ie Illusion des Originals ganz unabweisbar vor der Nase hutte. Das gleiche gelang ihm mit dem porusen Kalkduft eines Steins, den er auf dem Olivenfeld vor seiner Kabane gefunden hatte. Er mazerierte ihn und gewann ein kleines Butzchen Steinpomade, deren infinitesimaler Geruch ihn unbeschreiblich ergutzte. Er kombinierte ihn mit anderen, von allen muglichen Gegenstunden aus dem Umkreis seiner Hutte abgezogenen Geruchen und produzierte nach und nach ein olfaktorisches Miniaturmodell jenes Olivenhains hinter dem Franziskanerkloster, das er in einem winzigen Flakon verschlossen mit sich fuhren und wann es ihm gefiel geruchlich auferstehen lassen konnte. Es waren virtuose Duftkunststucke, die er vollbrachte, wunderschune kleine Spielereien, die freilich niemand außer ihm selbst wurdigen oder uberhaupt nur zur Kenntnis nehmen konnte. Er selbst aber war entzuckt von den sinnlosen Perfektionen, und es gab in seinem Leben weder fruher noch sputer Momente eines tatsuchlich unschuldigen Glucks wie zu jener Zeit, da er mit spielerischem Eifer duftende Landschaften, Stilleben und Bilder einzelner Gegenstunde erschuf. Denn bald ging er zu lebenden Objekten uber. Er machte Jagd auf Winterfliegen, Larven, Ratten, kleinere Katzen und ertrunkte sie in warmem Fett. Nachts schlich er sich in Stulle, um Kuhe, Ziegen und Ferkel fur ein paar Stunden mit fettbeschmierten Tuchern zu umhullen oder in ulige Bandagen einzuwickeln. Oder er stahl sich in ein Schafgehege, um heimlich ein Lamm zu scheren, dessen duftende Wolle er in Weingeist wusch. Die Ergebnisse waren zunuchst noch nicht recht befriedigend. Denn anders als die geduldigen Dinge Knauf und Stein ließen sich die Tiere ihren Duft nur widerwillig abnehmen. Die Schweine schabten die Bandagen an den Pfosten ihrer Koben ab. Die Schafe schrien, wenn er sich nachts mit dem Messer nuherte. Die Kuhe schuttelten stur die fetten Tucher von den Eutern. Einige Kufer, die er fing, produzierten, wuhrend er sie verarbeiten wollte, eklig stinkende Sekrete, und Ratten, wohl aus Angst, schissen ihm in seine olfaktorisch hochempfindlichen Pomaden. Jene Tiere, die er mazerieren wollte, gaben, anders als die Bluten, ihren Duft nicht klaglos oder nur mit einem stummen Seufzer ab, sondern wehrten sich verzweifelt gegen das Sterben, wollten sich partout nicht unterruhren lassen, strampelten und kumpften und erzeugten dadurch unverhultnismußig hohe Mengen Angst- und Todesschweiß, die das arme Fett durch ubersuuerung verdarben. So konnte man naturlich nicht vernunftig arbeiten. Die Objekte mussten ruhiggestellt werden, und zwar so plutzlich, dass sie gar nicht mehr dazu kamen, Angst zu haben oder sich zu widersetzen. Er musste sie tuten. Als erstes probierte er es mit einem kleinen Hund. Druben vor dem Schlachthaus lockte er ihn mit einem Stuck Fleisch von seiner Mutter weg bis in die Werkstatt, und wuhrend das Tier mit freudig erregtem Hecheln nach dem Fleisch in Grenouilles Linker schnappte, schlug er ihm mit einem Holzscheit, den er in der Rechten hielt, kurz und derb auf den Hinterkopf. Der Tod kam so plutzlich uber den kleinen Hund, dass der Ausdruck des Glucks noch um seine Lefzen und in seinen Augen war, als Grenouille ihn lungst im Beduftungsraum auf einen Rost zwischen die Fettplatten gebettet hatte, wo er nun seinen reinen, von Angstschweiß ungetrubten Hundeduft verstrumte. Freilich galt es aufzupassen! Leichen, ebenso wie abgepfluckte Bluten, waren rasch verderblich. Und so hielt Grenouille bei seinem Opfer Wache, etwa zwulf Stunden lang, bis er bemerkte, dass die ersten Schlieren des zwar angenehmen, doch verfulschend riechenden Leichendufts aus dem Kurper des Hundes quollen. Sofort unterbrach er die Enfleurage, schaffte die Leiche weg und barg das wenige beduftete Fett in einem Kessel, wo er es sorgfultig auswusch. Er destillierte den Alkohol bis auf die Menge eines Fingerhutes ab und fullte diesen Rest in ein winziges Glasruhrchen. Das Parfum roch deutlich nach dem feuchten, frischtalgigen und ein wenig scharfen Duft des Hundefells, es roch sogar erstaunlich stark danach. Und als Grenouille die alte Hundin vom Schlachthaus daran schnuppern ließ, da brach sie in Freudengeheul aus und winselte und wollte ihre Nustern nicht mehr von dem Ruhrchen nehmen. Grenouille aber verschloss es dicht und steckte es zu sich und trug es noch lange bei sich als Erinnerung an jenen Tag des Triumphs, an dem es ihm zum ersten Mal gelungen war, einem lebenden Wesen die duftende Seele zu rauben. Dann, sehr allmuhlich und mit uußerster Vorsicht, machte er sich an die Menschen heran. Er pirschte zunuchst aus sicherer Distanz mit weitmaschigem Netz, denn es kam ihm weniger darauf an, große Beute zu machen, als vielmehr, das Prinzip seiner Jagdmethode zu erproben. Mit seinem leichten Duft der Unauffulligkeit getarnt, mischte er sich im Wirtshaus zu den >Quatre Dauphins< abends unter die Guste und heftete winzige Fetzen ul- und fettgetrunkten Stoffs unter Bunke und Tische und in verborgene Nischen. Ein paar Tage sputer sammelte er sie wieder ein und prufte. Tatsuchlich atmeten sie neben allen muglichen Kuchendunsten, Tabaksqualm- und Weingeruchen auch ein wenig Menschenduft ab. Er blieb aber sehr vage und verschleiert, war mehr die Ahnung eines allgemeinen Brodems als ein persunlicher Geruch. Eine uhnliche Massenaura, doch reiner und ins Erhaben- Schwitzige gesteigert, war in der Kathedrale zu gewinnen, wo Grenouille seine Probefuhnchen am 24. Dezember unter den Bunken aushungte und sie am 26. wieder einholte, nachdem nicht weniger als sieben Messen uber ihnen abgesessen worden waren: Ein schauerliches Duftkonglomerat aus Afterschweiß, Menstruationsblut, feuchten Kniekehlen und verkrampften Hunden, durchmischt mit ausgestoßner Atemluft aus tausend chorsingenden und avemarianuschelnden Kehlen und dem beklemmenden Dampf des Weihrauchs und der Myrrhe hatte sich auf den imprugnierten Fetzchen abgebildet: schauerlich in seiner nebulusen, unkonturierten, ubelkeiterregenden Ballung und doch schon unverkennbar menschlich. Den ersten Individualgeruch ergatterte Grenouille im Hospiz der Charite. Es gelang ihm, das eigentlich zur Verbrennung bestimmte Bettlaken eines frisch an Schwindsucht verstorbenen Sucklergesellen zu entwenden, in welchem dieser zwei Monate umhullt gelegen war. Das Tuch war so stark vom Eigentalg des Sucklers durchsogen, dass es dessen Ausdunstungen wie eine Enfleuragepaste absorbiert hatte und direkt der Lavage unterzogen werden konnte. Das Resultat war gespenstisch: Unter Grenouilles Nase erstand der Suckler aus der Weingeistsolution olfaktorisch von den Toten auf, schwebte, wenngleich durch die eigentumliche Reproduktionsmethode und die zahlreichen Miasmen seiner Krankheit schemenhaft entstellt, doch leidlich erkenntlich als individuelles Duftbild im Raum: ein kleiner Mann von dreißig Jahren, blond, mit plumper Nase, kurzen Gliedern, platten kusigen Fußen, geschwollenem Geschlecht, galligem Temperament und fadem Mundgeruch - kein schuner Mensch, geruchlich, dieser Suckler, nicht wert, wie jener kleine Hund, lunger aufbewahrt zu werden. Und dennoch ließ ihn Grenouille eine ganze Nacht lang als Duftgeist durch seine Kabane flattern und schnupperte ihn immer wieder an, begluckt und tiefbefriedigt vom Gefuhl der Macht, die er uber die Aura eines undern Menschen gewonnen hatte. Am nuchsten Tag schuttete er ihn weg. Noch einen Test unternahm er in diesen Wintertagen. Einer stummen Bettlerin, die durch die Stadt zog, bezahlte er einen Franc dafur, dass sie einen Tag lang mit verschiedenen Fett- und ulmischungen pruparierte Luppchen auf der nackten Haut trug. Es fand sich, dass eine Kombination von Lammnierenfett und mehrfach geluutertem Schweins- und Kuhtalg im Verhultnis zwei zu funf zu drei unter Hinzufuhrung geringer Mengen von Jungfernul fur die Aufnahme des menschlichen Geruchs am besten geeignet war. Damit ließ es Grenouille bewenden. Er verzichtete darauf, sich irgendeines lebenden Menschen im ganzen zu bemuchtigen und ihn parfumistisch zu verarbeiten. So etwas wure immer mit Risiken verbunden gewesen und hutte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Er wusste, dass er nun die Techniken beherrschte, eines Menschen Duft zu rauben, und es war nicht nutig, dass er es sich erneut bewies. Des Menschen Duft an und fur sich war ihm auch gleichgultig. Des Menschen Duft konnte er hinreichend gut mit Surrogaten imitieren. Was er begehrte, war der Duft gewisser Menschen: jener uußerst seltenen Menschen numlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer. 39 Im Januar ehelichte die Witwe Arnulfi ihren ersten Gesellen Dominique Druot, der damit zum Maitre Gantier et Parfumeur avancierte. Es gab ein großes Essen fur die Gildenmeister, ein bescheideneres fur die Gesellen, Madame kaufte eine neue Matratze fur ihr Bett, das sie nun offiziell mit Druot teilte, und holte ihre bunte Garderobe aus dem Schrank. Sonst blieb alles beim alten. Sie behielt den guten alten Namen Arnulfi bei, behielt das ungeteilte Vermugen, die finanzielle Leitung des Geschufts und die Schlussel zum Keller; Druot erfullte tuglich seine sexuellen Pflichten und erfrischte sich danach beim Wein; und Grenouille, obwohl nun erster und einziger Geselle, verrichtete das Gros der anfallenden Arbeit fur unverundert kleinen Lohn, bescheidene Verpflegung und karge Unterkunft. Das Jahr begann mit der gelben Flut von Kassien, mit Hyazinthen, Veilchenblute und narkotischen Narzissen. An einem Sonntag im Murz - es mochte etwa ein Jahr seit seiner Ankunft in Grasse vergangen sein - machte sich Grenouille auf, nach dem Stand der Dinge im Garten hinter der Mauer am anderen Ende der Stadt zu sehen. Er war diesmal auf den Duft vorbereitet, wusste ziemlich genau, was ihn erwartete... und doch, als er sie dann erwitterte, an der Porte Neuve schon, auf halbem Wege erst zu jener Stelle an der Mauer, da klopfte sein Herz lauter, und er spurte, wie das Blut in seinen Adern prickelte vor Gluck: sie war noch da, die unvergleichlich schune Pflanze, sie hatte den Winter unbeschadet uberdauert, stand im Saft, wuchs, dehnte sich, trieb pruchtigste Blutenstunde! Ihr Duft war, wie er es erwartet hatte, kruftiger geworden, ohne an Feinheit einzubußen. Was noch vor einem Jahr sich zart versprenkelt und vertrupfelt hatte, war nun gleichsam legiert zu einem leicht pastosen Duftfluss, der in tausend Farben schillerte und trotzdem jede Farbe band und nicht mehr abriss. Und dieser Fluss, so stellte Grenouille selig fest, speiste sich aus sturker werdender Quelle. Ein Jahr noch, nur noch ein Jahr, nur noch zwulf Monate, dann wurde diese Quelle uberborden, und er kunnte kommen, sie zu fassen und den wilden Ausstoß ihres Duftes einzufangen. Er lief an der Mauer entlang bis zur bewussten Stelle, hinter der sich der Garten befand. Obwohl das Mudchen offenbar nicht im Garten, sondern im Haus war, in einer Kammer hinter geschlossenen Fenstern, wehte ihr Duft wie eine stete sanfte Brise herab. Grenouille stand ganz still. Er war nicht berauscht oder benommen wie das erste Mal, als er sie gerochen hatte. Er war vom Glucksgefuhl des Liebhabers erfullt, der seine Angebetete von fern belauscht oder beobachtet und weiß, er wird sie heimholen ubers Jahr. Wahrhaftig, Grenouille, der soliture Zeck, das Scheusal, der Unmensch Grenouille, der Liebe nie empfunden hatte und Liebe niemals inspirieren konnte, stand an jenem Murztag an der Stadtmauer von Grasse und liebte und war zutiefst begluckt von seiner Liebe. Freilich liebte er nicht einen Menschen, nicht etwa das Mudchen im Haus dort hinter der Mauer. Er liebte den Duft. Ihn allein und nichts anderes, und ihn nur als den kunftigen eigenen. Er wurde ihn heimholen ubers Jahr, das schwor er sich bei seinem Leben. Und nach diesem absonderlichen Gelubnis, oder Verlubnis, diesem sich selbst und seinem kunftigen Duft gegebenen Treueversprechen, verließ er den Ort frohgemut und kehrte durch die Porte du Cours in die Stadt zuruck. Als er nachts in der Kabane lag, holte er den Duft noch einmal aus der Erinnerung herauf- er konnte der Versuchung nicht widerstehen - und tauchte in ihm unter, liebkoste ihn und ließ sich selbst von ihm liebkosen, so eng, so traumhaft nah, als besuße er ihn schon wirklich, seinen Duft, seinen eigenen Duft, und er liebte ihn an sich und sich durch ihn eine berauschte kustliche Weile lang. Er wollte dieses selbstverliebte Gefuhl mit in den Schlaf hinubernehmen. Aber gerade m dem Moment, als er die Augen schloss und nur noch einen Atemzug lang Zeit gebraucht hutte, um einzuschlummern, da verließ es ihn, war plutzlich weg, und anstatt seiner stand der kalte scharfe Ziegenstallgeruch im Raum. Grenouille schrak auf. "Was ist", so dachte er, "wenn dieser Duft, den ich besitzen werde... was ist, wenn er zu Ende geht? Es ist nicht wie in der Erinnerung, wo alle Dufte unvergunglich sind. Der wirkliche verbraucht sich an die Welt. Er ist fluchtig. Und wenn er aufgebraucht sein wird, dann wird es die Quelle, aus der ich ihn genommen habe, nicht mehr geben. Und ich werde nackt sein wie zuvor und mir mit meinen Surrogaten weiterhelfen mussen. Nein, schlimmer wird es sein als zuvor! Denn ich werde ja inzwischen ihn gekannt und besessen haben, meinen eigenen herrlichen Duft, und ich werde ihn nicht vergessen kunnen, denn ich vergesse nie einen Duft. Und also werde ich zeitlebens von meiner Erinnerung an ihn zehren, wie ich schon jetzt, fur einen Moment, aus meiner Vorerinnerung an ihn, den ich besitzen werde, gezehrt habe... Wozu also brauche ich ihn uberhaupt?" Dieser Gedanke war Grenouille uußerst unangenehm. Es erschreckte ihn maßlos, dass er den Duft, den er noch nicht besaß, wenn er ihn besuße, unweigerlich wieder verlieren musste. Wie lange wurde er vorhalten? Einige Tage? Ein paar Wochen? Vielleicht einen Monat lang, wenn er sich ganz sparsam damit parfumierte? Und dann? Er sah sich schon den letzten Tropfen aus der Flasche schutteln, den Flakon mit Weingeist spulen, damit auch nicht der kleinste Rest verlorenginge, und sah dann, roch es, wie sich sein geliebter Duft fur immer und unwiederbringlich verfluchtigte. Es wurde sein wie ein langsames Sterben, eine Art umgekehrten Erstickens, ein qualvolles allmuhliches Hinausverdunsten seiner selbst in die grußliche Welt. Er frustelte. Es uberkam ihn das Verlangen, seine Plune aufzugeben, hinaus in die Nacht zu gehen und davonzuziehen. uber die verschneiten Berge wollte er wandern, ohne Rast, hundert Meilen weit in die Auvergne, und dort in seine alte Huhle kriechen und sich zutode schlafen. Aber er tat es nicht. Er blieb sitzen und gab dem Verlangen nicht nach, obwohl es stark war. Er gab ihm nicht nach, weil es ein altes Verlangen von ihm war, davonzuziehen und sich in einer Huhle zu verkriechen. Erkannte das schon. Was er allerdings noch nicht kannte, war der Besitz eines menschlichen Duftes, so herrlich wie der Duft des Mudchens hinter der Mauer. Und wenn er auch wusste, dass er den Besitz dieses Duftes mit seinem anschließenden Verlust wurde entsetzlich teuer bezahlen mussen, so schienen ihm doch Besitz und Verlust begehrenswerter als der lapidare Verzicht auf beides. Denn verzichtet hatte er Zeit seines Lebens. Besessen und verloren aber noch nie. Allmuhlich wichen die Zweifel und mit ihnen das Frusteln. Er spurte, wie das warme Blut ihn wieder belebte und wie der Wille, das zu tun, was er sich vorgenommen hatte, wieder Besitz von ihm ergriff. Und zwar muchtiger als zuvor, da dieser Wille nun nicht mehr einer reinen Begierde entsprang, sondern dazu noch einem erwogenen Entschluss. Der Zeck Grenouille, vor die Wahl gestellt, in sich selbst zu vertrocknen oder sich fallenzulassen, entschied sich fur das zweite, wohl wissend, dass dieser Fall sein letzter sein wurde. Er legte sich aufs Lager zuruck, wohlig ins Stroh, wohlig unter die Decke, und kam sich sehr heroisch vor. Grenouille wure aber nicht Grenouille gewesen, wenn ihn ein fatalistisch-heroisches Gefuhl lange befriedigt hutte. Dazu besaß er einen zu zuhen Selbstbehauptungswillen, ein zu durchtriebenes Wesen und einen zu raffinierten Geist. Gut - er hatte sich entschlossen, jenen Duft des Mudchens hinter der Mauer zu besitzen. Und wenn er ihn nach wenigen Wochen wieder verlure und an dem Verlust sturbe, so sollte auch das gut sein. Besser aber wure es, nicht zu sterben und den Duft trotzdem zu besitzen, oder zumindest seinen Verlust so lange als irgend muglich hinauszuzugern. Man musste ihn haltbarer machen. Man musste seine Fluchtigkeit bannen, ohne ihm seinen Charakter zu rauben - ein parfumistisches Problem. Es gibt Dufte, die haften jahrzehntelang. Ein mit Moschus eingeriebener Schrank, ein mit Zimtul getrunktes Stuck Leder, eine Amberknolle, ein Kustchen aus Zedernholz besitzen geruchlich fast das ewige Leben. Und andere - Limettenul, Bergamotte, Narzissen- und Tuberosenextrakte und viele Blutendufte verhauchen sich schon nach wenigen Stunden, wenn man sie rein und ungebunden der Luft aussetzt. Der Parfumeur begegnet diesem fatalen Umstand, indem er die allzu fluchtigen Dufte durch haftende bindet, ihnen also gleichsam Fesseln anlegt, die ihren Freiheitsdrang zugeln, wobei die Kunst darin besteht, die Fesseln so locker zu lassen, dass der gebundene Geruch seine Freiheit scheinbar behult, und sie doch so eng zu schnuren, dass er nicht fliehen kann. Grenouille war dieses Kunststuck einmal in perfekter Weise beim Tuberosenul gelungen, dessen ephemeren Duft er mit winzigen Mengen von Zibet, Vanille, Labdanum und Zypresse gefesselt und damit erst recht eigentlich zur Geltung gebracht hatte. Warum sollte etwas uhnliches nicht auch mit dem Duft des Mudchens muglich sein? Weshalb sollte er diesen kostbarsten und fragilsten aller Dufte pur verwenden und verschwenden? Wie plump! Wie außerordentlich unraffiniert! Ließ man Diamanten ungeschliffen? Trug man Gold in Brocken um den Hals? War er, Grenouille, etwa ein primitiver Duftstoffruuber wie Druot und wie die anderen Mazeratoren, Destillierer und Blutenquetscher? Oder war er nicht vielmehr der grußte Parfumeur der Welt? Er schlug sich vor den Kopf vor Entsetzen, dass er nicht schon fruher darauf gekommen war: Naturlich durfte dieser einzigartige Duft nicht roh verwendet werden. Er musste ihn fassen wie den kostbarsten Edelstein. Ein Duftdiadem musste er schmieden, an dessen erhabenster Stelle, zugleich eingebunden in andere Dufte und sie beherrschend, sein Duft strahlte. Ein Parfum wurde er machen nach allen Regeln der Kunst, und der Duft des Mudchens hinter der Mauer sollte die Herznote sein. Als Adjuvantien freilich, als Basis-, Mittel- und Kopfnote, als Spitzengeruch und als Fixateur waren nicht Moschus und Zibet, nicht Rosenul oder Neroli geeignet, das stand fest. Fur ein solches Parfum, fur ein Menschenparfum, bedurfte es anderer Ingredienzen. 40 Im Mai desselben Jahres fand man in einem Rosenfeld, halben Wegs zwischen Grasse und dem ustlich gelegenen Flecken Opio, die nackte Leiche eines funfzehnjuhrigen Mudchens. Es war mit einem Knuppelhieb auf den Hinterkopf erschlagen worden. Der Bauer, der es entdeckt hatte, war von dem grausigen Fund so verwirrt, dass er sich fast selbst in Verdacht brachte, indem er dem Polizeilieutenant mit zitternder Stimme meldete, er habe so etwas Schunes noch nie gesehen - wo er doch eigentlich hatte sagen wollen, er habe so etwas Entsetzliches noch nie gesehen. Tatsuchlich war das Mudchen von exquisiter Schunheit. Es gehurte jenem schwerblutigen Typ von Frauen an, die wie aus dunklem Honig sind, glatt und suß und ungeheuer klebrig; die mit einer zuhflussigen Geste, einem Haarwurf, einem einzigen langsamen Peitschenschwung ihres Blickes den Raum beherrschen und dabei ruhig wie im Zentrum eines Wirbelsturmes stehen, der eigenen Gravitationskraft scheinbar unbewusst, mit der sie Sehnsuchte und Seelen von Munnern wie von Frauen unwiderstehlich an sich reißen. Und sie war jung, blutjung, der Reiz des Typus war noch nicht ins Sumige verflossen. Noch waren ihre schweren Glieder glatt und fest, die Bruste wie aus dem Ei gepellt, und ihr fluchiges Gesicht, vom schwarzen starken Haar umflogen, besaß noch zarteste Konturen und geheimste Stellen. Das Haar selbst freilich war weg. Der Murder hatte es ihr abgeschnitten und mitgenommen, ebenso wie die Kleider. Man verduchtigte die Zigeuner. Den Zigeunern war alles zuzutrauen. Zigeuner woben bekanntlich Teppiche aus alten Kleidern und stopften Menschenhaar in ihre Kissen und fertigten aus Haut und Zuhnen von Gehenkten kleine Puppen. Fur ein so perverses Verbrechen kamen nur Zigeuner in Frage. Es waren aber zu der Zeit keine Zigeuner da, weit und breit nicht, das letzte Mal hatten Zigeuner die Gegend im Dezember durchzogen. In Ermangelung von Zigeunern verduchtigte man daraufhin italienische Wanderarbeiter. Italiener waren aber auch keine da, fur sie war es zu fruh im Jahr, sie wurden erst im Juni zur Jasminernte ins Land kommen, sie konnten's also nicht gewesen sein. Schließlich gerieten die Peruckenmacher in Verdacht, bei denen man nach dem Haar des ermordeten Mudchens fahndete. Vergeblich. Dann sollten es die Juden gewesen sein, dann die angeblich geilen Munche des Benediktinerklosters - die freilich alle schon weit uber siebzig waren -, dann die Zisterzienser, dann die Freimaurer, dann die Geisteskranken aus der Charitu, dann die Kuhler, dann die Bettler und zu guter Letzt der sittenlose Adel, insbesondere der Marquis von Cabris, denn der war schon zum dritten Mal verheiratet, veranstaltete, wie es hieß, in seinen Kellern orgiastische Messen und trank dabei Jungfrauenblut, um seine Potenz zu steigern. Konkretes ließ sich freilich nicht beweisen. Niemand hatte den Mord beobachtet, Kleider und Haare der Toten wurden nicht gefunden. Nach einigen Wochen stellte der Polizeilieutenant seine Nachforschungen ein. Mitte Juni kamen die Italiener, viele mit ihren Familien, um sich als Pflucker zu verdingen. Die Bauern beschuftigten sie zwar, verboten aber, eingedenk des Mordes, ihren Frauen und Tuchtern den Umgang mit ihnen. Sicher war sicher. Denn obwohl die Wanderarbeiter fur den geschehenen Mord tatsuchlich nicht verantwortlich waren, so hutten sie doch prinzipiell dafur verantwortlich sein kunnen, und deshalb war es besser, vor ihnen auf der Hut zu sein. Nicht lange nach Beginn der Jasminernte geschahen zwei weitere Morde. Wieder waren die Opfer bildschune Mudchen, wieder gehurten sie jenem schwerblutigen schwarzhaarigen Typus an, wieder fand man sie nackt und geschoren und mit einer stumpfen Wunde am Hinterkopf in den Blumenfeldern liegen. Wieder fehlte vom Tuter jede Spur. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und es drohten schon Feindseligkeiten gegen das zugezogene Volk auszubrechen, als bekannt wurde, dass beide Opfer Italienerinnen waren, Tuchter eines Genueser Tagluhners. Nun legte sich die Furcht uber das Land. Die Leute wussten nicht mehr, auf wen sie ihre ohnmuchtige Wut richten sollten. Wohl gab es noch welche, die die Irren oder den obskuren Marquis verduchtigten, aber so recht wollte niemand daran glauben, denn jene standen Tag und Nacht unter Aufsicht, und dieser war schon vor langer Zeit nach Paris abgereist. Also ruckte man nuher zusammen. Die Bauern uffneten den Zugewanderten, die bis dahin auf freiem Feld gelagert hatten, ihre Scheunen. Die Studter richteten in jedem Viertel einen nuchtlichen Patrouillendienst ein. Der Polizeilieutenant versturkte die Wachen an den Toren. Doch alle Vorkehrungen nutzten nichts. Wenige Tage nach dem Doppelmord fand man wieder eine Mudchenleiche, ebenso zugerichtet wie die vorigen. Diesmal handelte es sich um eine sardische Wuscherin aus dem bischuflichen Palais, die nahe dem großen Wasserbecken an der Fontaine de la Foux, also direkt vor den Toren der Stadt, erschlagen worden war. Und obwohl die Konsuln, von der erregten Burgerschaft gedrungt, weitere Maßnahmen ergriffen - schurfste Kontrollen an den Toren, Versturkung der Nachtwachen, Ausgangsverbot fur alle weiblichen Personen nach Einbruch der Dunkelheit -, verging in diesem Sommer keine Woche mehr, in der nicht die Leiche eines jungen Mudchens gefunden wurde. Und immer waren es solche, die gerade erst begonnen hatten, Frauen zu sein, und immer waren es die schunsten und meist jener dunkle, haftende Typus. - Obwohl der Murder bald auch nicht mehr den in der einheimischen Bevulkerung vorherrschenden weichen, weißhuutigen und etwas beleibteren Mudchenschlag verschmuhte. Sogar brunette, sogar dunkelblonde - sofern sie nicht zu mager waren - fielen ihm neuerdings zum Opfer. Er spurte sie uberall auf, nicht mehr nur im Umland von Grasse, sondern mitten in der Stadt, ja sogar in den Huusern. Die Tochter eines Tischlers wurde in ihrer Kammer im funften Stock erschlagen aufgefunden, und niemand im Haus hatte das geringste Geruusch gehurt, und keiner der Hunde, die sonst jeden Fremden witterten und verbellten, hatte angeschlagen. Der Murder schien unfassbar, kurperlos, wie ein Geist zu sein. Die Menschen empurten sich und beschimpften die Obrigkeit. Das kleinste Gerucht fuhrte zu Zusammenrottungen. Ein fahrender Hundler, der Liebespulver und andere Quacksalbereien verkaufte, wurde fast massakriert, denn es hieß, seine Mittelchen enthielten gemahlenes Mudchenhaar. Auf das Hotel de Cabris und auf das Hospiz der Charitu wurden Brandanschluge verubt. Der Tuchhundler Alexandre Misnard erschoss seinen eigenen Hausdiener bei dessen nuchtlicher Heimkehr, weil er ihn fur den beruchtigten Mudchenmurder hielt. Wer es sich leisten konnte, schickte seine heranwachsenden Tuchter zu entfernten Verwandten oder in Pensionate nach Nizza, Aix oder Marseille . Der Polizeilieutenant wurde auf Drungen des Stadtrats seines Postens enthoben. Sein Nachfolger ließ die Leichen der geschorenen Schunheiten von einem urztekollegium auf ihren virginalen Zustand untersuchen. Es fand sich, dass sie alle unberuhrt geblieben waren. Sonderbarerweise vermehrte diese Erkenntnis das Entsetzen, anstatt es zu mindern, denn insgeheim hatte jedermann angenommen, dass die Mudchen missbraucht worden seien. Man hutte dann wenigstens ein Motiv des Murders gekannt. Nun wusste man nichts mehr, nun war man vullig ratlos. Und wer an Gott glaubte, rettete sich ins Gebet, es muge doch wenigstens das eigene Haus von der teuflischen Heimsuchung verschont bleiben. Der Stadtrat, ein Gremium der dreißig reichsten und angesehensten Großburger und Adligen von Grasse, in ihrer Mehrzahl aufgeklurte und antiklerikale Herren, die den Bischof bisher einen guten Mann hatten sein lassen und aus den Klustern und Abteien am liebsten Warenlager oder Fabriken gemacht hutten - die stolzen, muchtigen Herren des Stadtrats ließen sich in ihrer Not herbei, Monseigneur den Bischof in einer unterwurfig abgefassten Petition zu bitten, er muge das mudchenmordende Monster, dessen die weltliche Macht nicht habhaft werden kunne, verfluchen und mit Bann belegen, ebenso, wie es sein erlauchter Vorgunger im Jahre 1708 mit den entsetzlichen Heuschrecken gemacht habe, die damals das Land bedrohten. Und in der Tat wurde Ende September der Grasser Mudchenmurder, der bis dahin nicht weniger als vierundzwanzig der schunsten Jungfrauen aus allen Schichten des Volkes hinweggerafft hatte, per schriftlichem Anschlag sowie mundlich von sumtlichen Kanzeln der Stadt, darunter der Kanzel von Notre-Dame-du-Puy, durch den Bischof persunlich in feierlichen Bann und Fluch getan. Der Erfolg war durchschlagend. Die Morde hurten auf, von einem Tag zum anderen. Oktober und November vergingen ohne Leiche. Anfang Dezember kamen Berichte aus Grenoble, dass dort neuerdings ein Mudchenmurder umgehe, der seine Opfer erdrossle und ihnen die Kleider in Fetzen vom Leibe und die Haare in Buscheln vom Kopfe reiße. Und obwohl diese grobschluchtigen Verbrechen keineswegs in Einklang mit den sauber ausgefuhrten Grasser Morden standen, war doch alle Welt davon uberzeugt, es handle sich um ein und denselben Tuter. Die Grasser schlugen drei Kreuze vor Erleichterung, dass die Bestie nicht mehr bei ihnen, sondern im sieben Tagereisen entfernten Grenoble wutete. Sie organisierten einen Fackelzug zu Ehren des Bischofs und hielten am 24. Dezember einen großen Dankgottesdienst ab. Zum 1. Januar 1766 wurden die versturkten Sicherheitsvorkehrungen gelockert und die nuchtliche Ausgangssperre fur Frauen aufgehoben. Mit unglaublicher Schnelligkeit kehrte die Normalitut ins uffentliche und private Leben zuruck. Die Angst war wie weggeblasen, niemand redete mehr von dem Grauen, das noch vor wenigen Monaten Stadt und Umland beherrscht hatte. Nicht einmal in den betroffenen Familien sprach man noch davon. Es war, als habe der bischufliche Fluch nicht nur den Murder, sondern auch jede Erinnerung an ihn verbannt. Und den Menschen war es recht so. Nur wer eine Tochter hatte, die gerade in das wundersame Alter kam, der ließ sie immer noch nicht gerne ohne Aufsicht, dem wurde bange, wenn es dummerte, und morgens, wenn er sie gesund und munter vorfand, war er glucklich - freilich ohne sich den Grund dafur recht eingestehen zu wollen. 41 Einen Mann aber gab es in Grasse, der traute dem Frieden nicht. Er hieß Antoine Richis, bekleidete das Amt des Zweiten Konsuls und wohnte in einem stattlichen Anwesen am Beginn der Rue Droite. Richis war Witwer und hatte eine Tochter namens Laure. Obwohl keine vierzig Jahre alt und von ungebrochner Vitalitut, gedachte er eine neuerliche Verehelichung noch einige Zeit hinauszuschieben. Erst wollte er seine Tochter an den Mann bringen. Und zwar nicht an den ersten besten, sondern an einen von Stande. Es gab da einen Baron von Bouyon, Besitzer eines Sohnes und eines Lehens bei Vence, von guter Reputation und lausiger Finanzlage, mit dem Richis schon Abmachungen uber eine kunftige Heirat der Kinder getroffen hatte. Wenn Laure dann unter der Haube wure, wollte er selbst seine freierlichen Fuhler in Richtung der hochangesehenen Huuser Dree, Maubert oder Fontmichel ausstrecken - nicht weil er eitel war und auf Teufel komm raus ein adeliges Bettgemahl besitzen musste, sondern weil er eine Dynastie grunden und seine Nachkommenschaft auf ein Geleise setzen wollte, welches zu huchstem gesellschaftlichem Ansehen und politischem Einfluss fuhrte. Dazu brauchte er noch mindestens zwei Suhne, deren einer sein Geschuft ubernahm, wuhrend der andere via juristische Laufbahn und das Parlament in Aix selbst in den Adel aufruckte. Solche Ambitionen konnte er jedoch als Mann seines Standes nur dann mit Aussicht auf Erfolg hegen, wenn er seine Person und seine Familie aufs engste mit der provenzalischen Nobilitut verband. Was ihn uberhaupt zu derartig hochfliegenden Plunen berechtigte, war sein sagenhafter Reichtum. Antoine Richis war der mit Abstand vermugendste Burger weit und breit. Er besaß Latifundien nicht nur im Grasser Raum, wo er Orangen, ul, Weizen und Hanf anbauen ließ, sondern auch bei Vence und gegen Antibes zu, wo er verpachtet hatte. Er besaß Huuser in Aix, Huuser auf dem Lande, Anteile an Schiffen, die nach Indien fuhren, ein stundiges Kontor in Genua und das grußte Handelslager fur Duftstoffe, Spezereien, ule und Leder Frankreichs. Das Kostbarste jedoch, was Richis besaß, war seine Tochter. Sie war sein einziges Kind, gerade sechzehn Jahre alt, mit dunkelroten Haaren und grunen Augen. Sie hatte ein so entzuckendes Gesicht, dass Besucher jeden Alters und Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr von ihr nehmen konnten, ihr Gesicht geradezu leckten mit den Augen, als leckten sie Eis mit der Zunge, und dabei den fur solch leckende Beschuftigung typischen Ausdruck von dummlicher Hingegebenheit annahmen. Selbst Richis, wenn er die eigne Tochter ansah, ertappte sich dabei, dass er fur unbestimmte Zeit, fur eine Viertelstunde, fur eine halbe Stunde vielleicht, die Welt und damit seine Geschufte vergaß - was ihm sonst nicht einmal im Schlaf passierte -, sich vollkommen aufluste in des herrlichen Mudchens Betrachtung und hinterher nicht mehr zu sagen wusste, was er eigentlich getan hatte. Und neuerdings - er nahm es mit Unbehagen wahr -, abends beim Zubettbringen oder manchmal morgens, wenn er ging, um sie zu wecken, und sie lag noch schlafend, wie von Gotteshunden hingelegt, und durch den Schleier ihres Nachtgewands druckten sich die Formen ihrer Huften und ihrer Bruste ab, und aus dem Geviert von Busen, Achselschwung, Ellenbogen und glattem Unterarm, in das sie ihr Gesicht gelegt hatte, stieg ihr ausgestoßner Atem ruhig und heiß... - da ballte es sich ihm elend im Magen, und die Kehle wurde ihm eng, und er schluckte, und, weiß Gott! er verfluchte sich, dass er der Vater dieser Frau war und nicht ein Fremder, nicht irgendein Mann, vor dem sie so luge wie jetzt vor ihm, und der sich ohne Bedenken an sie, auf sie, in sie legen kunnte mit all seiner Begehrlichkeit. Und der Schweiß brach ihm aus, und seine Glieder zitterten, indes er diese grauenvolle Lust in sich erwurgte und sich hinabbeugte zu ihr, um sie mit keuschem vuterlichem Kuss zu wecken. Im vergangenen Jahr, zur Zeit der Morde, waren solch fatale Anfechtungen noch nicht uber ihn gekommen. Der Zauber, den seine Tochter damals auf ihn ausgeubt hatte, war - so wollte ihm wenigstens scheinen - noch ein kindlicher Zauber gewesen. Und deshalb hatte er auch nie ernstlich befurchtet, dass Laure Opfer jenes Murders werden kunnte, der, wie man wusste, weder Kinder noch Frauen, sondern ausschließlich erwachsene jungfruuliche Mudchen anfiel. Zwar hatte er die Bewachung seines Hauses versturkt, die Fenster des Obergeschosses mit neuen Gittern versehen lassen und die Zofe angewiesen, ihre Schlafkammer mit Laure zu teilen. Aber es widerstrebte ihm, sie wegzuschicken, wie es seine Standesgenossen mit ihren Tuchtern, ja sogar mit ihren ganzen Familien taten. Er fand dieses Verhalten veruchtlich und unwurdig eines Mitglieds des Rates und Zweiten Konsuln, der, wie er meinte, seinen Mitburgern ein Vorbild an Gelassenheit, Mut und Unbeugsamkeit sein sollte. Außerdem war er ein Mann, der sich seine Entschlusse nicht von anderen vorschreiben ließ, nicht von einer in Panik geratenen Menge und schon gar nicht von einem einzelnen anonymen Lump von Verbrecher. Und so war er wuhrend der ganzen schrecklichen Zeit einer der wenigen in der Stadt gewesen, die gegen das Fieber der Angst gefeit waren und einen kuhlen Kopf behielten. Doch dies, sonderbarerweise, underte sich nun. Wuhrend numlich die Menschen draußen, als hutten sie den Murder schon gehenkt, das Ende seines Treibens feierten und die unselige Zeit bald ganz vergaßen, kehrte in das Herz Antoine Richis' die Angst ein wie ein hußliches Gift. Lange Zeit wollte er sich's nicht zugeben, dass es die Angst war, die ihn bewog, lungst fullige Reisen hinauszuzugern, ungern das Haus zu verlassen, Besuche und Sitzungen abzukurzen, damit er nur rasch wieder heimkehren kunne. Er entschuldigte sich vor sich selbst mit Unpußlichkeit und uberarbeitung, gestand sich wohl auch zu, dass er ein wenig besorgt sei, wie eben jeder Vater besorgt ist, der eine Tochter in mannbarem Alter besitzt, eine durchaus normale Sorge... War denn nicht schon der Ruhm ihrer Schunheit nach draußen gedrungen? Reckten sich nicht schon die Hulse, wenn man mit ihr sonntags in die Kirche ging? Machten nicht schon gewisse Herren im Rat Avancen, im eigenen Namen oder in dem ihrer Suhne...? 42 Aber dann, eines Tages im Murz, saß Richis im Salon und sah, wie Laure hinaus in den Garten ging. Sie trug ein blaues Kleid, u</