zu warten, denn er wusste viel besser als Chenier, dass er keine Eingebung haben wurde; er hatte numlich noch nie eine gehabt. Zwar war er alt und verbraucht, das stimmte, und auch kein großer Parfumeur mehr; aber er wusste, dass er im Leben noch nie einer gewesen war. >Rose des Sudens< hatte er von seinem Vater geerbt und das Rezept fur >Baldinis galantes Bouquet< einem durchreisenden Genueser Gewurzhundler abgekauft. Die ubrigen seiner Parfums waren altbekannte Gemische. Erfunden hatte er noch nie etwas. Er war kein Erfinder. Er war ein sorgfultiger Verfertiger von bewuhrten Geruchen, wie ein Koch war er, der mit Routine und guten Rezepten eine große Kuche macht und doch noch nie ein eigenes Gericht erfunden hat. Den ganzen Hokuspokus mit Labor und Experimentieren und Inspiration und Geheimnistuerei fuhrte er nur auf, weil das zum stundischen Berufsbild eines Maitre Parfumeur et Gantier gehurte. Ein Parfumeur, das war ein halber Alchimist, der Wunder schuf, so wollten es die Leute - gut so! Dass seine Kunst ein Handwerk war wie jedes andere auch, das wusste nur er selbst, und das war sein Stolz. Er wollte gar kein Erfinder sein. Erfindung war ihm sehr suspekt, denn sie bedeutete immer den Bruch einer Regel. Er dachte auch gar nicht daran, fur den Grafen Verhamont ein neues Parfum zu erfinden. Er wurde sich allerdings auch nicht am Abend von Chenier uberreden lassen, >Amor und Psyche< von Pelissier zu besorgen. Er hatte es schon. Da stand es, auf dem Schreibtisch vor dem Fenster, in einem kleinen Glasflakon mit geschliffenem Stupsel. Schon vor ein paar Tagen hatte er es gekauft. Naturlich nicht persunlich. Er konnte doch nicht persunlich zu Pelissier gehen und ein Parfum kaufen! Sondern durch einen Mittelsmann, und dieser wieder durch einen Mittelsmann... Vorsicht war geboten. Denn Baldini wollte das Parfum nicht einfach zum Beduften der spanischen Haut verwenden, dazu hutte die geringe Menge auch gar nicht ausgereicht. Er hatte etwas Schlimmeres im Sinn: Er wollte es kopieren. Das war ubrigens nicht verboten. Es war nur außerordentlich unfein. Das Parfum eines Konkurrenten heimlich nachzumachen und unter eigenem Namen zu verkaufen, war schrecklich unfein. Aber noch unfeiner war es, sich dabei ertappen zu lassen, und darum durfte Chenier nichts davon wissen, denn Chenier war geschwutzig. Ach, wie schlimm, dass man sich als rechtschaffener Mann gezwungen sah, so krumme Wege zu gehen! Wie schlimm, dass man das Kostbarste, was man besaß, die eigene Ehre, auf so schubige Weise befleckte! Aber was sollte er tun? Immerhin war der Graf Verhamont ein Kunde, den er keinesfalls verlieren durfte. Er hatte ja ohnehin kaum noch einen Kunden. Er musste der Kundschaft ja schon wieder nachlaufen wie zu Beginn der zwanziger Jahre, als er am Anfang seiner Karriere stand und mit dem Bauchladen durch die Straßen zog. Weiß Gott kam er, Giuseppe Baldini, Inhaber der grußten Duftstoffhandlung von Paris, in bester Geschuftslage, finanziell nur noch uber die Runden, wenn er mit dem Kufferchen in der Hand Hausbesuche machte. Und das gefiel ihm gar nicht, denn er war schon weit uber sechzig und hasste es, in kalten Vorzimmern zu warten und alten Marquisen Tausendblumenwasser und Vierruuberessig vorzufuhren oder ihnen eine Migrunesalbe aufzuschwatzen. Außerdem herrschte in diesen Vorzimmern eine ganz ekelhafte Konkurrenz. Da war dieser Emporkummling Brouet aus der Rue Dauphine, der von sich behauptete, er habe das grußte Pomadenprogramm Europas; oder Calteau aus der Rue Mauconseil, der es zum Hoflieferanten der Comtesse von Artois gebracht hatte; oder dieser vullig unberechenbare Antoine Pelissier aus der Rue Saint-Andre-des-Arts, der in jeder Saison einen neuen Duft lancierte, nach welchem die ganze Welt verruckt war. >So ein Parfum von Pelissier konnte den ganzen Markt in Unordnung bringen. War in einem Jahr Ungarisches Wasser in Mode, und hatte sich Baldini entsprechend mit Lavendel, Bergamotte und Rosmarin eingedeckt, um den Bedarf zu befriedigen - so kam Pelissier mit >Air de Musc< heraus, einem ultraschweren Moschusduft. Jeder Mensch musste plutzlich tierisch riechen, und Baldini konnte sein Rosmarin zu Haarwasser verarbeiten und den Lavendel in Riechsuckchen nuhen. Hatte er dagegen fur das nuchste Jahr entsprechende Mengen an Moschus, Zibet und Castoreum bestellt, so fiel es Pelissier ein, ein Parfum namens >Waldblume< zu kreieren, was prompt ein Erfolg wurde. Und hatte Baldini endlich in nuchtelangen Versuchen oder durch hohe Bestechungsgelder herausgefunden, woraus >Waldblumen< bestand - da trumpfte Pelissier schon wieder auf mit >Turkische Nuchte< oder >Lissabonner Duft< oder >Bouquet de la Cour< oder weiß der Teufel womit sonst. Dieser Mensch war auf jeden Fall in seiner zugellosen Kreativitut eine Gefahr fur das ganze Gewerbe. Man wunschte sich die Rigiditut des alten Zunftrechts zuruck. Man wunschte sich die drakonischsten Maßnahmen gegen diesen Aus-Der-Reihe-Tunzer, gegen diesen Duftinflationur. Das Patent gehurte ihm entzogen, ein saftiges Berufsverbot auferlegt..., und uberhaupt sollte der Kerl erst einmal eine Lehre machen! Denn ein gelernter Parfumeur- und Handschuhmachermeister war er nicht, dieser Pelissier. Sein Vater war nichts als ein Essigsieder gewesen, und Essigsieder war auch Pelissier, nichts anderes. Und bloß weil er als Essigsieder berechtigt war, mit Spirituosen umzugehen, konnte er uberhaupt ins Gehege der echten Parfumeure einbrechen und darin herumwuten wie ein Stinktier. - Wozu brauchte man in jeder Saison einen neuen Duft? War das nutig? Das Publikum war fruher auch sehr zufrieden gewesen mit Veilchenwasser und einfachen Blumenbouquets, die man vielleicht alle zehn Jahre einmal geringfugig underte. Jahrtausendelang hatten die Menschen mit Weihrauch und Myrrhe, ein paar Balsamen, ulen und getrockneten Wurzkruutern vorlieb genommen. Und auch als sie gelernt hatten, mit Kolben und Alambic zu destillieren, vermittels Wasserdampf den Kruutern, Blumen und Hulzern das duftende Prinzip in Form von utherischem ul zu entreißen, es mit eichenen Pressen aus Samen und Kernen und Fruchtschalen zu quetschen oder mit sorgsam gefilterten Fetten den Blutenbluttern zu entlocken, war die Zahl der Dufte noch bescheiden gewesen. Damals wure eine Figur wie Pelissier gar nicht muglich gewesen, denn damals brauchte es schon zur Erzeugung einer simplen Pomade Fuhigkeiten, von denen sich dieser Essigpanscher gar nichts truumen ließ. Man musste nicht nur destillieren kunnen, man musste auch Salbenmacher sein und Apotheker, Alchimist und Handwerker, Hundler, Humanist und Gurtner zugleich. Man musste Hammelnierenfett von jungem Rindertalg unterscheiden kunnen und ein Viktoriaveilchen von einem solchen aus Parma. Man musste die lateinische Sprache beherrschen. Man musste wissen, wann der Heliotrop zu ernten ist und wann das Pelargonium bluht und dass die Blute des Jasmins mit aufgehender Sonne ihren Duft verliert. Von diesen Dingen hatte dieser Pelissier selbstredend keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte er Paris noch nie verlassen, in seinem Leben bluhenden Jasmin noch nie gesehen. Geschweige denn, dass er einen Schimmer von der gigantischen Schufterei besaß, deren es bedurfte, um aus hunderttausend Jasminbluten einen kleinen Klumpen Concrete oder ein paar Tropfen Essence Absolue herauszuwringen. Wahrscheinlich kannte er nur diese, kannte Jasmin nur als konzentrierte dunkelbraune Flussigkeit, die in einem kleinen Fluschchen neben vielen anderen Fluschchen, aus denen er seine Modeparfums mixte, im Tresorschrank stand. Nein, eine Figur wie dieser Schnusel Pelissier hutte in den guten alten handwerklichen Zeiten kein Bein auf den Boden gebracht. Dazu fehlte ihm alles: Charakter, Bildung, Genugsamkeit und der Sinn fur zunftische Subordination. Seine parfumistischen Erfolge verdankte er einzig und allein einer Entdeckung, die vor nunmehr zweihundert Jahren der geniale Mauritius Frangipani - ein Italiener ubrigens! - gemacht hatte und die darin bestand, dass Duftstoffe in Weingeist luslich sind. Indem Frangipani seine Riechpulverchen mit Alkohol vermischte und damit ihren Duft auf eine fluchtige Flussigkeit ubertrug, hatte er den Duft befreit von der Materie, hatte den Duft vergeistigt, den Duft als reinen Duft erfunden, kurz: das Parfum erschaffen. Was fur eine Tat! Welch epochale Leistung! Vergleichbar wirklich nur den grußten Errungenschaften des Menschengeschlechts wie der Erfindung der Schrift durch die Assyrer, der euklidischen Geometrie, den Ideen des Plato und der Verwandlung von Trauben in Wein durch die Griechen. Eine wahrhaft prometheische Tat! Und doch, wie alle großen Geistestaten nicht nur Licht, sondern auch Schatten werfen und der Menschheit neben Wohltaten auch Verdruss und Elend bereiten, so hatte leider auch die herrliche Entdeckung Frangipanis uble Folgen: Denn nun, da man gelernt hatte, den Geist der Blumen und Kruuter, der Hulzer, Harze und der tierischen Sekrete in Tinkturen festzubannen und auf Fluschchen abzufullen, entglitt die Kunst des Parfumierens nach und nach den wenigen universalen handwerklichen Kunnern und stand Quacksalbern offen, sofern sie nur eine leidlich feine Nase besaßen, wie zum Beispiel diesem Stinktier Pelissier. Ohne sich darum zu bekummern, wie der wunderbare Inhalt seiner Fluschchen je entstanden war, konnte er einfach seinen olfaktorischen Launen folgen und zusammenmischen, was ihm gerade einfiel oder was das Publikum gerade wunschte. Bestimmt besaß dieser Bastard Pelissier mit seinen funfunddreißig Jahren schon jetzt ein grußeres Vermugen als er, Baldini, es sich in der dritten Generation durch harte beharrliche Arbeit endlich angehuuft hatte. Und Pelissiers nahm tuglich zu, wuhrend seins, Baldinis, sich tuglich verminderte. So etwas wure fruher doch gar nicht muglich gewesen! Dass ein angesehener Handwerker und eingefuhrter Commergant um seine schiere Existenz zu kumpfen hatte, das gab es doch erst seit wenigen Jahrzehnten! Seitdem uberall und in allen Bereichen die hektische Neuerungssucht ausgebrochen ist, dieser hemmungslose Tatendrang, diese Experimentierwut, diese Großmannssucht im Handel, im Verkehr und in den Wissenschaften! Oder der Geschwindigkeitswahnsinn! Wozu brauchte man die vielen neuen Straßen, die uberall gebuddelt wurden, und die neuen Brucken? Wozu? War es von Vorteil, wenn man bis Lyon in einer Woche reisen konnte? Wem war daran gelegen? Wem nutzte es? Oder uber den Atlantik zu fahren, in einem Monat nach Amerika zu rasen - als wure man nicht jahrtausendelang sehr gut ohne diesen Kontinent ausgekommen. Was hatte der zivilisierte Mensch im Urwald der Indianer verloren oder bei den Negern? Sogar nach Lappland gingen sie, das lag im Norden, im ewigen Eise, wo Wilde lebten, die rohe Fische fraßen. Und noch einen weiteren Kontinent wollten sie entdecken, der angeblich in der Sudsee la